Cosmetic Dentistry 29.01.2013

Ästhetik und Funktion



Ästhetik und Funktion

Kieferorthopädisch-chirurgische Zusammenarbeit als Schlüssel zum Erfolg

Die orthopädische Chirurgie stellt in der kieferorthopädischen Behandlung von Dysgnathien einen wichtigen Grundpfeiler dar. Zahnbewegungen sind nur in einem begrenzten Umfang möglich und immer abhängig von den Fehlstellungen von Ober- und Unterkiefer zueinander, aber auch von Fehlstellungen der Kiefer zum übrigen Gesichtsschädel. Die Anomalien können sowohl angeboren wie auch erworben sein und die Patienten bereits im Kindesalter stark beeinträchtigen. Die Gewichtung der kieferorthopädischen Therapie liegt dann primär nicht in der ästhetischen Korrektur, sondern wird vom funktionellen und prophylaktischen Aspekt geleitet. Optimale Verzahnung und das Wiederherstellen der Kaufunktion stellen entscheidende Faktoren zur Zahnerhaltung und Prophylaxe von sekundären Störungen dar (Abb. 1a–c). Außer Frage bleibt, dass der Leitgedanke der meisten Patienten die Verbesserung der Ästhetik und des damit verbundenen Selbstbewusstseins ist, dem ebenfalls durch eine chirurgische Korrektur Rechnung getragen wird.

Ursachen der Dysgnathie

Der Patient stellt sich in aller Regel erst in der kieferorthopädischen Praxis vor, wenn bereits deutliche Symptome oder Anomalien aufgetreten sind. Klinisch ergibt sich daraus in der Regel ein Bild der Mischdentition oder bereits der zweiten Dentition, welches eine genaue Zuordnung der Gründe für die vorliegende Dysgnathie erschweren kann. In der Literatur werden die Ursachen eines Dysgnathiebefundes sowie das ätiologische Gefüge der Dysgnathiesymptomatik bei kieferorthopädischen Patienten kontrovers diskutiert. In der Arbeit von Schopf zu den Anteilen exogener Faktoren, die an der Entstehung von Dysgnathien beteiligt sind, konnten keine direkten Angaben zum prozentualen Anteil von Patienten mit erworbenen bzw. anlage- und erbbedingten Dysgnathien erarbeitet werden (Schopf, 1981). Aus der Beurteilung der Einzelsymptome der Patienten konnte jedoch die Erkenntnis gewonnen werden, dass es lediglich bei 48% der Patienten möglich war, alle vorliegenden Dysgnathiesymptome mit exogenen ätiologischen Faktoren in Verbindung zu bringen. Saekel und Brodmann zogen in ihrem Bedarfsgutachten von 2001 aus der Publikation von Schopf den Schluss, dass 20% der Anomalien erblich bedingt sein müssten und somit durch prophylaktische Maßnahmen nicht beeinflusst werden könnten. Demzufolge müssten 80% der Dysgnathien im Vorfeld durch Prävention zu lösen sein, sodass im Umkehrschluss in Verbindung mit der aus der Deutschen Mundgesundheitsstudie hervorgehenden Reduktion der Kariesentstehung bei Kindern theoretisch die Anzahl der kieferorthopädisch behandlungsbedürftigen Patienten abnehmen müsste. Die Universität Greifswald um Prof. Hensel konnte jedoch klarstellen, dass 20,3% der Symptome anlage- und erbbedingt, 44,3% exogen und 35,3% als nicht eindeutig zuzuordnen zu klassifizieren sind, sodass auf Grundlage dieser Ergebnisse die Vermutung, dass 80% der Dysgnathien der Prävention zugänglich sein müssten, nicht zutreffen kann (Hensel, Stellungnahme DGKFO, 2001).

Die unterschiedlichen Angaben und Stellungnahmen verdeutlichen die Schwierigkeit der eindeutigen Zuordnung der Dysgnathien. Ungeachtet dessen steht der Patient mit seinem Leidensdruck im Vordergrund und erwartet eine symptombezogene Therapie mit stabilen Behandlungsergebnissen. Demzufolge sollte bei Dysgnathiefällen, die alleine funktionskieferorthopädisch nicht mehr regulierbar zu sein scheinen, eine kieferorthopädisch-chi-rurgische Planung vorgesehen werden, bevor eine Therapie durch rein dentoalveolär-kompensatorische Maßnahmen versucht wird. Der Versuch der kompensatorischen Maßnahmen im Zahnbereich könnte dem Patienten zwar eine Operation ersparen, gleichzeitig aber auch die Therapie unnötig und risikobehaftet in die Länge ziehen. Die Entscheidung zu einer orthopädischen Chirurgie muss interdisziplinär getroffen werden und die Ziele sind im Vorfeld genau zu definieren (Abb. 2a und b).

Zielgruppe der orthopädischen Chirurgie

Erwachsene stellen heute einen großen Teil an Patienten in der kieferorthopädischen Praxis. Geleitet von hohen soziokulturellen Ansprüchen und dem Wunsch nach perfekter Zahnästhetik erhöht sich die Bereitschaft zu einer Regulierung eines Fehlbisses. Bei Erwachsenen, bei denen die Diskrepanz der Zuordnung von Ober- und Unterkiefer deutlich ausgeprägt ist, muss vor allem geklärt werden, ob die Fehlstellungen dentoalveolär oder skelettal bedingt sind. Die skelettal verursachten Unstimmigkeiten können durch die Grenzen der konventionellen kieferorthopädischen Therapie nur selten zur vollständigen Zufriedenheit beseitigt werden, sodass eine kombinierte kieferorthopädisch-chirurgische Therapie notwendig wird. Während der Wachstumsphase ist es möglich, isolierte Zahnfehlstellungen ohne oder mit nur geringer Kieferfehlstellung ohne Operation durch eine rein kieferorthopädische Behandlung mithilfe von Plattenapparaturen und Klammern erfolgreich zu therapieren. Kinder und Jugendliche, bei denen eine funktionskieferorthopädische Behandlung nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen kann, werden nach Beendigung der Wachstumsphase operativ versorgt. Eine zu frühe Operation birgt immer das Risiko, dass unerwartete Wachstumsschübe oder unilaterale abnormale Hyperplasien noch aktiv sind und das Operationsergebnis negativ beeinflussen könnten.

Auswahl der Patienten

Eine kombinierte kieferorthopädisch-chirurgische Therapie erfordert nicht nur eine enge und zielgerichtete interdisziplinäre Zusammenarbeit, sondern auch eine absolute Akzeptanz des Therapieplans durch den Patienten und gegebenenfalls durch die Eltern. Die Behandlung ist langwierig und postoperative Korrekturen können nicht ausgeschlossen werden. Ein ausführliches ärztliches Aufklärungsgespräch muss den Patienten über die Risiken einer kombinierten Behandlung belehren, sollte aber auch die Risiken einer nicht behandelten Dysgnathie mit aufnehmen, denn Fehlbisslagen können zahlreiche Kosymptome auslösen, wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen bis hin zu chronischen Migränezuständen (Abb. 3a, 3b). Bei ausgeprägten dolichofacialen Gesichtstypen kann es zu einer pharyngealen Enge kommen, die sich im obstruktiven Schlafapnoesyndrom äußern kann (Hochban et al., 1997). Bei erwachsenen Patienten wird in der Regel vor Therapiebeginn das gesamte Ausmaß der Dysgnathie und der damit verbundenen Zwangsbisslage mithilfe einer planen Aufbissschiene ermittelt, die sechs bis acht Wochen getragen wird und die Ermittlung der physiologischen Kondylenposition garantiert. Anschließend erfolgt die kieferorthopädische Korrektur im dentoalveolären Bereich, die nicht den Zwangsbiss überstellt, sondern sich nach der geplanten postoperativen Situation richten muss (Abb. 4a–c, 5a–e). Die optimale Position von Ober- und Unterkiefer wird anhand einer Modelloperation beurteilt, in der die Verlagerungsstrecke ermittelt wird. Anhand dieser Modelle wird ein Splint hergestellt und während der Operation intraoral fixiert, um die präoperativ festgestellte physiologische Kondylenposition operativ umzusetzen (Abb. 6a–c). Jugendliche Patienten mit Kieferasymmetrien, die sich nicht eindeutig klassifizieren lassen, sollten mit besonderer Sorgfalt behandelt werden. Vor allem wenn die klinischen Aufzeichnungen erst ab einem Alter von 16 Jahren erfassbar sind – sei es aufgrund fehlerhafter Aufzeichnungen der Zahnärzte oder einfach durch die späte Erstbeurteilung in der Fachpraxis –, sollte eine präzise Anfangsdiagnostik erfolgen, um eine mögliche unilaterale Hyperplasie mit weiterer Wachstumstendenz, wie es bei der Kondylenhyperplasie oder der hemimandibulären Hyperplasie der Fall sein kann, im Vorfeld auszuschließen. Laut der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sollte im Hinblick auf die Gefahr des abnormen Wachstums neben der Inspektion, Palpation und der Röntgendiagnostik eine nuklearmedizinische Untersuchung erfolgen, um anhand eines vermehrten Uptakes der betroffenen Region Rückschlüsse auf das Wachstumsverhalten zu erhalten. Sollte sich der Kieferbereich durch abnorme Wachstumsschübe weiterhin verändern, so ist es ratsam, mit der chirurgischen Therapie – falls bei der Indikationsstellung der Grundproblematik möglich – bis zum Abschluss des Wachstums zu warten.

Operationstechnik

Die Wahl der Technik für die Umstellungsosteotomie – so wird die Technik zur Korrektur der Knochenfehlstellungen bezeichnet – hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bei der Umstellungsosteotomie wird klinisch ein operativer Zugang zum Knochen geschaffen, der an festgelegten Punkten getrennt wird (Osteotomie des Knochens). Anschließend erfolgt nach Angaben der Modelloperation und des hergestellten Splints die Stellungskorrektur des Knochens und folgender Knochenheilung in der fixierten, neuen Position. Im Kieferbereich sind nach der Umstellung nicht nur die korrekte Position der Kiefer zueinander zu betrachten, sondern auch die Zähne mit ihrer Okklusion. Diesen entscheidenden Schritt muss der Kieferorthopäde vorab so präzise wie möglich vorbereiten, denn an der Okklusion orientiert sich schlussendlich die Neupositionierung. Andererseits beeinflussen die Zähne die Art des Zugangs zum Operationsfeld und Weisheitszähne müssen in Einzelfällen bereits vor der Umstellungsosteotomie entfernt werden. Bei der Umstellungsosteotomie kann der Ober- oder nur der Unterkiefer verlagert werden. In vielen Fällen bietet es sich jedoch an, bignath zu arbeiten und sowohl den Oberkiefer wie auch den Unterkiefer zu verlagern. Heute werden dabei fast immer die ge-samten zahntragenden Anteile des Kiefers verlagert. Segmentosteotomien haben sich in der Vergangenheit nicht bewährt und Korrekturen der Zahnfehlstellungen werden dem kieferorthopädischen Behandlungspartner überlassen. Geht es um die Operationstechnik, so hat sich in den letzten Jahrzehnten eindeutig die Operationstechnik nach Obwegeser bzw. nach Obwegeser-Dal Pont durchgesetzt. Dabei handelt es sich um eine stufenförmige Osteotomie von intraoral am aufsteigenden Unterkieferast (Abb. 7a und b). Die bignathe Operationsmöglichkeit hat sich als „down fracture“-Technik faktisch erst 1975 mit den Autoren Bell und Epker eröffnet, wobei es heute in den meisten Fällen zu einer Kombination aus Obwegeser-dal Pont und Le Fort-I-Osteotomie kommt. Der bignathe Ansatz ist sinnvoll, da sich während des gestörten Wachstums der Ober- und Unterkiefer gegenseitig beeinflusst. Dennoch ist es oftmals möglich, nur mithilfe der Obwegeser-Dal Pont-Technik ein sehr gutes und weniger risikobehaftetes Ergebnis zu erhalten. Die Fixation der getrennten Unterkieferbereiche erfolgt in der Regel als Kombination von Osteosyntheseplatten, die fest mit dem Kiefer verschraubt werden. Aufgrund des größeren Eingriffs beim Entfernen der Osteosyntheseplatten scheint die modifizierte Operationsmethode nach Obwegeser-Dal Pont zielgerichteter zu sein, bei der die Fixation lediglich mittels Osteosyntheseschrauben erfolgt (Hochban, 1997; Abb. 8a und b).

Operationsrisiken

Wie bei jedem operativen Eingriff können unerwartete Komplikationen auftreten, die stets nach dem Risiko-Nutzen-Prinzip gegeneinander abgewogen werden müssen. Heute wird die Notwendigkeit einer Umstellungsosteotomie weiterhin kontrovers diskutiert, denn eine Kieferfehlstellung stellt im Prinzip keine vergleichbar schwerwiegende Erkrankung dar, wie ein Tumor, ein Abszess oder Knochenbrüche, die zwingend operativ zu versorgen sind. Da es sich um sogenannte Elektiveingriffe (Wahleingriffe) handelt, sollten besonders hohe Ansprüche an die Operationssicherheit gelten. Isolierte Unterkieferosteotomien, die ein deutlich geringeres Operationsrisiko bürgen, sollten daher als kombinierte kieferorthopädisch-chirurgische Eingriffe eine besondere Beachtung finden. Das bedeutsamste Risiko der Unterkieferosteotomie stellt mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 5% die Verletzung des im Unterkieferknochen laufenden Gefühlsnerven für Unterlippe und Kinnbereich, des N. alveolaris inferior, dar (Abb. 9a und b). Schwerwiegende weitere Risiken sind bei der Technik nach Obwegeser-Dal Pont kaum zu befürchten und Nachblutungen können im Rahmen der postoperativen Vorsorge sehr sicher beherrscht werden.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Aus der Literaturübersicht der Siebzigerjahre geht eindeutig hervor, dass die heute gewissenhafte Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Kieferorthopäden mitnichten selbstverständlich ist. Die Dysgnathiechirurgie sah sich lange Zeit als Domäne bei der Behandlung von Fällen, die kieferorthopädisch nicht mehr lösbar zu sein schienen. Operationen wurden daher unter Toleranz der dentoalveolären Kompensation vorgenommen und machten weitere korrigierende operative Eingriffe sehr wahrscheinlich. Heute geht in nahezu allen Fällen der Dysgnathiebefunde eine kieferorthopädische Vorbehandlung des Patienten der operativen Versorgung voraus. Die Planung der Operation anhand der Modelloperation und des Erstellen des Splints stellt heute eine sehr sichere Methode dar, um vorhersagbare und langfristig stabile Ergebnisse zu erreichen (Abb. 10a und b). Präoperativ wie auch postoperativ werden einzelne dentoalveoläre Diskrepanzen der Okklusion kieferorthopädisch korrigiert, sodass die interdisziplinäre Zusammenarbeit stets ein Gewinn für Patient und Behandlungsteam darstellt.

Autoren: Dr. Martin Jaroch, Dr. Friedrich Bunz, Prof. Dr. Dr. Walter Hochban

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