Kieferorthopädie 04.09.2013
Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten
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Dr. Daniel Podolsky über die klinische
Anwendung der Flip-Lock® HERBST® Appliance.
Einleitung
Die Herbst-Apparatur stellt sich aus
heutiger Sicht als ein sehr gut untersuchtes Therapiemittel dar.
Die überwiegende Zahl der Veröffentlichungen befasst sich hierbei
mit der klassischen Indikation zur Behandlung der Klasse II-Anomalien, insbesondere derer der Klasse II/1.1,2 Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Herbst-Apparatur ein äußerst effektives Behandlungsgerät darstellt, compliance-unabhängig ist und sowohl
Distalbiss, Tiefbiss, die Höhe der Lippenlinie als auch das Profil
verändern kann.3, 4 Nichtsdestotrotz ist es grundsätzlich
umstritten, ob die Effekte überwiegend nur dentaler oder auch skelettaler Natur sind
und ob eine genügende Langzeitstabilität der Ergebnisse besteht.
Am Markt gibt es dutzende Hersteller, die alle mit Derivaten des von Emil Herbst erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts vorgestellten Scharniers eine Vorverlagerung des Unterkiefers versprechen. Alle Apparaturen haben gemeinsam, dass sie den Unterkiefer mit einer mehr oder weniger starren Verbindung zum Oberkiefer nach anterior schieben. Diese Verbindung bringt nach einem überschaubaren Zeitraum den erwarteten Effekt, stellt den Behandler aber auch gleichzeitig vor einige Probleme wie die Kippung der Molaren oder Proklination der Unterkieferfront als biomechanische Nebenwirkungen. Auch ein Bruch der Apparatur durch zu hohe Belastungen, die grundsätzliche Skepsis und die doch problematische anfängliche Gewöhnung durch den Patienten sind zu bewältigen.
Anwendung
In unserer Praxis gliedern wir jährlich ca. 75 Herbst-Apparaturen ein. Die Tragezeit variiert dabei zwischen sechs und zwölf Monaten, je nach Ausgangszustand und Alter
des Patienten. Aus diesen Gründen ist neben des zu
erwartenden Effekts der Klasse II-Korrektur ebenso die
Zuverlässigkeit der Apparatur während der Anwendungsdauer ein
absolut entscheidendes Kriterium.6
Die von der Firma TP Orthodontics
produzierte Flip-Lock® HERBST® Appliance bietet die klassische,
absolut starre Verbindung von Ober- und Unterkiefer, erlaubt aber
durch die Verbindung mit zwei Kugelgelenken eine maximale Bewegungsfreiheit des Unterkiefers. Dies hat eine deutliche Steigerung
der Akzeptanz und eine Minimierung der Reparaturen zur Folge, da es
keine Überbelastungen bei Grenzbewegungen gibt. Das Gerät kommt
ohne Schrauben oder ähnliche Hilfsmittel aus und ist nur mit einem
Handgriff zu fixieren. Das grazile Design bietet dabei einen
maximalen Tragekomfort und durch die Positionierung der
Kugelgelenke und die Verwendung von Distanzscheiben kann die Vorverlagerung des Unterkiefers variabel
eingestellt werden.
Es funktioniert sowohl die Mesialisierung in einem Schritt zur Zielokklusion, wie sie Pancherz
ursprünglich beschrieben hat, als auch die kontinuierliche Mesialisierung in kleineren, z. B. 1 mm-Schritten pro Monat, was nach
neuerer Literatur bessere skelettale Effekte bei weniger dentalen
Nebenwirkungen erzielt und auch den Tragekomfort bzw. die
Eingewöhnung erleichtert.7, 8
Es gibt grundsätzlich verschiedene
Möglichkeiten, die Flip-Lock® HERBST® Appliance zu befestigen. In
unserer Praxis verwenden wir Snap-FitTM-Bänder von GAC an den
ersten Prämolaren und ersten Molaren des Oberkiefers sowie an den
Eckzähnen und ersten Molaren des Unterkiefers. Die Bänder an den
Unterkiefer-Eckzähnen werden doppelt übereinander verschweißt.
Die Flip-Lock®-spezifischen Kugelgelenke werden im Oberkiefer in regio des mesio- oder
distobukkalen Höckers der ersten Molaren und im Unterkiefer an die
Vestibulärfläche der Eckzähne zuerst punktgeschweißt und dann
gelötet. Die intramaxilläre Verbindung erfolgt mittels eines
harten 0,9er Stahldrahtes (Abb. 1).
Das Anpassen der Scharniere erfolgt im
Artikulator unter Einstellen der Zielokklusion. Hierbei ist
darauf zu achten, dass sowohl Protrusion, Laterotrusion als auch
maximale Mundöffnung möglich sind. Die Länge von Piston und Tube
sind dementsprechend einzustellen (Abb. 2). Bei der Eingliederung im Mund ist noch die
Okklusion zu prüfen. Wenn ein Aufbiss auf die Apparatur erfolgt,
so sind möglichst Turbo Bites palatinal an den Oberkiefer-Inzisiven
anzubringen.
Der insgesamt notwendige Arbeitseinsatz bis zum Eingliedern der Apparatur ist im Vergleich
vor allem zu den gegossenen Varianten der Herbst-Apparaturen
durchaus überschaubar. So benötigt der Patient insgesamt vier
Termine:
- 1. Separieren der Zähne
- 2. Bänder anpassen, Abdrücke und möglichst eine Funktionsdiagnostik
- 3. erneutes Separieren nach der labortechnischen Herstellung
- 4. Einsetzen der Apparatur.
Insgesamt sind hier wohl 90 Minuten
Zeit am Patienten einzuplanen. Im Labor ist die Herstellung im Vergleich zu gegossenen Alternativen denkbar einfach und auch
beim Einsetzen ist durch die geringe, aber dennoch vorhandene
Flexibilität des Stahldrahtes eine Passung nahezu immer
gewährleistet. Das Einsetzen erfolgt in unserer Praxis mit Glasionomerzement.
Klinische Ergebnisse, Fallbeispiele
Bei 50 ausgewerteten Fällen aus dem
Jahr 2012 (siehe Tabelle 1) zeigen sich die für eine Herbst-Apparatur typischen Ergebnisse. In unserer Praxis wird die Indikation für ein Herbst-Gerät klassisch gesetzt und kommt
hauptsächlich bei Patienten nach Überschreiten des pubertären
Wachstumsmaximums zum Einsatz.
Im Gegensatz zu anderen Kollegen
setzen wir die Herbst-Apparatur niemals als einziges Behandlungsgerät ein. Um eine stabile und gesicherte Okklusion zu
erreichen, schließt sich immer die Behandlung mit einer vollumfänglichen Multibandapparatur an.
Die Therapiedauer sowohl der Herbst-Apparatur allein als auch die
gesamte aktive Behandlungsdauer ist in unserer Praxis bei Klasse
II/2-Fällen länger. Dies liegt einerseits an der
Vorab-Bebänderung der Oberkieferfront, um eine initiale Vergrößerung des Overjets bei diesen Fällen zu erreichen, als auch
an der damit einhergehenden, nur langsameren Vorverlagerung des
Unterkiefers, da der Biss nur maximal auf frontalen Kopfbiss
eingestellt wird.
Die gemessenen Veränderungen des
Overjets sowie des ANB und des Wits-Wertes sind eindeutig und wohl in
diesem Ausmaß mit kaum einem anderen Behandlungsmittel zu
erreichen. Ebenso die Inklination der Oberkiefer-Frontzähne wird
entsprechend der Ausgangssituation erheblich in Richtung der
Sollwerte korrigiert. Bei der Inklination der Unterkieferfront
hingegen ist eine deutliche Proklination nicht zu vermeiden. Obwohl
durch die anschließende Multibandapparatur und die Verwendung
von Negativ-Torque-Brackets ein Teil wieder korrigiert werden kann,
so verbleibt doch eine restliche positive Abweichung.
Die in dieser Auswertung mit erfasste
Anzahl der Reparaturen zeigt die Zuverlässigkeit der Flip-Lock®
HERBST® Appliance deutlich auf. Durchschnittlich fallen nur etwa 0,5
Reparaturen pro Behandlung bei einer Tragezeit von knapp zehn Monaten an. Bei den
Fällen der Klasse II/2 sind es sogar nur 0,3 Reparaturen pro
Behandlungsfall, was möglicherweise auf die langsamere Vorverlagerung des Unterkiefers
zurückzuführen ist, da hierdurch der Patient geringere
durchschnittliche Kräfte auf die Apparatur ausübt.
Grenzen, Ausschlusskriterien
Wie bei jedem Behandlungsmittel sind auch dem Einsatz der Herbst-Apparatur Grenzen gesetzt.
Obwohl die Flip-Lock® HERBST® Appliance relativ grazil ist und
keine zusätzlichen Schrauben oder weitere Hilfsmittel benötigt,
so ist doch eine absolut zuverlässige Mundhygiene und ein gesundes
Parodont die Grundvoraussetzung, da die Apparatur relativ lange im
Mund verbleibt, ohne gewechselt zu werden und
durch die intermaxillären Verbindungen die Zahnpflege doch relativ eingeschränkt wird.
Die Herbst-Apparatur und deren Derivate
werden oftmals als Non-Compliance-Behandlungsgeräte bezeichnet.
Dies ist jedoch sicher nur teilweise korrekt. Während der
Behandlungsphase mit dem entsprechenden fest zementierten Gerät
ist eine Compliance nicht erforderlich. Allerdings muss die Apparatur
natürlich grundsätzlich vorab beim Patienten Akzeptanz finden.
Und auch anschließend muss während der Multibandphase die
Compliance absolut gegeben sein, um nicht den zwischenzeitlich
erreichten Erfolg wieder zu verlieren. Bei Patienten, die
grundsätzlich wenig Mitarbeitsbereitschaft zeigen, wird die
Apparatur aus diesem Grund als auch aufgrund der erschwerten Mundhygiene nicht das
Mittel der Wahl sein. Eine Verwendung im frühen Wechselgebiss zeigte
in unserer Praxis vor allem im Oberkiefer durch die distalisierende
Wirkung der Apparatur eine nachfolgende Durchbruchsstörung der
Prämolaren und zweiten Molaren, was die nachfolgende Behandlung
deutlich erschwert. Ebenso bei Patienten mit vollständig
abgeschlossenem Körperwachstum sind dem Einsatz der
Herbst-Apparatur entgegen anders lautenden Veröffentlichungen nach
meiner Meinung enge Grenzen gesetzt. Skelettale Veränderungen sind
hier nur in geringem Ausmaß zu erwarten, die Ergebnisse basieren
hauptsächlich auf weit reichenden dentalen Veränderungen.9, 10
Zusammenfassung
Der Einsatz der Flip-Lock® HERBST®
Appliance als klassisches Scharnier – im Praxislabor gefertigt,
an Bändern gelötet, mit Stahldraht intramaxillär verbunden –
bietet im Gegensatz zu gegossen Varianten des Herbst-Scharniers
eine deutlich vereinfachte Herstellung und Eingliederung. Durch
das Design und die einzigartige Verwendung von Kugelgelenken ist die
Apparatur extrem stabil und nahezu „bruchsicher“.
Langjährige klinische Erfahrungen
des Autors, sowohl in eigener Praxis als auch während seiner
kieferorthopädischen Ausbildung mit mehreren hundert Fällen
erfolgreicher Behandlung mit der Flip-Lock® HERBST® Apparatur,
zeigen erstaunlich langzeitstabile Ergebnisse, eine gute Akzeptanz
durch den Patienten, gutes Handling, wenig Reparaturen und nicht
zuletzt die Möglichkeit, auf viele Extraktionen als auch
chirurgische Interventionen zur Bisslagekorrektur zu verzichten.
Wenn man die Grenzen der Apparatur kennt und beachtet, so ist das
Flip-Lock® HERBST® von TP Orthodontics eine deutliche Erweiterung der Möglichkeiten für jede moderne kieferorthopädische
Praxis.
Hier gibt's die vollständige Literaturliste.