Implantologie 21.02.2011

Kausale implantologisch-prothetische Sanierung

Die Temporomandibular-Gelenke (TMG) sind komplexe Gebilde. Nur ihr einwandfreies Zusammenspiel mit den korrespondierenden Muskeln, Sehnen, Knochen und Zähnen garantiert einen optimalen, beschwerde- und schmerzfreien Kau- und Sprechakt. Der folgende Fallbericht zeigt, dass mit Einsatz von kombinierter mandibulär und maxillär BOI®- und gestützter, festsitzender Prothetik auch im Falle der progredienten Kiefergelenkarthrose ein erfolgreiches, langfristiges und kostengünstiges Ergebnis erzielt werden kann.

Die Therapie von temporomandibulären Funktionsstörungen2 ist in der Mehrzahl der Fälle symptomatisch. Trotz der klinisch belastenden Beschwerden für den Patienten werden die auslösenden Faktoren wie zum Beispiel die arthrotische Gelenkdegeneration über einen längeren Zeitraum vom konsultierten Arzt nicht erkannt oder bagatellisiert. Selbst wenn die Kiefergelenkarthrose röntgenologisch nachgewiesen ist, wird dennoch häufig keine gelenkorientierte Kausaltherapie eingeleitet und durchgeführt. Dies, obwohl erwiesen ist, dass der unerbittlichen Progredienz der chronischen Erkrankung zwar letztlich kaum Einhalt geboten, ihre Leidenssymptomatik aber erheblich gelindert werden kann, je früher eine kausal ausgerichtete Therapie eingeleitet wird. Besonders tragisch für die Betroffenen ist es, wenn ihnen von verschiedensten Seiten Implantatlösungen oder festsitzende Steg- und Brücken-Konstruktionen im Ober- und Unterkiefer installiert werden, die einer kausalen Behandlungsweise nicht gerecht werden, weil sie die im Grunde simplen mechanischen Voraussetzungen einer ausreichenden bilateralen Kiefergelenkabstützung nicht erfüllen.

Der vorliegende Krankheitsverlauf einer schmerzbedingt kauunfähigen TMG-Arthrosepatientin schildert beispielhaft einerseits die therapeutischen und versicherungstechnischen Fehlplanungen und demonstriert andererseits eine erfolgreiche, langfristige Kausaltherapie mit implantatgestützter, festsitzender Prothetik.

Fallbeispiel
Etwa ein dreiviertel Jahr vor der Erstkonsultation bei uns hatte die 64-jährige Patientin unter starkem Leidensdruck im rechten Kiefergelenk eine Zahnklinik aufgesucht. Trotz der bereits vorhandenen fortgeschrittenen Arthrose mit röntgenologisch nachweisbaren destruktiven Veränderungen der Gelenkpfanne sowie des Kondylenköpfchens gingen die Erstbehandler nicht auf die Ursache des Leidens ein.

Anstelle der notwendigen kausalen gelenkorientierten Kausaltherapie mit festsitzenden Konstruktionen im Ober- und Unterkiefer hatte man sich für eine beidseits laterale OK-Sanierung durch Einbringung von acht Schraubenimplantaten entschieden. Die bereits vorhandene OK-Brückenkonstruktion im Frontbereich wurde einstweilen – bis zur Einheilung der Implantate – belassen. Diese Zähne sollten später gegebenenfalls im Rahmen der Eingliederung einer zirkulären Brücke auf den acht Schraubenimplantaten ersetzt werden.


Abb. 1: Externe Rö-Aufnahme vom 31.7.2000: Ausgeprägte knöcherne Atrophie im gesamten distalen Oberund Unterkieferbereich.

Entsprechend dem Behandlungsplan nach Brånemark sollten die Implan-tate frühestens nach einer halbjährigen Einheilungsphase belastet werden. Ebenso sollte die im Unterkiefer vorhandene, kombinierte Teilprothesenbrücke verbleiben, die im Unterkiefer links hinten an dem noch vorhandenen Molaren verankert, rechts dagegen lediglich schleimhautgestützt war (Abb. 1). Diese Therapieempfehlung halten wir für nicht
zielführend.

Da die notwendige laterale Sanierung des Unterkiefers zur symmetrischen und stabilen Abstützung der Kiefergelenke und damit eine kausale Therapie ausblieb, wurde die Patientin zwangsläufig nicht beschwerdefrei. Im Gegenteil, sie wurde behandlungsbedingt durch die Prothesenkarenz nahezu kauunfähig und war von Schmerzen geplagt.

Die Behandler teilten der Patientin hierzu lediglich mit, dass es unmöglich sei, bei so wenig Knochen im Unterkiefer hinten zu implantieren. Trotz der zusätzlich durchgeführten Knochenaufbaumaßnahmen und (oder wegen) der fehlenden Belastung kam es nach dem Ende der Einheilphase zum Verlust der beiden linken distalen OK-Implantate.

Nach wie vor (unverändert) schmerzgeplagt und nach der langen Behandlungszeit vom bisherigen Verlauf und Zwischenergebnis enttäuscht, verließ die Patientin die Erstbehandler und stellte sich am 31. Juli 2000 in unserer Klinik vor.

Therapieplan
Wir gingen deshalb von einem zweizeitigen Therapieplan aus: Unser erster Vorschlag zu diesem Lokalbefund war die Sanierung des Oberkiefers auf den noch vorhandenen sechs axial-krestalen Implantaten, der Extraktion der oberen Restbezahnung (außer 13) sowie die Insertion von zwei BOI®-Implantaten (Abb. 2), Versorgung mit einer festen Brücke sowie einer Wurzelbehandlung 33. Im Bewusstsein, auch damit im ersten Schritt nur eine symptomatische Therapie durchzuführen, schien uns dies zur Verbesserung der psychischen Situation und der Motivation der Patientin wichtig. Ihr musste vermittelt werden, dass die bisherigeren Maßnahmen nicht völlig vergeblich gewesen seien, und eine nochmalige Wartezeit sollte ihr erspart bleiben.


Abb. 2:
OPD vom 15.11.2000 – OK: Unsere erste einteilige Brücke auf den fünf vorimplantierten Nobel Biocare®-Schrauben sowie auf zwei BOI® im zweiten Quadranten paramedian und lateral-distal.

Kausaltherapeutisch wäre auf jeden Fall die stabile Sanierung des Unterkiefers, vor allem zur distalen Abstützung des Kiefergelenkes, der wichtigste und erste Schritt gewesen. Bedauerlicherweise hat aber die Krankenkasse der Patientin unseren diesbezüglich ausgearbeiteten und sorgfältig begründeten Behandlungsplan von vornherein und trotz wiederholter Eingaben abgelehnt. Auch das persönliche Engagement der Patientin war vergeblich. Die Patientin entschied sich dann, während des schwebenden Kostenverfahrens, zunächst nur die Versorgung des Oberkiefers durchzuführen.

Schon bei Fertigstellung unserer ersten Oberkiefer-Brückenkonstruktion war wieder eine der vorimplantierten Brånemark-Schraube locker geworden und verloren gegangen. Wir mussten diese Brücke daher nochmals neu anfertigen. Da wir nicht wieder auf diese Schrauben setzen wollten, haben wir dann die zweiteilige Brückenvariante im Oberkiefer angelegt, um das Risiko der Gesamtbrücke nicht nochmals auf die drei Schrauben abzustellen, nachdem ein Implantat verloren ging, dass wir nicht einmal selber gesetzt hatten. Nolens volens haben wir diese zweite Brückenkonstruktion kostenfrei erbracht (Abb. 3).


Abb. 3: Röntgenkontrolle vom 8.5.2001. Im OK: zweiteilige Brückenkonstruktion. UK: einteilige Brücke auf zwei einscheibigen basalen Implantaten und einem zweischeibigen BOI® in der Region des unteren Eckzahns.

Während der Phase der Anfertigung dieser zweiten Brücke exfoliierte abermals eines der vorimplantierten Implantate. Wir entschlossen uns dazu, dieses Implantat zur Erhöhung der Pfeilerzahl zu ersetzen. Unter Ausnutzung des vertikalen Knochenangebots erfolgte die Einbringung einer sofortbelastbaren KOS®-Schraube. Alternativ wäre die Insertion eines zusätzlichen BOI®-Implantats möglich gewesen. Implantate, die keine sofortige Belastung ermöglichen, wurden nicht erwogen, da die mit der Implantateinheilung verbundene Verzögerung der Behandlung nicht in Kauf genommen werden sollte.

Der vonseiten des Versicherungsvertrauensarztes empfohlene Behandlungsvorschlag, mithilfe einer anterioren Prothesenbefestigung (vier Schraubenimpantate plus Steg) das weit distal sitzende Gelenk abzustützen, musste bei der bereits fortgeschrittenen Gelenkerkrankung abgelehnt werden, da er keine kausale Behandlung gewährleistete. Der hinzugezogene universitäre Gutachter lehne die Versorgung mit BOI®-Implantaten ebenfalls ab, obgleich dieses Verfahren prinzipiell Erfolg versprechend ist. Der Gutachter bezeichnete das Verfahren als unwissenschaftlich: Es gäbe nur zwei Literaturstellen zu diesem Behandlungsverfahren. Dabei übersah der universitäre Gutachter geflissentlich weitere circa 80 Literaturstellen und ein Lehrbuch und er ließ ebenfalls unerwähnt, dass er selber seit Jahren mittelbar in den Diensten eines schweizerischen Herstellers für Dentalimplantate steht (und über die firmeneigene ITI-Stiftung gut mit Mitteln aller Art versorgt wird).

Nicht nur im vorliegenden Fall kann nur ein wirklich stabil und festsitzender Zahnersatz bis in den Bereich des 1. Molaren hinein das massiv geschädigte Gelenk hinreichend abstützen. Dass zur Vermeidung von kostenteureren Umbauten besser auf Schraubenimplantaten zurückgegriffen werden soll, kann nur als einseitige bis unwissende Bemerkung gewertet werden. Wie die Behandlung des Oberkiefers hier zeigt, erweisen sich gerade die hier verwendeten Schraubenimplantate als wenig haltbar, weswegen ja völlig richtig einige deutsche Krankenkassen grundsätzlich die Anfertigung von Stegprothesen empfehlen und vorwiegend solche Behandlungen bezuschussen. Die Strategie dahinter lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gehen unter dem Steg Implantate verloren, so können sie Stück für Stück (fast unbemerkt) entfernt werden, und kostenteure Umbauten fallen zeitlich später an. Ursächlich für diese „Pseudoersparnis“ ist aber nicht die Implantatform (axial vs. basal), sondern die gewählte Andersartigkeit der prothetischen Versorgung (Prothese statt fester Brücke), was vom Vertrauenszahnarzt wie auch vom Gutachter jedoch schlicht unterschlagen oder fachlich nicht erkannt wurde.

Nach dem vorhergegangenen Verlust der alten Schrauben und Implantate (Abb. 2) wurde also zunächst der Oberkiefer festsitzend mit einer Brücke auf Implantaten und Zahn 13 versorgt.

Da der naturgemäßen Verschlimmerung des schmerzhaften Kieferarthroseleidens nur durch festsitzenden Zahnersatz im UK-Bereich entgegen- gewirkt werden konnte, musste hier eine adäquate Lösung mit Reokkludierung und myofunktioneller Nachbehandlung angestrebt werden.

Weiterer Verlauf
Am 2. Mai 2001 führten wir unseren ausführlich mit der Patientin besprochenen Eingriff in Lokalanästhesie durch: Eingegliedert wurden zwei einscheibige basale Implantate in Regio 37, 47 sowie ein doppelscheibiges basales Implantat in Regio 43 (Abb. 4). Die Eingliederung der definitiven Brücke erfolgte innerhalb von drei Tagen. Der postoperative Verlauf war bis auf eine vorübergehende, etwa dreiwöchige partielle Parästhesie rechts, unkompliziert.

Bei der ambulanten Kontrolle am 28. Dezember 2001 teilte die Patientin überglücklich mit, dass es ihr schon lange nicht mehr so gut ginge. Sie könne endlich wieder alles schmerzfrei essen. Die durchgeführte OPG-Aufnahme objektivierte den subjektiven Eindruck der Patientin. Auch die röntgenologischen und klinischen Kontrollen in den nachfolgenden Jahren zeigten keinerlei Unregelmäßigkeiten und entsprachen dem subjektiven Wohlbefinden der Patientin. Bei der bisher letzten Follow-up-Kontrolle im Mai 2008 (Abb. 4) war die Patientin weiterhin beschwerdefrei und sehr zufrieden mit dem Ergebnis.


Abb. 4: Die vorläufig abschließende OPD-Kontrolle vom 14.5.2008, sieben Jahre nach unserem Eingriff, zeigte eine unverändert gute Situation.

Diskussion
Die kausale Behandlung der Arthrose des Temporomandibulargelenkes wird leider im Rahmen dental implantologischer und prothetischer Sanierung immer wieder bagatellisiert oder vernachlässigt. Dass dies von versicherungstechnischer und vertrauensärztlicher Seite immer wieder geschieht, ist umso beklagenswerter, zumal die schwere Kiefergelenksarthrose grundsätzlich als eigenständiges schweres Krankheitsbild anerkannt ist und deswegen sogar von den schweizerischen Krankenversicherungen gedeckt ist.

Statt der notwendigen kausalen gelenkorientierten Kausaltherapie mit festsitzenden Konstruktionen im Ober- und Unterkiefer hatten die Erstbehandler eine beidseits laterale OK-Sanierung durch Einbringung von acht Schraubenimplantaten begonnen. Diese Sanierungsmaßnahme wäre selbst dann primär zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn die Implantationen erfolgreich verlaufen wären, weil die definitive Abstützung des Kiefergelenkes in diesem Behandlungsplan nicht vorgesehen war. Das Problem war schließlich nicht der Prothesenhalt, sondern die chronische Gelenkerkrankung!

Auch die vom Vertrauensarzt der Versicherung vorgeschlagenen Schraubenimplantate mit Prothese im Unterkiefer wären bei der vorliegenden Kieferform nur mit distaler, schleimhautgetragener Abstützung realisierbar gewesen. Diese Behandlung wäre nicht nur in etwa kostengleich, sie wäre auch nicht kausal gewesen.

Um die erforderliche Abstützung und Entlastung der temporomandibulären Gelenke realisieren zu können, ist es unabdingbar, auch hinten, d.h. in der Stützzone des Kiefers Implantate einzubringen. Mit Schraubenimplantaten wäre dies nur mittels eines hoch risikobehafteten und erheblich kostspieligeren zusätzlichen Knochenaufbaus realisierbar gewesen. Solche Behandlungen wurden damals auch universitär propagiert. Zwischenzeitlich haben die geringen Erfolgsquoten dieser Knochenaufbauten im distalen Unterkiefer zu einer Ernüchterung auf breiter Basis geführt und die von solcher Atrophie betroffenen Patienten bleiben vom Crestalimplantologen im Regelfall untherapiert. Der vorgeschlagene Verzicht auf die lateralen stützenden Implantate hätte jeglichem rationalen Behandlungskonzept der Primärerkrankung widersprochen und wäre zum Scheitern verurteilt gewesen. Dass es sich dabei um eine vertrauensärztliche Fehlleistung bzw. eine Falschbegutachtung der Krankheitssituation gehandelt hat, muss an dieser Stelle mit Nachdruck hervorgehoben werden.

Nach unserer Auffassung und Erfahrung sind gerade bei atrophiertem Kieferknochen und unter der Berücksichtigung der für Schraubenimplantate erforderlichen risikoreichen Zusatzeingriffe (vertikale, laterale Augmentation etc) BOI® die Implantate der ersten Wahl, zumal sie wesentlich bessere Früh- und Langzeitresultate zeigen. Denn das Prinzip „Primum non nocere“ gebietet es, auf risikoerhöhende, zusätzliche Operationen (z.B. Knochenaufbau, Knochentransplantationen etc.) zu verzichten, wenn dies zur Erreichung des klinisch gewünschten Behandlungsziels möglich ist.

Nachdem die Patientin bereits die Hälfte der anderenorts eingesetzten Schraubenimplantate verloren hatte, musste unter Berücksichtigung des enormen Leidensdruckes der Patientin hinsichtlich des dauerhaften Erfolges als auch des Kostenaufwandes sofort eine dauerhafte Lösung gefunden werden.

Sei es nun aus Betriebsblindheit und Verliebtheit in das eigene implantologische Versorgungskonzept oder sei es aus reiner Ignoranz dem ursächlichen Krankheitsbild gegenüber: Im vorliegenden Falle der fortgeschrittenen Kiefergelenkarthrose wurde weder von den Erstbehandlern noch von vertrauensärztlicher Seite die Notwendigkeit einer kausalen, gelenkorientierten Kausaltherapie erkannt bzw. vorgeschlagen. Eine Beschwerdefreiheit der Patientin war schließlich nur durch die von uns beharrlich vertretene und implementierte Behandlungsstrategie zu erreichen. Dabei haben wir uns die Vorteile der BOI® zunutze gemacht, die vor allem in ihrer Anwendung bei reduziertem Knochenangebot im fast zahnlosen Kiefer liegen, sowie in der Vermeidung erheblich risikobelasteter, langwierigerer und kostspieligerer Knochenaufbaumaßnahmen. Darüber hinaus erlauben BOI® selbst in schwierigen Ausgangssituationen wie dieser im Gegensatz zu den traditionellen Schraubenimplantaten die für die Patienten psychologisch äußerst wichtige Sofortbelastung.

Autor: Dr. Stefan Ihde


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