Kieferorthopädie 10.10.2011

„Das Ziel der Korrektur macht den Unterschied“

Im Rahmen des diesjährigen AAO-Kongresses referierte Prof. Dr. Tiziano Baccetti über die „Dentofaziale Orthopädie in fünf Dimensionen“. Dabei widmete er sich dem richtigen Zeitpunkt des Behandlungsbeginns sowie der sogenannten Responsiveness des Patienten als vierte und fünfte Dimension einer Behandlungs­planung. KN traf ihn in Chicago zum Interview.

Mit welcher Apparatur arbeiten Sie bei Klasse II- und Klasse III-Patienten am liebsten?

Hinsichtlich funktioneller Ap­paraturen zur Behanldung von Klas­se II-Malokklusionen arbei­te ich definitiv am liebsten mit der TwinBlock-Apparatur. Das ist diejenige Apparatur, die wir am besten untersucht haben und mit der sich speziell in der Pubertät die besten sklettalen Ergebnisse erzielen lassen. Die TwinBlock-Apparatur ist besonders in England extensiv eingesetzt worden. Wir haben diese Apparatur vor vielen Jahren kennengelernt, als wir mit Dr. Bill Clark und dann mit Dr. Forbes Leishman in Neuseeland und eng mit meinen Freunden Kevin O’Brien und Jonathan Sandler in England zusammengearbeitet haben. In all unseren Studien hat sich der TwinBlock als sehr effektiv und effizient erwiesen. So dauert es etwa ein Jahr, um von einer Klasse II-Situation zu einer Klasse I zu gelangen, wobei das Verfahren eine über 60% skelettale Wirkung bietet. Das Schöne beim TwinBlock ist die Möglichkeit, die Apparatur bei insuffizienter Patientencompliance zu bonden. Meist wird die obere Apparatur gebondet, dann gleicht sie einem Rapid Maxillary Expander (GNE). Oder man bondet den oberen und den un­teren Teil.

Gemeinsam mit meinem Freund Dr. Ali Darendeliler aus Sydney haben wir eine magnetische Version des TwinBlock entwickelt, bei der die Magnete die Mandibula in der Vorwärtsbewegung unterstützen. All diese Apparaturen liefern sehr gute Ergebnisse. Bei der Behandlung von Klasse III-Situationen gibt es keinen Un­terschied zwischen festsitzenden und herausnehmbaren Apparaturen. Das gilt auch für die andere Fragestellung. Es gibt hier nur einen Behandlungsansatz und das ist ein orthopädischer Ansatz, bei dem die zügige Expansion der Maxilla mit einer Gesichtsmaske erreicht wird. Damit ist die Apparatur halb festsitzend und halb herausnehmbar. Wir haben das  Verfahren extensiv untersucht und die Langzeitergebnisse sind jetzt in einer kontrollierten Studie nachzulesen, welche wahrscheinlich im kommenden Jahr im AJODO veröffentlicht wird. Das hat uns sehr interessante Indikationen geliefert, denn die Gesichtsmas­ke, welche aufgrund der maxillären Retrusion ursprünglich eine Apparatur zur Behandlung von Klasse III-Fällen war, kann auch erfolgreich zur Behandlung von Klasse III-Fällen mit maxillärer Protrusion genutzt werden.

In welchem Wachstumsstadium der Wirbelsäule würden Sie mit herausnehmbaren FKO-Apparaturen beginnen?

Es ist nicht so entscheidend, ob die FKO-Apparatur festsitzend oder herausnehmbar ist. Das Ziel der Korrektur macht den Unterschied. Zielt die Korrektur darauf ab, das Wachstum des Oberkiefers durch Protrahierung der Maxilla bei einer Klasse III-Stellung zu modifizieren, oder geht es darum, das Vorwärtswachstum der Maxilla bei einer Klasse II-Stellung einzuschränken, oder ist eine Expansion der Maxilla mittels Expander gewünscht, dann liegt der ideale Zeitpunkt vor der Pubertät. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Halswirbelsäule im Reifestadium CS1 oder CS2. Präpubertär reagiert die Maxilla stärker auf orthopädische Kräfte. Geht es jedoch speziell um die Stimulation des mandibulären Wachstums und die Verstärkung der Wachstumsrate im Bereich der maxillären Kondyle, dann ist die Pubertät der güns­tigste Zeitraum. Die Halswirbelsäule befindet sich dann im Reifungsstadium zwischen C3 und C4. Dieser Fakt hat sich nachweislich sowohl bei den herausnehmbaren als auch bei den festsitzenden Apparaturen bestätigt.

Welche festsitzende FKO-Apparatur bevorzugen Sie zur Behandlung von Klasse II- und Klasse III-Fällen?

Klasse III-Fälle behandle ich wie in Frage 1 beschrieben. Es gibt nur diese Option (GNE und Gesichtsmaske). In letzter Zeit sind einige Alternativen bekannt geworden, die mit den gleichen Problemen arbeiten. Die Alternativen von Dr. Be­nedict Wilmes und Dr. Björn Ludwig führen die Nutzung von Minischrauben zum Schutz vor Verankerungsverlusten an den Zähnen ein. Dann gibt es Verfahren, die mit neuen Protokollen zur maxillären Expansion und Konstriktion in alternierenden Phasen arbeiten, so wie es das Protokoll von Dr. Liou beschreibt. Wir führen zurzeit eine randomisierte klinische Studie zu diesem Protokoll am späten Milchgebiss durch und ich denke, dass all diese Alternativen große Möglichkeiten für die Behandlung von Klasse III-Patienten bieten. Für die Behandlung von Klasse II-Fällen sind feste funktionelle Apparaturen eine gute Option, insbesondere bei Erwachsenen mit schlechter Compliance, wo­bei hier die Herbst-Apparatur die erste Wahl ist. Hinter der Herbst-Apparatur stehen im­merhin 40 Jahre Forschung.

Wir arbeiten aber auch mit der Twin Force- und der Forsus-Apparatur und publizieren da­zu. Der Umfang der skelettalen Veränderungen, die sich zum jetzigen Zeitpunkt mithilfe der Forsus-Apparatur erzielen lassen, sollte verbessert werden. Das ließe sich durch eine Verlängerung der aktiven Behandlungsphase und eine stärkere Wirkung auf das Kondylenknorpelgewebe durch Limitierung der Proklination der unteren Schneidezähne während der Behandlung erreichen. Denn diese Faktoren schränken die mögliche Verbesse­rung der mandibulären Situation ein.

Wo setzen Sie das Alterslimit bzw. das der Wirbelsäulenreifung an, wenn mit einer festsitzenden funktionellen Apparatur gearbeitet werden soll?

Eine festsitzende Apparatur wie das Herbst-Gerät kann lange Zeit erfolgreich eingesetzt werden. Der beste Zeitpunkt liegt definitiv in der Pubertät, doch auch unmittelbar nach der Pubertät kann man gut damit arbeiten und selbst bei jungen Erwachsenen funktioniert Herbst noch. Ich würde also sagen, dass Postbubertät und Pubertät die beste Zeit sind, besonders die Stadien 4 und 5 der CVM. Junge Erwachsene sind ebenfalls gute Patienten für eine Herbst-Apparatur. Das liegt daran, dass der Großteil der Wirkungen dentoalveolar ist und somit jederzeit erreicht werden kann.

Ist Ihr genetisches Markertool-Kit auf dem Markt erhältlich? Wo liegt dessen großer Vorteil?

Genetische Marker sind ein Weg, die Biologie und Physiologie der Veränderungen im Körper unserer Patienten zu betrachten. Dafür benötigen wir Gingivakrevikularflüssigkeit. Wir sehen uns die Levels der alkalinen Phosphatase an, die der wichtigste Biomarker für Knochenmineralisation und Wachstum ist. Wir befinden uns in der Endphase der Entwicklung dieses Kits, welches es nach 20 Minuten Sitzung im Behandlungsstuhl ermöglicht, einzuschätzen, ob der Patient präbubertal, pubertal oder postpubertal ist. Und das ist ganz einfach. Es gibt schon eine Reihe von Firmen, die am kommerziellen Aspekt dieses Kits interessiert sind. Wir wollen aber sicherstellen, dass der wissenschaftliche Aspekt Vorrang hat. Wir werden das Kit für zwei Hauptaufgaben nutzen: zum einen, um die individuelle skelettale Reifung festzustellen und zum anderen, um die individuelle Reagibili­tät auf orthopädische Kräfte zu ermitteln.

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