Endodontologie 08.09.2016

Die „Wanderfeile“



Die „Wanderfeile“

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Ein Zahnerhaltungsversuch lohnt auch bei großen apikalen Parodontitiden. 

Zähne mit ausgedehnten periapikalen Parodontitiden fallen heute noch immer viel zu schnell der Extraktionszange anheim. Obwohl in vielen Studien respektive wissenschaftlichen Veröffentlichungen dargestellt wird, dass Zähne mit röntgenologisch sichtbaren, endodontisch verursachten apikalen Osteolysen eine schlechtere Überlebenswahrscheinlichkeit haben, lohnt ein Erhaltungsversuch, oft auch aus anderen, allgemeinmedizinischen Gründen. Dieser Fall zeigt, dass eine Zahnrettung auch bei auf den ersten Blick infauster Ausgangslage gelingen kann.

Der Patient begab sich wegen akuter Schmerzen am Zahn 22 zum Notdienst, wo eine teilweise Entfernung einer infizierten Wurzelfüllung erfolgen musste, um seine Schmerzen zu mildern. Dabei frakturierte ein Wurzelkanalaufbereitungsinstrument (WKI) und blieb mit Durchtritt in den Knochen im Apex stecken. 

Behandlungsablauf

Die überweisende Hauszahnärztin bat um Durchführung der endodontischen Revision. Der heute 45-jährige Patient stellte sich am 25.10.2012 erstmals in der Praxis vor. Nach umfangreicher, u. a. forensischer Aufklärung wurde ein Termin innerhalb der nächstfolgenden Tage vereinbart. Der Patient sagte ab. Am 08.01.2015, mehr als 26 Monate später, erschien der Patient erneut mit beginnenden Beschwerden. Am 15.01.2015 wurde der Zahn von den Resten eines provisorischen Verschlusses befreit sowie eine (unvollständige) Aufbereitung durchgeführt, um eine medizinische Einlage einbringen zu können. Am nächsten Tag erschien der Patient erneut – mit Schwellung in der Umschlagfalte und Perkussionsempfindlichkeit. Nach Entfernung des Cavits entleerte sich reichlich Pus. Der Zahn wurde weiter aufbereitet, gespült, erhielt eine medizinische Einlage und wurde (trotz des klinischen Befundes) provisorisch verschlossen. Der Patient wurde aufgefordert, intensiv zu kühlen und Ibuprofen einzunehmen. Eine Antibiose wurde nicht vorgenommen.

Bereits am 20.01.2015 wurde der Zahn endgültig gefüllt, an diesem Tag berichtete der Patient, dass er weder Schmerzen nach der letzten Sitzung hatte noch Ibuprofen einnehmen musste. Zunächst erfolgten die Wechselspülungen bis über den Apex hinaus in den osteolytischen Bereich, dabei entleerte sich seröses, partikeldurchsetztes Sekret. Der Sitz des ultraschallkondensierten MTA-Zement-Plugs wurde röntgenologisch kontrolliert. Dabei zeigte sich, dass das frakturierte WKI zu einer „Wanderfeile“ mutierte und nun, um 180° gedreht und der Schwerkraft folgend, palatinal unten im sklerosierten Randsaum zum Liegen kam.

Eine kleine Phosphatzementschicht deckte den MTA-Plug ab. Mit dem adhäsiven Aufbau wurde ein Glasfaserstift eingebracht. Nach Teilpräparation wurde eine langzeitprovisorische Kunststoffkrone mit Phosphatzement befestigt. Das WF-Kontrollbild zeigte eine ausgedehnte apikale Parodontitis. Der Patient hatte weder nach Abschluss der Behandlung noch bis heute irgendwelche Beschwerden.

Unmittelbar im Anschluss an die endodontische Revision war die operative Entfernung des frakturierten WKI geplant. Diese sollte aufgrund seiner Blutgerinnungsstörung (von-WillebrandSyndrom) in einer kieferchirurgischen Klinik erfolgen. Der Patient hatte es jedoch vor allem aus dienstlichen Gründen nicht geschafft, dies durchführen zu lassen. Die erneute Wiedervorstellung im Mai 2016 (14 Monate nach Abschluss der Behandlung) ließ auf der Kontrollaufnahme völlig gesunde periapikale Verhältnisse erkennen, es waren keine Anzeichen von zusätzlichem Knochenabbau erkennbar. Nach Rücksprache mit dem Gerinnungszentrum und der kieferchirurgischen Klinik Bonn entschlossen wir uns (zunächst) für den Verbleib dieses Frakturteils.

Diskussion

Ein Zahnerhaltungsversuch lohnt auch bei großen apikalen Parodontitiden. Sind die zystischen Osteolysen endodontischen Ursprungs, kann und sollte immer zunächst durch eine WKB die (rein konservative) Ausheilung versucht werden. Es kann nur immer wieder betont werden, dass diese Vorgehensweise nicht nur (Zahn-)Gesundheit erhalten hilft, sondern auch (finanziell) aufwendige Operationen, die Zähne und Knochenstrukturen zusätzlich schwächen, vermieden werden können. Bei allgemeinmedizinisch ungünstiger Ausgangslage (z. B. Blutgerinnungsstörung, Bisphosphonatmedikation o.Ä.) ist die Endodontie eine mehr als sinnvolle Therapiealternative.

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