Branchenmeldungen 08.05.2024
KI in der Zahnmedizin – ohne Standards geht es nicht
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Prof. Dr. Tabea Flügge ist Fachzahnärztin für Oralchirurgie und seit März 2020 Professorin am Einstein Center Digital Future (ECDF) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Der Fokus ihrer Forschung liegt auf der digitalen Bildgebung und computergestützten Behandlungsplanung. Wir sprachen mit ihr über Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und KI im Gesundheitswesen, insbesondere in der Zahnmedizin und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie.
Wie steht das deutsche Gesundheitssystem Digitalisierung und insbesondere KI gegenüber? Werden Machbarkeiten schon voll ausgeschöpft, überwiegt Unsicherheit einer breiten Anwendung – wie ist hier Ihre Einschätzung?
Ich möchte die Frage in Bezug auf die Zahnmedizin und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie beantworten, da wir im Hinblick auf das gesamte Gesundheitssystem sicherlich unterschiedliche Voraussetzungen und Erwartungen berücksichtigen sollten. Ich denke, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz weitgehend nicht ausgeschöpft werden. Ich bin aber auch optimistisch, dass wir diesen Weg in den kommenden Jahren bestreiten werden und Zahnärzt/-innen zunehmend von neuen Lösungen profitieren können, die unser Arbeitsleben erleichtern werden. Sehr praxisnah sind bereits digitale Systeme für die Bildgebung und automatisierte Bilddatenanalyse. Hier sind nicht nur, aber zurzeit vor allem Algorithmen für die Erkennung von Pathologien auf Röntgenbildern verfügbar. Damit lassen sich auf Panoramaschichtaufnahmen beispielsweise Karies oder parodontaler Knochenabbau anzeigen. Neben Röntgenbildern lassen sich aber auch klinische Bilder mit KI auswerten. Hier liegt der Wert aus meiner Sicht vor allem in der Früherkennung und Unterstützung der Diagnostik durch Zahnärzt/-innen. In der Zukunft wird künstliche Intelligenz auch für weitere Themen eine große Rolle spielen. Dazu gehören natürlich auch digitale Patientenakten und administrative Prozesse.
Inwieweit und wo konkret können digitale Prozesse und die Anwendung von KI Operationen unterstützen? Können Sie uns hier bitte konkrete Beispiele geben – gerne, wenn möglich, mit Bezug auch auf die Zahn- sowie Mund-, Gesichts-auf die Zahn- sowie Mund-, Gesichts- und Oralchirurgie?
Künstliche Intelligenz hat in der Chirurgie vielfältige Anwendungsmöglichkeiten. Neben zweidimensionalen Röntgenbildern werden in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie für die Diagnostik und Operationsplanung dreidimensionale Bilddaten verwendet. Künstliche Intelligenz kann in der Analyse dieser CT- bzw. DVT- und MRT-Scans eingesetzt werden. Durch maschinelles Lernen können auch hier Anomalien identifiziert, relevante anatomische Strukturen segmentiert und die (Zahn-)Ärzt/-innen bei der präzisen Diagnose und Planung von chirurgischen Eingriffen unterstützt werden. Ein Beispiel sind Kieferfrakturen. Es konnte gezeigt werden, dass diese mit hoher diagnostischer Genauigkeit detektiert werden können. Das hilft zum Beispiel in einer Notfallsituation, wenn Spezialisten nicht unmittelbar verfügbar sind und eine schnelle Diagnostik erfolgen muss. Ein großes Potenzial sehe ich nicht nur in der bildgestützten Diagnostik, sondern auch in der Unterstützung der Behandlungsplanung. Wenn die Systeme richtig trainiert werden, haben wir zukünftig die Möglichkeit, Algorithmen zu nutzen, die auf einer breiten Datenbasis aufbauen und ein mögliches Therapieergebnis sowie die notwendigen Planungsschritte darstellen. Zeitraubende Behandlungsplanungen werden damit vermieden und die Qualität der Planung kann gesteigert werden.
Das Gesundheitswesen braucht im Sinne einer optimalen, patientenorientierten Versorgung einen hohen Grad an Interdisziplinarität, die durch digitale Prozesse unterstützt werden könnte. Warum aber scheinen diese „digitalen Wege“ oftmals noch ausgebremst zu sein? Oder anders gefragt, was braucht die Digitalisierung, um flächendeckend etabliert zu werden?
Ich bin der Meinung, dass das Gesundheitssystem auch einen hohen Grad an Interoperabilität benötigt. Aktuell werden digitale Wege leider durch fehlende Standards ausgebremst. Uns fehlen die Standards bei den Datenaustauschformaten, Datenstrukturen und Kommunikationsprotokollen. Dadurch wird verhindert, dass Softwaresysteme effektiv miteinander kommunizieren. Wir haben in der Zahnmedizin heterogene IT-Systeme und wenn diese nicht interoperabel sind, wird der Informationsaustausch sehr mühsam. Das widerspricht bisher der Anwendung von künstlicher Intelligenz und ist aus meiner Sicht auch ein Grund, warum Large Language Models bisher noch keine größere Rolle für uns spielen.
Derzeit wird viel zur Regulierung von KI diskutiert, Lehreinrichtungen wie Unternehmen versuchen, den Einsatz künstlicher Intelligenz in Vorgaben zu verankern, um mögliche negative Begleiterscheinungen und Folgen zu vermeiden – wie viel Regulierung braucht die KI Ihrer Meinung nach im Gesundheitswesen?
Ich bin keine Expertin für die Regulierung im Gesundheitssystem, daher antworte ich Ihnen als Zahnärztin und Wissenschaftlerin, die mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Ich habe den Eindruck, dass sich das Thema künstliche Intelligenz gut dafür eignet, Unsicherheiten bei Menschen zu wecken. Das wäre auch bei mir der Fall, wenn die Technologie hinter diesem Begriff nebulös bleibt und es keine Möglichkeit gibt, zu verstehen, was hier passiert. Natürlich wird nicht jede Anwenderin und jeder Anwender alle Technologien verstehen, aber es gibt ja durchaus Bestrebungen wie „explainable AI”, die zur Entmystifizierung beitragen. KI benötigt große Datenmengen, und eine Qualitätssicherung ist hier in jedem Fall erforderlich. Daher ist es umso wichtiger, dass wir Standards für die Zahnmedizin entwickeln, wie komplexe Daten aus bildgebenden Verfahren, Patientenakten und Abrechnungsdaten effektiv und sicher verwendet werden können. Die Zahnärzteschaft sollte auf jeden Fall vertreten sein, wenn diesbezüglich auf politischer Ebene richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden. Dazu gibt es bereits unterschiedliche Initiativen. Für Zahnärzt/-innen, die sich mit diesem Thema beschäftigen möchten, gibt es den Arbeitskreis für künstliche Intelligenz in der Zahnmedizin (AK AIDM) in der DGZMK.
Dieser Beitrag ist im OJ Oralchirurgie Journal erschienen.
Autor: Redaktion