Wissenschaft und Forschung 29.05.2011
Molekülblockade stoppt chronischen Schmerz
Wissenschaftler
des Pharmakologischen Instituts der Universität Heidelberg haben einen
wichtigen Mechanismus entschlüsselt, der für die Entstehung chronischer
Schmerzen verantwortlich ist und damit einen neuen Ansatz für eine
medikamentöse Therapie eröffnet. Wird ein bestimmtes Molekül an
Nervenenden ausgeschaltet, so nimmt die chronische
Schmerzempfindlichkeit erheblich ab. Diese Erkenntnis, die in
Tierversuchen gewonnen wurde, wurde von der Arbeitsgruppe um Frau
Professor Dr. Rohini Kuner jetzt im hochrangigen „Journal of Clinical
Investigations“ veröffentlicht. Die kollaborative Zusammenarbeit mit der
Arbeitsgruppe von Professor Dr. Gary Lewin vom Max-Delbrück-Zentrum für
Molekulare Medizin, Berlin Buch, spielte dabei eine entscheidende
Rolle.
Entzündungen oder Nervenverletzungen können die Verbindungsstellen
zwischen zwei Nerven (Synapsen) derart verändern, dass weitere
Schmerzreize als sehr stark empfunden werden. Diese molekularen
Veränderungen sind die Grundlage des chronischen Schmerzes und
existieren typischerweise weiter, auch wenn der Auslöser nicht mehr
vorhanden ist.
Eine wichtige Rolle für die andauernde Schmerzempfindung spielen
bestimmte Proteine (Rezeptoren), die auf den Nervenenden sitzen und auf
den Nervenüberträgerstoff Glutamat reagieren. Ein bestimmter Typ dieser
Glutamat-Rezeptoren, kurz AMPA genannt, hat dabei eine
Schlüsselfunktion. Dies konnten die Heidelberger Wissenschaftler in
einem Experiment mit Mäusen nachweisen, denen ein funktionsfähiger
AMPA-Rezeptor in den peripheren Nerven fehlte, während die
AMPA-Rezeptoren im Rückenmark und im Gehirn intakt geblieben waren.
Wurde eine Untereinheit des AMPA-Rezeptors selektiv ausgeschaltet und
die Mäuse chemischen und mechanischen Schmerzreizen in entzündetem
Gewebe – ähnlich dem chronischen Schmerz – ausgesetzt, so waren die
Mäuse weniger schmerzempfindlich. Diese Untereinheit zeichnete sich
dadurch aus, dass bei Einwirkung von Glutamat Kalzium in die Nervenzelle
einströmte.
Bisher galten synaptische glutamaterge Rezeptoren im Rückenmark und
Gehirn als wichtigste Anzünder des Schmerzgedächtnisses – dessen
therapeutisches Potenzial konnte aufgrund schwerer zentraler
Nebenwirkungen jedoch nicht ausgenutzt werden. „Die neuen Erkenntnisse
aus dieser Studie zeigen, dass nicht-synaptische glutamaterge Rezeptoren
in peripheren Nerven eine wichtige „Tor“-Funktion bei der Weiterleitung
von Schmerzsignalen in das zentrale Nervensystem spielen“, sagt Vijayan
Gangadharan, der als Erstautor diese Studie durchgeführt hat. „Die
gezielte Ausschaltung von peripheren glutamatergen Rezeptoren könnte
also eine Linderung des chronischen Schmerzes ohne erhebliche zentrale
Nebenwirkungen ermöglichen“, erklärt Professor Kuner. Damit ist der Weg
für die Entwicklung eines Medikamentes eröffnet, das gezielt die
molekularen Grundlagen von chronischem Schmerz angreift.
Weitere Informationen:
Peripheral calcium-permeable AMPA receptors regulate chronic inflammatory pain in mice. Vijayan Gangadharan, Rui Wang, Bettina Ulzhöfer, Ceng Luo, Rita Bardoni, Kiran Kumar Bali, Nitin Agarwal, Irmgard Tegeder, Ullrich Hildebrandt, Gergely G. Nagy, Andrew J. Todd, Alessia Ghirri, Annette Häussler, Rolf Sprengel, Peter H. Seeburg, Amy B. MacDermott, Gary R. Lewin, Rohini Kuner. Journal of Clinical Investigation 121(4): 1608-1623, 2011.
Quelle: Universitätsklinikum Heidelberg