Kieferorthopädie 18.04.2011

Lingualtechnik in Labor und Praxis

Obgleich die linguale Orthodontie aufgrund neuer Labortechniken in den letzten Jahren einen neuerlichen Aufschwung erfahren hat, sieht sich der Behandler bei der klinischen Umsetzung nach wie vor mit diversen Problemen konfrontiert. Wie diese bei Anwendung eines computer- sowie robotergestützten Laborprozesses gelöst werden können, zeigen DDr. Silvia M. Silli und Dipl.-Ing. Mag. Christian Url.

Einleitung

Eine Maxime von Sir Frederick Henry Royce, dem Erbauer des legendären Rolls Royce, lautete: „Strebe in allem, was Du tust, nach Perfektion. Beginne mit dem Bes­ten, das es gibt, und verbessere es. Wenn es noch nicht existiert, erfinde es. Akzeptiere nichts, das fast richtig oder beinahe gut genug ist.“ Wenn Sie sich jetzt fragen, was das mit Kieferorthopädie zu tun hat, lesen Sie bitte weiter! Bereits 1907 hat Edward H. Angle, einer der größten Pioniere unseres Fachgebiets, die Edgewise-Apparatur entwickelt. Das Edgewise-Bracket war ein standardisiertes Bracket, d.h. ein- und dasselbe Bracket für jeden Zahn. Bracketplatzierungsfehler waren kein Problem, da ohnehin alle Posi­tionierungsinformationen für das Erreichen guter Finishing-Ergebnisse mithilfe Biegungen erster, zweiter und dritter Ordnung in den Draht gebogen wurden.

 

 

 

Lawrence F. Andrews, ein weiterer großer Pionier der Kieferorthopädie, leitete 1972 mit der Entwicklung der Straight-Wire-Appliance eine neue Ära in der Orthodontie ein. Erstmals waren im Bracket selbst Positionierungsinformationen für Angulation, Rotation und  Torque enthalten. Zusätzlich wurde versucht, unterschiedliche Zahndicken mit entsprechend unterschiedlich dicken Bracketbasen auszugleichen. Der Drahtbogen wurde zum Hilfsteil, das Bracketdesign gewann somit erheblich an Bedeutung. Einziger Haken: Auch ein Straight-Wire-Bracket ist nicht maßgeschneidert, sondern nur Mittelmaß, die Bracketpassform nur eine An­näherung an die individuelle Zahnmorphologie.


Mit der Entwicklung vorprogrammierter Brackets und mit dem Bestreben, mit planen Drahtbögen ohne jegliche Korrekturbiegungen ein gutes Endergebnis zu erreichen, rückte die regelrechte Bracketplatzierung in den Vordergrund. Denn jeder Positionierungsfehler eines Straight-Wire-Brackets, insbesondere in Kombi­nation mit konfektionierten Drahtbögen, wirkt sich unmittelbar auf die Endposition des Zahnes aus.


Die Entwicklung der indirekten Klebetechnik war ein logischer Schritt in Richtung Präzision bei der Bracketpositionierung. Mit in­dividuellen Klebebasen werden In­kongruenzen zwischen Bracketbasis und Zahnoberfläche aus­geglichen. Bei korrektem Vorgehen wird neben der erhöhten Genauigkeit der Bracketplatzierung auch zusätzlich die Zeit, die beim Einsetzen einer Multibracketapparatur am Behandlungsstuhl benötigt wird, wesentlich verkürzt.

Fazit: Wesentliche, den Behandlungserfolg gefährdende Variab­len, die durch Abweichungen vom Ideal bedingt sind, werden durch gezielte Individualisierung sowohl der Bracketgeo­metrie (bukkal oder lingual) als auch der Drahtbögen eliminiert. Gemeinsam mit gekonnt angewandter indirekter Klebetechnik sind exzellente Behandlungsergebnisse erzielbar.

Spezieller  Teil

In der Lingualtechnik sind die Individualisierung der Bracketgeometrie und die indirekte Klebetechnik aufgrund anatomischer und technischer Besonderheiten zur Erreichung vorhersagbarer Behandlungsergebnisse conditiones sine quibus non. Neben Bracketneuentwicklungen wurden in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche unterschiedlich aufwendige Positionierungsverfahren vorgestellt. Abhängig vom Laborprozess wird die dreidimensionale Information über die de­finitive Zahnstellung mehr oder weniger präzise auf voll- oder teil­individualisierte Brackets übertragen.


Damals wie heute muss jeder Laborprozess Lösungen für alle De­tailprobleme rund um die folgenden „Knackpunkte“ (= Schlüs­selfaktoren) der Lingualtechnik anbieten:
• Set-up-Erstellung
• Bracketauswahl und Bracket­individualisierung
• Transfertechnik
• Drahtbogen-Individualisierung
Unabhängig davon, für welches Bracket oder welches Positionierungsverfahren sich der eine oder andere heute entscheidet – ein professioneller, exakter Laborprozess mit fließender, kundenorientierter Kommunikation zwischen Labor und Praxis sowie ein eingespielter Arbeitsablauf in der Praxis sind grundlegende Voraussetzungen für die erfolgreiche Integration der Lingualtechnik in den Praxisalltag.
Wenn Sie erfahren möchten, wie der Orthorobot-Laborprozess abläuft, lesen Sie bitte weiter!


Der Orthorobot-Labor­prozess im Überblick
 
Der Orthorobot-Laborprozess nutzt alle Vorteile präziser Ro­bo­ter­technologie. Ausgehend von ei­nem Präzisionsabdruck werden ein Kunststoffmodell und zwei Hartgipsmodelle hergestellt. Ein Hartgipsmodell bleibt unverändert (Meistermodell; dient nach Fertigstellung des Übertragungstrays als Referenz), das zweite Hartgipsmodell wird zur Herstel­lung des Ziel-Set-ups verwendet (siehe Knackpunkt Set-up-Erstellung).


Das Kunststoffmodell wird für die robotergesteuerte Bracketpositionierung verwendet. Der Zahnkranz wird mit Kunststoff ausgegossen, anschließend wird jeder einzelne Zahn mit einem Crosspin® versehen. Die apikale Basis wird mit Superhartgips ausgegossen – dieser Gipssockel widerspiegelt die Malokklusion. Im letzten Arbeitsschritt werden alle Zähne separiert.


Nach Fertigstellung des Ziel-Set-ups wird über die in Set-up-Position fixierten und gepinten Einzelzähne ein zweiter Gipssockel gefertigt. Dieser Sockel widerspiegelt die Zielokklusion. Die Bracketsetzlinie wird mittels Laservorrichtung bestimmt, anschließend wird das Modell entsprechend der Bracketsetzebene gesockelt. Das Zielmodell wird digital erfasst, mithilfe der Software OnyxCeph³ werden die individuelle Bogenform bestimmt und die optimierten Bracketpositionen festgelegt. Der mit einem Spezialwerkzeug ausgestattete Roboter erhält alle Bracketkoordinaten und positioniert die zuvor vom Kieferorthopäden ausgewählten Brackets bzw. Tubes auf dem Kunststoffmodell (siehe Knackpunkt Bracketauswahl und Bracketindividualisierung).


Sind alle Brackets geklebt und durch das Komposit-Klebepad in­dividualisiert, werden die Pin-Zähne mit den darauf positionierten Brackets vom Ziel- auf den Malokklusionssockel um­gesteckt. Danach wird das Übertragungstray hergestellt (siehe Knackpunkt Transfertechnik).
Alle individuellen Drahtbögen werden ebenfalls mit dem Roboter gebogen (siehe Knackpunkt Drahtbogenindividualisierung).
Wenn Sie wissen möchten, wie die zuvor genannten entscheidenden vier Knackpunkte eines Laborprozesses bei Orthorobot gelöst wurden, lesen Sie bitte weiter!


Set-up-Erstellung

Die Set-up-Herstellung ist bei genauer Betrachtung ein zeitaufwendiger, ressourcenbinden­der und fehleranfälliger Prozess. Die Ergebnisqualität hängt vom Wissensstand, der Geschicklichkeit, der Detailliebe und nicht zuletzt von der „visuellen Wahrnehmung“ des Zahntechnikers und Kieferorthopäden ab. Individuelle Zahnmorphologien, un­terschiedlich geformte Kieferbasen, verschiedenste klinische Aspekte und nicht zu vergessen die „ärztliche Kunst“ (Vorlieben mancher Kieferorthopäden für die eine oder andere Zahnstellung im Bereich der Norm) lassen häufig verschiedene Set-up-Modifikationen zu.


Will man eine plane („Straight-Wire“) Bracketsetzlinie erreichen, ist labortechnisch zudem bei der Set-up-Erstellung neben funktionellen und ästhetischen Kriterien auch die geringere Höhe der kli­nischen Zahnkrone auf der pala­tinalen bzw. lingualen Seite zu berücksichtigen. Aufgrund unserer umfangreichen klinischen und labortechnischen Erfahrungen im Laufe der vergangenen 15 Jahre wurde bei Orthorobot ein detailliertes Protokoll zur Set-up-Erstellung erarbeitet. Um menschliche Fehler zu minimieren, wird jedes Set-up mithilfe der Software OnyxCeph³ digital erfasst und eine computerunterstützte Vermessung der Symmetrie vorgenommen.


Da wie vorhin erwähnt viele klinische und ästhetische Aspekte in ein Set-up einfließen, wird bei Orthorobot jedes Set-up dreidimensional erfasst. Das 3-D-Modell wird mit einer speziellen Software zur dreidimensionalen Betrachtung an den Kieferorthopäden geschickt, um etwaige Änderungswünsche berücksichtigen zu können. Erst nach Freigabe des Set-ups durch den Auftraggeber werden alle weiteren Schritte eingeleitet.


Bracketauswahl und -individualisierung

Nach Heiko Goldbecher (KN-Kompendium Lingualtechnik 1/ 2010) sollten (unsichtbare) ästhetische Bracketsysteme „nicht nur den Patienten, sondern vor allem auch dessen Anwender, den Kieferorthopäden, überzeugen. Insbesondere Apparatur­eigenschaften sowie Wirkungsweise stehen hierbei im Mittelpunkt und mit ihnen wichtige Faktoren wie Torque- und Rotationskontrolle von Zahnbewegungen, aber auch die leichte Handhabbarkeit.“ 


Wir sind der Überzeugung, dass weder das Labor noch der Laborprozess (vor)entscheiden soll­ten, welche Bracketkonfigu­ration zur Anwendung kommt. Jeder Kieferorthopäde sollte aus biomechanisch-klinischen, aber auch aus „praktischen“ Gründen selbst entscheiden können, mit welchem Brackettyp er arbeiten möchte. Mithilfe des Orthorobot-Laborprozesses kann jedes auf dem Markt verfügbare Bracket individualisiert werden, unterschiedliche Brackettypen (Lingual- und/ oder Bukkalbracket) können beliebig untereinander vermischt werden.


Die mittlerweile zur Verfügung stehende Auswahl an Bukkal- und Lingualbrackets ist enorm. Mithilfe des Orthorobot-Laborprozesses hat der Kieferorthopäde zudem die Möglichkeit, auch lingual mit selbstligierenden (ligaturen- und elasticfrei­en) Brackets zu arbeiten. Sowohl die bessere Handhabbarkeit als auch die Wirkungsweise der selbstligierenden Lingualbrackets bieten gerade in der Lingu­altechnik unschätzbare Vorteile (siehe auch KN-Kompendium Lingualtechnik):
• schneller und sicherer Bogenwechsel
• weniger Friktion, da keine Elastics erforderlich sind
• gute Rotationskontrolle ohne Not­wendigkeit von Lasso-Loops o.ä.
• gute  Torqueübertragung
• bei erhöhtem Verankerungsbedarf ist das zusätzliche Anbringen von Elastics oder Ligaturen möglich
• bessere Hygiene (keine Elastics!)
 
Alle Brackets bzw. deren Ba-sen werden solchermaßen in­dividualisiert, dass sie entlang einer Idealbogenform positioniert werden können. Die vom Kunden ausgewählten (fallweise auch bereitgestellten) Brackets werden – wo nötig – durch Beschleifen oder Biegen der Ba­sis vorangepasst, danach mit Komposit beschickt und mit dem Roboter präzise positioniert. Inkongruenzen zwischen Bracketbasis und Zahnoberfläche werden durch die individu­elle Kunststoffbasis ausgegli­chen.
Vorteile der Positionierung mit dem Roboter:
• sichere und präzise Handhabung
• exakte (und jederzeit mögliche) Wiederholbarkeit
• gründliche Begutachtung jeder einzelnen Bracketposition am Zahn ist möglich
• präzise Modellierung des Klebepads ist möglich, ohne die Bracketposition zu „gefährden“
Transfertechnik

Sind alle Brackets geklebt, werden die Pin-Zähne mit den da­rauf positionierten Brackets vom Ziel- auf den Malokklusionssockel umgesteckt. Auf diese Weise bleibt die Bracket-zu-Zahn-Relation exakt erhalten. Das Orthorobot-Übertragungstray ist zweiteilig und wird mit­tels Vakuum-Tiefziehverfahren hergestellt. Es besteht aus einer elastischen Folie (Bioplast 2,0mm), welche die Brackets umfasst, und einer starren Folie (Duran 1,0mm), welche während des Klebevorgangs den exakten Sitz des Trays und eine gleichmäßige Druckverteilung gewährleistet. Eine Teilung der weichen Bioplast-Folie in Front- und Seitenzahnbereiche ist möglich. Das transparente Übertragungstray ermöglicht eine sehr gute Sichtkontrolle vor dem Kleben, ist einfach in der Handhabung und präzise in der Positionierung.
 

Einzelpositionierung

Bestimmte Gebiss- bzw. Be­handlungssituationen verlangen nach der Möglichkeit, Brackets zu Beginn oder im Laufe der Behandlung einzeln zu positionieren. Solche Situationen können sein:
• Bracket kann erst zu späterem Zeitpunkt (ideal) geklebt werden (verlagerte Zähne, stark rotierte Zähne etc.)
• Bracket wurde verloren und muss neu geklebt werden
• Bracket ist beschädigt und muss ausgetauscht werden
• Bracket soll anders positioniert werden (Überkorrektur)
• Brackettyp soll getauscht werden.

Für die Einzelübertragung wur­de bei Orthorobot ein wieder­verwendbarer, beweglicher Jig entwickelt. Dieser wird mithilfe des Roboters hergestellt und ermöglicht
• das genaue (indirekte, wiederholte) Positionieren eines Brackets
• zu jedem Zeitpunkt der Behandlung.

Ebenso kann der Jig dank Roboter mit eindeutig definier-ten Korrekturwerten hergestellt werden und ermöglicht so das kontrollierte Umkleben von Brackets.
 

Drahtbogen-Individualisierung

Grundvoraussetzung für das Erreichen des im Set-up vorde­finierten Behandlungsergebnisses ist neben der kontrollierten Bracketpositionierung auch die Verwendung individueller Drahtbögen. Der Grundsatz für die Drahtbogenform bei Orthorobot lautet: So einfach wie möglich.

Die Planung der Drahtgeometrie beginnt bereits beim Festlegen der Bracketpositionen. Die­se werden derart definiert, dass die sich daraus ergebende Bogenform einem Idealbogen gleicht. Lingual bedeutet dies: Eine kreisrunde Form im Frontzahnbereich (Eckzahn bis Eckzahn) und jeweils eine Gerade im Seitenzahnbereich; bukkal ergibt sich eine Parabelform. In/Out-Diskrepanzen werden mit der Klebebasis ausgeglichen, auf Biegungen zweiter Ordnung wird weitestgehend verzichtet. Nur im Falle von großen Zahndickenunterschieden (beispielsweise zwischen einem dysplastischen zweiten Prämolaren und dem ersten Molaren) werden entsprechende Biegungen vorgesehen. Die Positionierung der Brackets unter Zugrundelegung einer Idealbogenform ermöglicht in der Nivellierungsphase die Nutzung konfektionierter, vorgebogener Drahtbögen „aus der Schublade“. Alle individuellen Drähte werden auf Basis der Bracketklebekoordinaten mit dem Roboter gebogen. Die Biegestrategie wird dabei so gewählt, dass die Sliding-Wege zwischen den Brackets maximiert und die Anzahl der erforderlichen Biegungen minimiert werden.

Fortsetzung in KN 5/11

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