Kieferorthopädie 10.10.2011

Cervical Vertebral Maturation (CVM)



Cervical Vertebral Maturation (CVM)

Wird diese radiologische Methode zum Goldstandard in der Kieferorthopädie, um das mandibuläre Wachstum zu bestimmen? Ein Beitrag von Dr. Tom Verhofstadt.

Bei der Cervical Vertebral Maturation-Methode (CVM) handelt es sich um ein radiologisches  Instrument in der Kieferortho­pä­die, mit dessen Hilfe das indi­viduelle skelettale Wachstum bestimmt und der richtige Zeitpunkt für den Beginn einer KFO-Therapie festgelegt werden kann. Jeder (Fach-)Zahnarzt hat sicherlich schon festgestellt, dass das Alter von Kindern oft nicht mit dem skelettalen Wachstum zusammenhängt.11,19 In der modernen Zahnmedizin ist dies jedoch von großer Bedeutung.

So besteht eine weit verbreitete Fehlannahme darin, dass der Wachstumsschub mit der zweiten Wechselphase in Zusammenhang gebracht wird. Die Wachstumsphasen lassen sich mittels lateraler kephalometrischer Aufnahmen nachweisen, sodass der optimale Zeitpunkt für den Beginn einer Behandlung bestimmt werden kann. Das skelettale Wachstum lässt sich mithilfe von Röntgenaufnah­men bestimmen. Hierfür existieren heute zwei gängige Methoden: Die erste stellt das sogenannte SMA-System (Skeletal Maturity Assessment) dar. Sie wurde von Fishman entwickelt, basierend auf der Beobachtung sechs anatomischer Punkte lokalisiert am Daumen, Mittelfinger, Pink und Radius. Fishman verglich diese Prozesse mit dem puberalen mandibulären Wachstumsschub und fand enge Zusammenhänge zwischen dem Ossifikationsprozess der Hand bzw. der Handgelenke und dem mandibulären Wachstumsstadium.11,12

Handröntgenaufnahmen ha­ben sich in der Kieferorthopädie als zuverlässiges Ins­trument zum Abschätzen des Zeitpunktes des puberalen Wachstumsschubs erwiesen. Al­lerdings gibt es auch Vorbehalte gegenüber dieser Methode, da sie mit einer zusätzlichen Strahlenbelastung verbunden ist.8 In den britischen kieferortho­pädischen Richtlinien (British Orthodontic Society Guidelines) findet sich die Feststellung, dass Handröntgenaufnahmen gar nicht indiziert sind, um den Beginn des puberalen Wachstumsschubs vorherzusagen.20 Diese Aussage zielt ohne Zweifel auf die heute vorhandenen Alternativen ab, wie sie vor allem durch die Beurteilung des skelettalen Alters anhand der Halswirbelkörper gegeben sind.10
Im Jahre 1972 stellte Lamparski fest, dass ein Zusammenhang zwischen der Halswirbelform und dem skelettalen Alter besteht.23 Anhand dieser Erkenntnisse entwickelten Hassel und Farman (1995), Franchi (2000) und Baccetti (2002) eine zweite klinisch praktikable Methode, um den güns­tigs­ten Moment einer funktionellen kie­ferorthopädischen Behandlung zu bestimmen.3,13,18

Während des jugendlichen Knochenwachstums stellten Franchi und Baccetti bei 214 kephalomet­rischen Aufnahmen anatomische Veränderungen des Wirbels C2, C3 und C4 fest, sowie ein bestimmtes Wachstumsmuster der Unterkiefer, gemessen zwischen Kondylion und Gnathion (Dass Kondylion ist der dorso-kraniale Punkt des Kondylus; das Gnathion der ventro-kaudale Punkt vom knöchernen Kinn).13 Anhand dieser Werte wurde ein Index erstellt, der erkennen lässt, wann der größte Wachstumsschub des Unterkiefers zu erwarten ist.3 Hieraus entwickelte sich die Cervical Vertebral Maturation-Methode, genannt CVM.

Die Methode

Kephalometrische Röntgen­aufnahme
Bei der radiografischen Aufnah­me ist darauf zu achten, dass die Frankfurter Horizontale waagerecht verläuft (Die Frankfurter Horizontale ist die Linie zwischen Porion und Orbitale). Die Zähne sind in zentraler Okklusion und die Lippen in entspanntem Zustand. Die drei Wirbel Dens oder Odontoid Prozess C2, der Korpus Vertebrae C3 und der Korpus Vertebrae C4 müssen röntgenologisch sichtbar sein.

Auswertung
Ist die untere Begrenzung des Wirbels flach oder konkav (Abb. 2a, b)? Wie ist der Wirbel C3 und C4 geformt (Abb. 3)?

• Trapezförmiger Wirbel: Die su­periore Begrenzung des Wirbels steigt von posterior nach anterior.
• Rechteckiger horizontaler Wirbel: Die Höhe der posterioren und anterioren Begrenzungen sind gleich. Die superioren und inferioren Begrenzungen sind länger als die anterioren und posterioren.
• Viereckiger Wirbel: Die supe­rioren, anterioren und inferioren Begrenzungen sind gleich.
• Rechteckiger vertikaler Wirbel: Die posterioren und anterioren Begrenzungen sind länger als die superioren und inferioren.

Zervikale Vertebral-Stadien
Franchi und Baccetti3,13 haben anhand Ihrer Erkenntnisse über die Morphologie der Wirbelkörper sechs zervikale Wirbelstadien aufgestellt, welche das mandi­buläre Wachstum bestimmen (Abb. 4):

CVS 1 – Die inferiore Begrenzung aller Wirbelkörper ist flach.
CVS 2 – Die inferiore Begrenzung des 2. Wirbelkörpers ent­wickelt eine Konkavität.
CVS 3 – Die inferiore Begrenzung des 3. Wirbelkörpes entwickelt eine Konkavität.
CVS 4 – Die inferiore Begrenzung des 4. Wirbelkörpers ent­wickelt eine Konkavität. Die Wirbelkörper C3 und C4 sind rechteckig geformt.
CVS 5 – Die inferioren Begrenzungen aller Wirbelkörper sind konkav. Die Wirbelkörper sind fast viereckig und der Raum zwischen den Wirbeln verringert sich.
CVS 6 – Alle Wirbel haben tiefe Konkavitäten und sind in vertikaler Richtung rechteckig.

Mandibuläres Wachstum bei Kindern
Bei 250 Kindern wurde untersucht, inwieweit eine Differenz zwischen den zervikalen Stadien und den verschiedenen Stadien im Zahndurchbruch besteht.14 Aus Tabelle 1 geht hervor, dass eine große Übereinstimmung zwischen der frühen dentalen Wechselphase und dem skelet­talen Wachstum besteht. Während des Wachstumsschubs, im zervikalen Stadium 3, besteht wenig Übereinstimmung mit der dentalen Wechselphase. Wenn die permanenten Eckzäh­ne und Prämolaren durchbrechen, ist die späte dentale Wechselphase erreicht. Ein Viertel der Kinder befindet sich noch im präpuberalen Wachstumsschub (CS2) und ein Drittel im puberalen Wachstum (CS3). Ist das Kind in der späten dentalen Wechselphase oder im frühen permanenten Gebiss, hat der Behandler ei­ne Chance von 66%, den Wachstumsschub im CVS3 zu erkennen.

Weitere Untersuchungen ergaben, dass zwischen dem Lebensalter und dem skelettalen Wachstum große Differenzen bestehen. So kann der Wachstumsschub in CS3 zwischen dem 8. und 14,5. Lebensjahr auftreten.
Die Studie belegt, dass wenig Übereinstimmung zwischen dem skelettalen Wachstum der Mandibula und den verschiedenen dentalen Wechselphasen sowie dem Lebensalter besteht. Insgesamt wächst die Mandibula (Co-Gn) von der Präpubertät bis zum frühen Erwachsenalter sechs Jah­re:

  • bei skelettaler Klasse I ca. 14,5mm
  • bei skelletaler Klasse II ca. 12,5mm
  • bei skelettaler Klasse III ca. 17,5mm.


In der Präpubertät wächst die Mandibula in allen skelettalen Angle-Klassen ungefähr 5mm. Im Stadium CV1 bis 2 wächst die Mandibula 2,5mm und noch einmal 2,5mm in Stadium CVS 2 bis 3. In Stadium CV 3 bis 4 während des Wachstumsschubes und bei einer Dauer von elf Monaten wächst die Mandibula (Co-Gn):

  • bei skelettaler Klasse I: 5mm.
  • bei skelettaler Klasse II: 3mm.

Bei skelettaler Klasse III dauert der Wachstumsschub anstatt von elf Monaten, 16 Monate und liegt zwischen 5,5mm bei Mädchen und 8mm bei Jungen.5,22 In Stadium CV 4 bis 5 und CV 5 bis CV 6 wächst die Mandibula (Co-Gn):

  • bei skelettaler Klasse I und II respektiv 2,5mm und 2mm.
  • bei skelettaler Klasse III respektiv 3mm und 3mm.

Das mandibuläre Wachstum (Co-Gn) beträgt zwischen Stadium CV 3 bis CV 6:

  • bei skelettaler Klasse I ca. 9,5mm
  • bei skelettaler Klasse II ca. 7,5mm
  • bei skelettaler Klasse III ca. 12,5mm

Dabei liegen die Hauptmerkmale dieser CVM- Methode in folgenden Punkten:1,4,6,13,21,26

1. Die CV-Stadien sind unabhängig vom chronologischen Lebensalter.
2. Die Identifizierung und Reproduzierbarkeit der Daten bzw. der CVM-Stadien liegen zwischen  91,2%26 und 98,6%.1,13
3. Die morphologischen Änderungen der zervikalen Wirbel beginnt bei Mädchen früher als bei Jungen.
4. Die Änderungen in Größe und Morphologie der  Vertebrae in den sechs Phasen sind identisch für beide Geschlechter. Es gibt im Gegensatz zu Lamparski keine unterschiedli­chen Angaben für Mädchen und Jungen.23
5. Der skelettale Wachstumsschub und der Schub des Un­terkieferwachstums finden zwischen CS 3 und 4 in 95% der Fälle statt.
6. CS 1 kommt mindestens zwei Jahre vor dem skelettalen Wachstumsmaximum vor.
7. CS 2 ein Jahr vor dem Beginn des skelettalen Wachstums­schubs.
8. CS 5 tritt ein Jahr nach Ende des Wachstums­maximums ein.
9. CS 6 tritt minimal zwei Jahre nach der Wachs­tumsma­xi­mum ein.
10. CS 6 lässt das Ende des puberalen Wachs­tums erkennen.

Mädchen haben ihren zirkumpuberalen Wachstumsschub im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren. Bei Jungen tritt der Wachstumsschub im Alter zwischen 11 und 14 Jahren auf.21,25 So erreichen – in Bezug auf die Reife – Mädchen bereits mit 16 Jahren ihr endgültiges skelettales Reifestadium, Jungen hingegen erst mit 18 Jahren.15

StadiumMerkmale
1erste Anzeichen des Ossifikationspunktes in Form eines dünnen Balkenserste Anzeichen des Ossifikationspunktes in Form eines dünnen Balkens
2Längenzunahme des Ossifikationspunktes in der Transversalen und Vertikalen. Abstand zwischen                     Ossifikationspunkt und Halswirbel verringert sich.
3Ossifikationspunkt ist mit der Unterseite des Halswirbels fast vollständig verwachsen

Tabelle 2: Darstellung der Stadien des Ossifikationspunktes.

Klinische Handhabung
Es ist wichtig zu erkennen, wann genau der Wechsel von Phase 2 zu Phase 3 stattfindet. Ist der Wirbel C3 trapezförmig und bildet an der inferioren Begrenzung eine Konkavität von 1mm (gemessen am höchsten Punkt der Konkavi­tät und einer gedachten Linie zwischen der inferioren dorsalen und der ventralen Begrenzung) ist die Wachstumsphase 3 eingetreten (Methode nach San Roman).27

Auf vielen Radiografien sind an der inferioren Begrenzung des Wirbels C3 und C4 in Phase 3 und 4 „Ossifikationspunkte“ zu erkennen. Sie zeigen sich in der Aufnahme als knöcherne läng­liche Strukturen. Bei dieser Methode wird zwischen drei Stadien unterschieden (Tabelle 2). Ist noch kein Ossifikationspunkt zu erkennen, bedeutet dies nicht, dass die Phase des puberalen Wachstumsschubes noch nicht erreicht ist. So zeigte sich bei etwa 40%, dass trotz Abwesenheit dieses Merkmals der Wachstumsschub bereits begonnen hat­te.10 Findet sich hingegen das Stadium 1, kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Patienten sich im puberalen Wachstumsschub befinden. Die Stadien 2 und 3 repräsen­tieren eine Phase, in welcher der puberale Wachstumsschub entweder bereits zu Ende ist oder sich zumindest dem Ende zuneigt. Aufgrund dieser Ergebnisse scheint die Ossifikationspunkte-Methode allenfalls geeignet, um die Ergebnisse einer anderen Methode zu untermauern.10 Das Ende der dritten Wachstumsphase zeigt sich, sobald der Wirbel C3 eine viereckige Form erreicht.

Vorteile der CVM-Methode
Hassel und Farman18 berichteten von einer hohen Korrelation zwischen der Reifung der Halswirbel und der skelettalen Reifung der Hand. Im Vergleich zur Handgelenk-Methode führt die CVM bei der Auswertung zu weniger Fehldiagnosen.7 Demzufolge ist die CVM-Methode ein klinisch praktikables Instrument, das skelettale Wachstum Heranwachsender sicher zu diagnostizieren.17,24 Die kephalometrische Röntgenaufnahme bietet alle nötigen Informationen (sowohl kraniofazial als auch die zervikale Ver­tebrae), sodass sich eine zweite radiologische Aufnahme des Handgelenks erübrigt. Folglich ist die Strahlenbelastung für den Patienten geringer.8 Trotz der Bleischürze zum Schutz des Thyroid sind die benötigten C2- bis C4-Wirbel auf der kephalometrischen Röntgenaufnahme gut sichtbar.21

Klinisches Beispiel

Radiografische Aufnahmen von weiblichen zweieigenen Zwillingen im Alter von zwölf Jahren (Abb. 7a, b).


Anwendungen

Bei Patienten mit mandibu­lärer Defizienz in Stadium CV1, muss der Behandler mindestens noch ein Jahr warten, um eine radio­logische Neubewertung durchzuführen. Die Wirksamkeit einer funktionel­len kiefer­orthopädischen Behandlung ist stark abhängig von der biologischen Reaktionsfähigkeit des Kon­dylenknorpels, die wie­derum in  Verbindung steht mit der Wachstumsrate der Mandibula. In CVS 3 ist der ideale Zeitpunkt, um eine skelettale Klasse II zu behandeln (z.B. mittels eines bimaxillären Geräts), da nach zwölf Monaten der Höhepunkt des mandibulären Wachstums erreicht wird.1,16

Im Vergleich zur Therapie vor dem Wachstumsmaximum er­gaben sich einige Vorteile:
Größere Veränderungen in der to­talen Unterkieferlänge und -hö­­he sowie eine höhere posteriore Wachstumsrichtung der Kondylen.1 In CVS 5 verfehlt ei­ne funktionelle kieferorthopä­dische Therapie ihr Ziel, da der Wachstumsschub schon vorbei ist.1,16 Folglich ist das skelettale Wachstum individuell und nicht vom Alter abhängig.6,15,21 Das optimale Alter, eine kiefer­orthopädische Expansion durchzuführen (z.B. mittels palatinaler Expansionsschraube), ist in der frühen Wachstumssphase CVS 2.2 Eine orthognate Chi­rurgie oder die Insertion von Implantaten kann nach dem ske­lettalen Wachstumsende in Pha­se CVS 6 durchgeführt werden.25 Auch im Hinblick auf das Re­tentionsende bei der FKO-Therapie einer skelettalen Klasse III-Dysgnathie spielt die Bestimmung des skelettalen Alters ei­ne wichtige Rolle. Wird diese zu früh vor  Wachstumsende abgeschlossen, ist ein residuales Wachstum des Unterkiefers zu erwarten.9 Der optimale Zeitpunkt für den Beginn einer funktionellen kieferorthopädischen Maßnahme wird exakter bestimmt.

Fazit

Eine funktionelle kieferortho­pädische Behandlung aufgrund der dentalen Wechselphase zu beginnen, ist wissenschaftlich nicht belegt. Auch das chrono­logische Alter, die unterschiedlichen Wechselphasen und die Menarche sind keine zuverlässigen Indikatoren, um den skelettalen Wachstumsschub vorauszusehen.15,21 Auf Grundlage der aufgeführten Literaturangaben wurde die Auswertung der Halswirbel nach der CVM-Methode als zuverlässig reproduzierbar und leicht durchführbar angesehen. Die CVM-Methode verspricht bei der Umsetzung somit einen hohen Therapie­erfolg und letztlich zufriedene Patienten.

Die Literaturliste finden Sie hier.

Mehr Fachartikel aus Kieferorthopädie

ePaper