Branchenmeldungen 27.07.2022
Kieferorthopädie – Denkanstöße zur Neuausrichtung des Berufsbildes
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Originaltitel: „Kieferorthopädie – quo vadis?“
Rund 50 Jahre lang haben wir als Kieferorthopäden von der Fragmentierung in der Zahnmedizin und unserer Fachzahnarztrolle zweifellos erheblich profitiert. Die Digitalisierung – allen voran die Alignertechnik – führt jedoch aktuell zu einer Heraustrennung von Teilbereichen aus unserem kieferorthopädischen Aufgabengebiet. So werden zunehmend vor allem die vermeintlich einfacheren Fälle von anderen zahnärztlichen wie auch nichtzahnärztlichen Akteuren übernommen.
Parallel dazu haben wir es mit komplexen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu tun. Eine deutlich höhere Lebenserwartung in Verbindung mit einer gestiegenen „health awareness“ und einem insgesamt höheren gesundheitlichen Anspruchsniveaus spielen nicht nur in der Zahnmedizin eine zunehmend wichtigere Rolle. Weiterhin bahnt uns der immense Wissenszuwachs – vornehmlich in der Grundlagenforschung – in Kombination mit Big Data und den damit explodierenden digitalen Möglichkeiten den Weg zurück von der Fragmentierung in Richtung einer ganzheitlichen Sicht auf den Menschen.
Gesunderhaltung statt Krankheitsmanagement
Ein weiterer und wesentlicher Wendepunkt sollte nicht ungenannt bleiben – nämlich der Paradigmenwechsel von einer reaktiven zu einer proaktiven und individualisierten Medizin. Statt Management von Krankheit richtet sich der Fokus damit immer stärker auf die Erhaltung von Gesundheit.
Umso verwunderlicher ist es, dass im Gesundheitsreport der hkk von März 2022 mit Bezug auf die Kieferorthopädie fast vorwurfsvoll auf Folgendes hingewiesen wird: „[…] auffällig ist, dass die Mehrheit [der Patienten] vor Beginn einer [KFO-]Be- handlung nicht an medizinischen oder funktionell relevanten Problemen des Gebisses litt. 45 % [2012: 43 %] haben eigentlich keine Beschwerden.“
Für uns als Kieferorthopäden, deren Mindset ohnehin auf Prophylaxe ausgerichtet ist, stellt sich die Situation naturgemäß anders dar. Denn schließlich beurteilen wir nicht nur die aktuelle Situation („eigentlich keine Beschwerden“), sondern richten unseren Blick vielmehr nach vorn. Unser Ziel ist es ja gerade, dass unsere Patienten auch in Zukunft keine Probleme bekommen, damit die schicksalshaften Veränderungen im Gebiss, die durch die Faktoren Biologie und Zeit zwangsläufig eintreten, möglichst gering ausfallen. Für die Erreichung dieses Ziels sind jedoch unter Umständen (präventive) Maßnahmen sinnvoll, die bei einer „Old school“-Sichtweise und nicht vorhandenen aktuellen Problemen als nicht notwendig betrachtet werden.
Vom Kieferorthopäden zum „Prophydontisten“
Meine Vision ist daher, dass wir uns als Kieferorthopäden zunehmend auf die primäre Prävention in unserem Fachgebiet konzentrieren. Wir sollten unsere Aufgabe und unseren Anspruch zukünftig als Spezialisten für orale Präventivmedizin sehen und uns als „Prophydontisten“ verstehen (Abb. 1).
Unser Ziel sollte es vor diesem Hintergrund sein, für den Patienten zum ersten Ansprechpartner und Gatekeeper in allen Fragen der oralen Gesundheit zu werden. Unbestritten ist eine solche Aufwertung unseres Berufsbildes jedoch auch an notwendige Bedingungen geknüpft. Dazu gehört an erster Stelle eine Ausweitung des präventivmedizinischen Anteils der fachzahnärztlichen Ausbildung sowie die Integration von zusätzlichem allgemeinmedizinischem Wissen. Nur so nämlich kann es gelingen, den komplexen Zusammenhängen zwischen oralen und systemischen Erkrankungen in ausreichendem Maße gerecht zu werden.
Nicht zuletzt muss in diesem Zusammenhang natürlich auch die Wichtung unserer zahnärztlichen Kompetenzen eine neue Weichenstellung erfahren. Durch technologischen Fortschritt und digitalen Support wird im Praxisalltag ein erheblicher Anteil unserer Aufgaben zunehmend einfacher und schneller erledigt werden können. Zeitintensiver und anspruchsvoller wird hingegen mit Sicherheit die individuelle Aufklärung und Beratung der Patienten – vor allem im Hinblick auf eine zunehmend partizipative Entscheidungsfindung. In welchen Fällen und aus welchem Grund sollte welche Maßnahme im Sinne der Gesundheitsvorsorge erfolgen? Und in welchen Fällen und aus welchen Gründen eben nicht? Wann also ist „watchful waiting“ oder die „via negativa“ angezeigt? Nicht zuletzt ist es für ein solches Szenario selbstverständlich auch notwendig, über eine Neubewertung einzelner Leistungen oder Leistungspakete nachzudenken.
Um allen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt der „Prophydontist“ fraglos ein sachkundiges und interdisziplinär ausgerichtetes Netzwerk mit für Detailfragen und -aufgaben kompetenten Therapeuten. Dazu müssen Zahnärzte, Logopäden, Osteopathen und HNO-Ärzte ebenso gehören wie Internisten, Ernährungsmediziner und Pädiater.
It’s up to us!
Wollen wir als Kieferorthopäden einen wesentlichen Teil unserer bisherigen Aufgaben nicht unwiederbringlich an andere medizinische und nicht medizinische Akteure verlieren, sondern wollen wir im Gegenteil neue und wichtige Aufgaben hinzugewinnen, müssen wir handeln – und zwar jetzt. Die Aufwertung unseres Berufsbildes durch eine Neuausrichtung auf deutlich breiterer Basis scheint hier ein mehr als lohnenswerter Ansatz zu sein.
Auch wenn aktuell – und durchaus verständlich – andere Themen wie Krieg in der Ukraine, Corona etc. im Fokus stehen: Wir sollten es nicht versäumen, uns gerade jetzt mit den Herausforderungen zu beschäftigen, die mit unserem Berufsstand verbunden sind. Denn Zukunft ist nicht das, was passiert, sondern das, was wir gestalten.
Schlussbemerkung
Die hier vorgestellten Überlegungen sind meine eigenen und ganz persönlichen, die mich nicht erst seit gestern stark beschäftigen. Sie erheben aber selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, Originalität oder Korrektheit. Vielleicht sind sie aber geeignet, Gedankenanstöße und erste Impulse zu geben, die zu einer Diskussion oder sogar Konkretisierung führen können. Nichts anderes war und ist mein Ziel. Wenn sich daraus weitere Ideen oder sogar kühnere Visionen ergeben, könnten wir alle als Kieferorthopäden davon profitieren.
Sofern Sie ein paar freie Stunden oder Tage haben, möchte ich Ihnen in dem Zusammenhang abschließend noch ein sehr spannendes und anregendes Buch empfehlen, nämlich „Das Ende des Alterns: Die revolutionäre Medizin von morgen“ von Prof. David A. Sinclair. Mich hat dieses Werk absolut fasziniert. Auf einen Gedankenaustausch, anregende Diskussionen, aber natürlich auch konstruktive Kritik zu meiner Vision des „Prophydontisten“ freue ich mich sehr.
Dieser Beitrag erschien in den KN Kieferorthopädie Nachrichten.