Kieferorthopädie 06.05.2015

ASR: Wo liegen die Grenzen?



ASR: Wo liegen die Grenzen?

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Immer mehr Erwachsene empfinden Frontengstände als ästhetisch störend und wünschen eine entsprechende Behandlung. In meiner Praxis haben sich für solche Anliegen der Einsatz einer zweidimensionalen Lingualapparatur und die approximale Schmelzreduktion (ASR) sehr bewährt. Der Vorteil der ASR liegt darin, dass je nach Schweregrad jeweils nur gerade so viel Schmelz entfernt werden muss, um den Engstand auflösen zu können. Aber gibt es Grenzen? Wo liegen sie, und welches sind mögliche Alternativen? In folgendem Beitrag soll auf diese Fragen eingegangen werden. Um eine einfache Diskussionsbasis zu schaffen, un­terteile ich in der Folge den Schweregrad des Frontengstandes in leicht, mittel und schwer.

Leichter Frontengstand (bis ca. 2 mm Platzmangel)

Hier lässt sich mit der ASR problemlos genügend Platz schaffen, werden doch bei 12 Schliffstellen mit einer Schmelzreduktion von je 0,2 mm (Slicing von Eckzahn zu Eckzahn) gute 2,5 mm Platz gewonnen.

Mittlerer Frontengstand (bis ca. 5 mm Platzmangel)

Auch hier ist die ASR meist eine gute Behandlungs­methode. Ein zirkuläres Stripping von Molar zu Molar kann hierbei bis zu 6 mm und mehr Platz bringen.

Schwerer Frontengstand (mehr als 6 mm Platzmangel)

Bei schwerem Frontengstand stoßen wir mit der ASR an Grenzen. Sind wir hinsichtlich des Platzgewinns zu optimistisch, werden die Fronten im Laufe der Behandlung zu stark protrudiert. Es besteht in solchen Fällen die Gefahr einer Schädigung des Parodonts mit Gingivaretraktionen und irreversiblem Knochenverlust. Eine Alternative stellt die Ex­traktion bleibender Zähne, eventuell auch die Platzbeschaffung mittels Mini-Implantaten dar.

Bei schweren Engständen der Un­terkieferfront kann die Ex­traktion eines Inzisiven infrage kommen. Aber es ist Vorsicht geboten. Der Overjet wird im Lau­fe der Behandlung durch eine Lingual-Verlagerung der drei verbleibenden Schneidezähne meistens vergrößert. Zudem bleiben häufig unschöne „schwarze Drei­ecke“, da oft kein zusätzliches Slicing/Stripping mehr nötig ist. Die Extraktion eines Inzisiven der Unterkieferfront macht am ehesten Sinn bei einem mittleren bis schweren Frontengstand und gleichzeitigem Kreuzbiss einzelner Frontzähne oder gleichzeitiger starker Protrusion der Un­ter­kieferfront mit Tendenz zu front­offenem Biss. Bei schwerem Unterkieferfront-Engstand, Status nach Extraktion von zwei Prämolaren im Oberkiefer und guter Klasse II-Verzahnung kann die Inzisiven­extraktion auch eine gute Alter­native sein (vgl. Fall 3). Im Zweifelsfalle hilft ein Wachs-Set-up. Es bleibt die Extraktion von Prämolaren. Die anschließende Behandlung wird aber bedeutend aufwendiger und dauert länger, da nach Auflösung des Front­engstandes meistens Rest­lücken verbleiben, deren Schluss zusätzlich Behandlungszeit erfordert.

Kariesrisiko

Ob sich bei ASR das Kariesrisi­ko erhöhen könnte, wurde in verschiedenen Arbeiten untersucht. Björn Zachrisson un­tersuchte 61 Patienten, zehn Jahre nachdem ein Slicing/Strip­ping durchgeführt wurde. Es konnten keine iatrogenen Schäden festgestellt werden.1 In einer weiteren Pub­likation von Zachrisson wurden Patienten mit ASR im anterioren und posterioren Bereich untersucht. Hier wurde ebenfalls kein erhöhtes Kariesrisiko festgestellt.2

Slicing/Stripping-Technik

Es gibt verschiedene Slicing/Stripping-Techniken. Ich möch­te nicht näher darauf eingehen, jede hat ihre Vor- und Nachteile.3 Ich persönlich verwende im Frontbereich Stahlstrips und feine Diamantscheiben, im Seitenzahnbereich Orthostrips mit EVA-Winkelstück. Das Ausmaß der Schmelzreduktion sollte in der UK-Front 0,2 mm pro Approximalfläche und in der OK-Front 0,3 mm pro Approximalfläche nicht überschreiten. Bei Prämolaren sind bis ca. 0,5 mm pro Approximalfläche zu verantworten. Eine feine Schmelzoberfläche erreiche ich mithilfe von Polierstrips und feinen Polierscheiben. Bei empfindlichen Patientinnen/Patienten anästhesiere ich die Gingiva mit Oberflächenanästhesie. Im Seitenzahnbereich hilft oft ein im Approximalbereich applizierter Keil. Er erleichtert das Einführen der Orthostrips und schützt die Gingiva. Eine Fluoridierung nach erfolgtem Slicing/Stripping führt zu einer schnellen Remineralisierung und macht daher Sinn. Anhand von vier Fallbeispielen sollen im Folgenden mögliche Grenzen der ASR sowie Alternativen aufgezeigt werden.

Fallbeispiel 1

Die 44-jährige Patientin störte sich an ihrer Oberkieferfrontstellung. Im Alter von zwölf Jahren wurde eine kieferor­thopädische Behandlung mit Ex­traktion von vier Prämolaren durchgeführt. Gute neutrale Verzahnung, leichter bis mittlerer Frontengstand (Abb. 1a und b). Eine Korrektur der Ober- und Unterkieferfront mit einer zweidimensionalen Lingualapparatur nach erfolgtem Slicing/ Stripping von Eckzahn zu Eckzahn ist bei diesem leichten bis mittleren Engstand das Mittel der Wahl (Abb. 1c und d). Die Abbildungen 1e und f zeigen das Schlussresultat nach einer Behandlungszeit von fünf Monaten.

Fallbeispiel 2

Die 26-jährige Patientin war beun­ruhigt, weil sich der Engstand der Unterkieferfront immer mehr verstärkte. Es lagen eine gute Klasse I-Verzahnung bei ausgeprägtem Tiefbiss sowie ein Platzmangel von ca. 6 mm vor. Die Oberkieferfront stand gut (Abb. 2a bis d). Hier handelt es sich um einen Grenzfall hinsichtlich des Slicing/Stripping. Mitverantwortlich für die Platzproblematik in der Un­terkieferfront ist der Tiefbiss. Sofern die vertikale Abweichung mittels Bite-Turbos auf den Zähnen 11 und 21 (Abb. 2e) reduziert werden kann, sollte es möglich sein, mit zirkulärem Slicing von Molar zu Molar ein gutes Resultat zu erreichen. Die Einreihung der UK-Front erfolgte mittels 2D® Lingualbracket-Apparatur (Fa. FORESTADENT) (Abb. 2f). Die Abbildungen 2g bis k zeigen das Endresultat nach einer Behandlungszeit von sieben Monaten.

Fallbeispiel 3

Die 50-jährige Patientin wollte ihre Ober- und Unterkieferfront einreihen lassen. Status nach einer kieferorthopädischen Behandlung im Kindesalter mit Ex­traktion von zwei Prämolaren im Oberkiefer: starker Tiefbiss, die Eckzähne im Unterkiefer waren nach mesial gekippt, distale Verzahnung im Molaren- und Prämolarenbereich beidseits (Abb. 3a bis e).

Für die Einreihung der Unter­kieferfront kamen drei Behandlungsvarianten infrage: Zirku­läres Slicing/Stripping, Extraktion eines Inzisiven, Extraktion der beiden ersten Prämolaren im Unterkiefer. Die Variante der Prämolarenextraktion schied wegen der schönen Klasse II-Verzahnung im Molaren- und Prämolarenbereich aus. Es wurde ein Set-up mit (Abb. 3f) und oh­ne Inzisiven-Extraktion erstellt. Beim Set-up ohne Inzi­siven-Extraktion benötigten die stark nach mesial gekippten Eckzähne für ihre Einreihung so viel Platz, dass trotz Slicing/Stripping die Unterkieferfront zu stark protrudiert wurde. Die Inzisiven-Extraktion erwies sich daher als sinnvoll. Dies, obwohl ein Tiefbiss in der Regel dagegen spricht.

In einer ersten Behandlungs­pha­se wurden nach Extraktion von Zahn 31 mit Bite-Turbos auf den zentralen Inzisiven (Abb. 3i) die Fronten deblockiert und mit­tels 2D®-Lingualbracket-Apparatur im Unterkiefer (Abb. 3h) die Un­terkieferfront eingereiht. Die Ex­traktionslücke wurde zu Beginn der Behandlung mit Kom­posit auf den Zähnen 32 und 41 verkleinert (Abb. 3g).

In einer zweiten Phase wurden die Bite-Turbos entfernt und auch die Oberkie­ferfront nach ASR mit einer zweidimensionalen Lingualapparatur ein­gereiht (Abb. 3k). Nach einer Behandlungszeit von einem Jahr muss nur noch 43 weiter distal ausrotiert werden (Abb. 3l bis p). 

Fallbeispiel 4

Die 27-jährige Patientin wünschte die Einreihung ihrer Ober- und Unterkieferfront. Es lagen ei­ne gute neutrale Verzahnung und eine mittlere Engstand­situ­ation bei gleichzeitiger bimaxillärer Frontprotrusion vor (Abb. 4a und b). Wegen der bimaxillären Frontprotrusion kam hier ein Slicing/Stripping nicht infrage. Nachdem alle vier zweiten Prämolaren extrahiert waren, wurden in einer ersten Behandlungsphase mit bukkalen Segment­bögen die ersten Prämolaren und die Eckzähne distalisiert (Abb. 4c und d). Nach sieben Monaten im Oberkiefer und nach neun Monaten im Unterkiefer kamen die zweidimensionalen Lingualapparaturen im Frontbereich dazu (Abb. 4e und f). Die Abbildungen 4g und h zeigen das Endresultat nach 14 Monaten Behandlungszeit.

Schlussfolgerungen

Es wäre sehr praktisch, wenn ei­ne klare Grenze aufzeigen wür­de, ab wie viel Millimeter Platzmangel auf ein Slicing/Stripping verzichtet werden soll­te. Da es die­se Gren­ze nicht gibt, möchte ich nachfolgend ein paar Empfehlungen geben:

1. Leichte bis mittlere Frontengstände lassen sich immer gut mit ASR behandeln (vgl. Fall 1). Bei schweren Frontengständen gibt es Einschränkungen. Cave: unerwünschte Frontprotrusionen!
2. Bei Frontengstand im Un­ter­kiefer und gleichzeitigem Tiefbiss möglichst keine In­zisiven extrahieren. Auch schwe­rere Engstände der Un­terkieferfront können mit­tels ASR korrigiert werden (Slicing von Molar zu Molar der Gegenseite, Bite-Turbos auf die zentralen Inzisiven (vgl. Fall 2).
3. Die Extraktion eines Unterkiefer-Inzisiven sollte restriktiv angewendet werden, häufig ist ASR die bessere Variante. Im Zweifelsfall die möglichen Varianten mit einem Set-up testen.
4. Bei mittlerem bis schwerem Frontengstand, kombiniert mit Frontprotrusion und Tendenz zu frontoffenem Biss, sollte von Slicing/Stripping abgesehen werden (vgl. Fall 4).

Ich wünsche allen Behandlerinnen und Behandlern viel Erfolg, mit und ohne Slicing/Stripping!

Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.

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