Branchenmeldungen 29.06.2012

Von der Nozizeption bis hin zu komplexen orofazialen Schmerzen

Die zumstein dental academy veranstaltete einen zweitägigen Kongress zum Thema Schmerz. Dr. Silvio Schütz, UZM Basel, berichtet.

Die zumstein dental academy von Dr. Thomas Zumstein organisierte am 25. und 26. Mai einen sehr umfassenden und interessanten Kongress für Ärzte und Zahnärzte. PD Dr. Dr. Dominik Ettlin, Leiter der interdisziplinären Schmerzsprechstunde des ZZM  Zürich, Mitorganisator sowie Moderator der Veranstaltung, lud ein internationales Referententeam von zwölf bekannten Fachexperten ins KKL nach Luzern ein. Den gut 150 Teilnehmern wurde ein umfangreiches Update mit kurzweiligen und lehrreichen Vorträgen und Seminaren geboten, welches mit einem Klavierkonzert als künstlerischem Glanzpunkt abgerundet wurde.

 

Schmerzphysiologie

Zuerst widmeten sich PD Dr. Walter Magerl, Neurophysiologe an der Universität Mannheim, Deutschland, und Prof. Dr. Michele Curatolo, Leiter der Schmerztherapie am Inselspital Bern, der Schmerzentstehung, -wahrnehmung und -ausbreitung.

Gewebeschädigende Einflüsse werden an freien Nervenenden registriert und dort von unterschiedlichen Nozizeptoren in elektrische Signale (Aktionspotentiale) umgewandelt. Die Weiterleitung der Aktionspotentiale ans zentrale Nervensystem (ZNS) erfolgt via myelinisierter, schnell leitender Aδ Fasern und via markloser, langsam leitender C Fasern. Die Nervenfasern und ihre Rezeptoren haben unterschiedliche Empfindlichkeitsschwellen, die durch entzündliche Prozesse modifiziert werden. Beim Herabsetzen der Reizschwelle kommt es zu einer Sensibilisierung der Nervenfaser und somit zur Hyperalgesie (übermässige Schmerzempfindlichkeit auf einen schmerzhaften Reiz) oder Allodynie (Schmerzempfindung auf einen Reiz, der üblicherweise keinen Schmerz verursacht). Weitere regulatorische Prozesse finden im Rückenmark an den Verbindungen zwischen den Nervenfasern statt (Synapsen), wo Geschwindigkeit und Intensität eines Schmerzreizes durch spezifische Neurotransmitter variiert werden. Die subjektive Schmerzerfahrung wird schliesslich im menschlichen Gehirn durch psychologische Einflüsse und weitere Reize beeinflusst. Schmerzen sind somit nicht nur das Resultat gewebeschädigender Einflüsse in der Peripherie, sondern werden durch ein komplexes Zusammenspiel neuroplastischer Vorgänge und psychologischer Einflüsse wahrgenommen. Dabei nehmen periphere und zentrale Sensibilisierungsprozesse wesentlichen Einfluss auf die Schmerzempfindung.

Dr. Konrad Maurer, Leiter der experimentellen Schmerzforschung am Institut für Anästhesiologie des Universitätsspitals Zürich (USZ), unterschied die drei verschiedenen Formen der nozizeptiven, entzündlichen und neuropathischen Schmerzen. Beim nozizeptiven Schmerz werden verschiedene Reize wie Hitze, Säure oder Gewebeverletzungen registriert. Beim entzündlichen Schmerz ist bereits eine Gewebeschädigung vorhanden und die Ausschüttung inflammatorischer Mediatoren beeinflusst die Schmerzempfindung. Bei neuropathischen Schmerzen besteht i. d. R. eine Diskrepanz zwischen dem Ausmass der Schädigung und der Schmerzempfindung. Sie treten im Mundbereich z.B. als Phantomschmerzen nach einer Nervendurchtrennung (Wurzelkanalbehandlung, Zahnextraktion) auf. Forscher berichten, dass in 7 bis 12 Prozent nach adäquat durchgeführter Wurzelkanalfüllung persistierende Schmerzen bestehen können. Überraschenderweise liegen die Zahlen bei Weisheitszahnextraktionen deutlich tiefer. In der Diskussion empfahl Dr. Ettlin zur Behandlung von lokal persistierenden Schmerzen die Injektion von einem Gemisch aus einem Lokalanästhetikum mit einem kristallinen Steroid (Kenacort 10mg/ml). Die Medikamentenapplikation kann im Abstand von ein bis zwei Wochen wiederholt werden. Bei eher diffuseren Schmerzen empfiehlt sich der Einsatz eines trizyklischen Antidepressivums in niedriger, langsam steigender  Dosierung (10mg bis 50mg).

Kopfschmerzen

Eine Zusammenfassung über die gängigsten Kopfweharten gab PD Dr. Peter Sandor, leitender Arzt der Neurologie am Kantonsspital Baden. Primäre Kopfschmerzsyndrome, die u.a. den ersten Ast des Trigeminus betreffen, können auf Grund der neuroanatomischen Konvergenz im Nucleus caudalis N. trigemini manchmal als Gesichtsschmerzen auftreten (Trigeminusast 2 und 3). Deshalb müssen sie immer auch als Differenzialdiagnosen bei Zahnschmerzen oder Schmerzen im Mundbereich in Betracht gezogen werden. Migräneattacken mit und ohne Aura oder anhaltende idiopathische Gesichtsschmerzen können sich zum Beispiel als Zahnschmerzen äussern, ohne dass eine Pathologie im Mundbereich vorliegt.

Sehr starke, einschiessende Gesichtsschmerzen von Sekundendauer treten bei einer Trigeminusneuralgie auf. Sie werden durch feinste Berührungen beim Sprechen, Essen oder Zähneputzen, aber auch durch Luftzug sowie Bewegungen der Gesichtsmuskulatur ausgelöst. Sie treten meist unilateral im Bereich des zweiten und dritten Trigeminusast und nur sehr selten im Bereich des ersten Astes auf. Ein ebenfalls äusserst starker, extrem schwer zu ertragender Kopfschmerz ist der Cluster Headache. Der Schmerz dauert i. d. R. zwischen 15 und 180 Minuten und kann sich infraorbital oder mandibulär lokalisieren. Bei rechtzeitiger Diagnose ist er zum Glück gut und effektiv behandelbar, wobei zur Akuttherapie Sauerstoff, intranasale Lidocainsprays und Triptane zum Einsatz kommen. Vorbeugend wirken Verapamil oder Prednisolon. Genaue Definitionen und Beschreibungen der einzelnen Kopfwehtypen lassen sich unter www.ihs-klassifikation.de finden.

Schmerzen im HNO-Bereich

Kopfschmerzen, insbesondere bei Migräne, können sich auch in den Bereich der Nase und der Nasennebenhöhlen projizieren und fälschlicherweise als Rhinitis oder Sinusitis diagnostiziert werden. Dr. Urs Lieberherr, HNO – Privatpraktiker und Belegarzt im Spital Limmattal in Schlieren und in der Zürcher Klinik im Park, erklärte, dass bei Migräne nasale Symptome wie Schwellung der Schleimhäute und Rhinorrhoe sowie in 80% der Fälle Sinusschmerzen auftreten können.

Für Schmerzen mit Ursprung im Nasen- und Nasennebenhöhlenbereich sind meistens Infekte wie akute Rhinosinusitiden oder akute Exazerbationen chronischer Entzündungen verantwortlich. Interessanterweise sind aber selbst bei polypösen Rhinosinusitiden und bei eitrigen, chronisch verlaufenden Infekten selten Schmerzen zu beobachten. Entsprechende CT-Befunde sollten deshalb nicht überbewertet und unabhängig von der Klinik als Indikation für ausgedehnte Behandlungen oder Operationen verwendet werden.

Schmerzen können zudem durch Barotraumata (pathologischer Über- oder Unterdruck in luftgefüllten Hohlräumen) und Mukosakontaktpunkte (Berührungspunkte zwischen den Nasenschleimhäuten)  provoziert werden. Indessen sind Mucozelen, Anfangsstadien von Tumoren oder Fremdkörper selten schmerzhaft.

PD Dr. Tobias Kleinjung, Leiter der Tinnitussprechstunde an der ORL Klinik des USZ, beleuchtete die Zusammenhänge zwischen Myoarthropathie und Tinnitus. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung haben einen Tinnitus (Ohrgeräusch), aber bei nur 0.5 Prozent besteht ein Leidensdruck mit Krankheitswert.

Tinnitus hat viele Gemeinsamkeiten mit Schmerzen, denn Tinnituspatienten leiden ebenfalls unter Schlafstörungen, sozialer Isolation, Angst und Konzentrationsbeeinträchtigungen. Ein akut auftretender Tinnitus sollte interdisziplinär abgeklärt werden, mitunter auch durch Zahnärzte. Diverse Studien haben nämlich gezeigt, dass Patienten mit einer MAP viel häufiger an einem Tinnitus leiden als Patienten ohne MAP. Ob eine MAP einen Tinnitus (oder umgekehrt) verursachen kann, ist bis heute allerdings noch nicht geklärt. Zahnärztliche Schienentherapien oder Physiotherapien der Kaumuskulatur und des Kiefergelenks führen in der Hälfte der Fälle zu einer Verbesserung oder sogar zu einer Remission des Tinnitus.

Bildgebende Verfahren

Wann welche bildgebenden Verfahren bei Schmerzpatienten durchgeführt werden sollen, diskutierte Dr. Ettlin mit Prof. Dr. Bernhard Schuknecht, Radiologe am Medizinisch Radiologischen Institut Zürich. Nur bei ausführlicher Anamnese, sorgfältigem klinischen Befund und richtiger Indikationsstellung liefert die Bildgebung entscheidende Zusatzinformationen. Ist die Diagnose auf Grund der Klinik bereits eindeutig, wie z.B. bei einer akuten Kieferklemme, braucht es keine Röntgenbilder. Bei langsam auftretenden Kiefergelenkssymptomen sowie bei schmerzhaftem Kiefergelenksknacken ist ein MRI sinnvoll und das Mittel der Wahl. Damit können maligne Geschehen ausgeschlossen oder mittels funktionellen Aufnahmen Diskopathien dargestellt werden. Eine Panoramaschichtaufnahme oder ein CT ist zur Darstellung des Kiefergelenks eher nicht zu empfehlen, weil der oftmals mitbeteiligte Diskus damit nicht dargestellt werden kann. Natürlich hat die Panoramaschichtaufnahme als Übersichtsaufnahme bei orofazialen Schmerzen und Kiefergelenksbeschwerden sowie zum Ausschluss odontogener und/oder ossärer Pathologien ihre Berechtigung.

Bei entsprechender klinischer Symptomatik ist ein MRI auch bei Reibegeräuschen im Kiefergelenk indiziert, um das Ausmass der entzündlichen arthrogenen Prozesse darzustellen (Ödem bzw. Ergussbildung). Liegt eine Trigeminusneuralgie vor, wird in jedem Fall ein MRI des Schädels durchgeführt. Einerseits müssen symptomatische Trigeminusneuralgien, verursacht z.B. durch Malignome, ausgeschlossen werden, und andererseits kann die neurovaskuläre „Konfliktzone“ im Bereich des Austrittspunkt des Nervus Trigeminus aus dem Hirnstamm dargestellt werden. In diesem Bereich kommt es bei der Trigeminusneuralgie zur Demyelinisierung des Nerves. Der enge Kontakt zu Blutgefässen (am häufigsten die Arteria cerebelli superior) führt zu Nerven-Irritationen und resultierenden Schmerzen.

Schmerzpsychologie

Dr. Christian Schopper, Ärztlicher Direktor und Chefarzt an der Psychosomatischen Klinik „Sonneneck“ in Badenweiler, referierte über das Konfliktpotential bei der Kommunikation mit Schmerzpatienten. Wichtig für den Therapieerfolg ist nebst akkurater Befunderhebung die Empathie mit den Patienten. Da diese stark mit der Kommunikation zusammenhängt, empfahl Dr. Schopper den Besuch einer Kommunikationsschulung. Denn gerade bei Schmerzpatienten, die häufig gereizt, niedergeschlagen und dünnhäutig in die Praxis kommen, sind verschiedene Kommunikationsstrategien für den Behandlungserfolg unabdingbar. Diese Patienten müssen aktiviert und aufgemuntert werden. Der behandelnde Arzt muss sie mit Ruhe und Humor begleiten und unterstützen.

Patienten mit chronischen Schmerzen können nicht nur mit Analgetika behandelt werden. Solchen Schmerzen liegt oft eine multikausale Ätiologie zugrunde, weshalb eine interdisziplinäre Behandlung nötig ist. Ein wichtiger Bestandteil davon ist die Schmerzpsychotherapie, die von Dr. Roberto Pirrotta, Oberarzt der Interdisziplinären Schmerzsprechstunde am Zentrum für Zahnmedizin Zürich und Psychiater am USZ, anhand eines eindrücklichen Fallbeispieles vorgestellt wurde. Eine langsame Chronifizierung des Schmerzes führt zuerst zu Kontrollverlust und Stress, später zu Angst, Schlafstörungen, Depressionen und u.U. gar zum Verlust der Arbeit oder der Familie. Bei chronischen Schmerzen beeinflussen emotionale, kognitive und soziale Aspekte das Schmerzerleben und ergeben so ein eigenes Krankheitsbild. Mit einer Schmerzpsychotherapie sollen die verschiedenen Schmerzmodulatoren dem Patienten aufgezeigt werden, damit es zu einer Änderung der Schmerzbewertung und zu einer Fokusverlagerung weg vom Schmerz kommen kann. Durch Biofeedbacks und Entspannungsverfahren können Stressabbau und Resourcenaktivierung erreicht sowie neue Lebensqualität gewonnen werden.

Dr. Corine Visscher, Physiotherapeutin und Assistenzprofessorin am Academic Centre of Dentistry in Amsterdam, stellte in ihrem Vortrag Therapiekonzepte bei Kiefergelenks- und Kaumuskulaturproblemen vor. Bei akuten und schmerzhaften anterioren Diskusverlagerungen ohne Reduktion (Kieferklemme) sowie bei anteriorer Luxation des Kiefergelenks (Kiefersperre) soll immer zuerst mit Aufklärung und entsprechender Physiotherapie begonnen werden. Erst bei Persistenz der Beschwerden müssen Schienentherapien oder chirurgische Eingriffe angewandt werden. Auch Muskelschmerzen bei Bruxismus sollten begleitend zur Schienentherapie physiotherapeutisch (Massage, Entspannungs- und Dehnungsübungen) behandelt werden.

Schmerzmedikamente

Last but not least gab Prof. Dr. André Aeschlimann, Chefarzt der Reha Klinik in Bad Zurzach und Titularprofessor der Universität Basel für Innere Medizin, einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Schmerzmittel.

Bei leichten, erträglichen Schmerzen ohne Entzündung ist das Mittel der Wahl Paracetamol. Die Dosierung beträgt max. viermal 1g/Tag bei Erwachsenen (bei Hepatopathie nur 2.5g/Tag). Paracetamol kann während der Schwangerschaft und Stillzeit verschrieben werden und ist mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) oder Codein kombinierbar. Paracetamol kann die Wirkung von Antikoagulantien steigern. Selten treten allergische Reaktionen auf (Atemnot, Quincke Ödem).

NSAR haben ihre Indikation bei mittelstarken bis starken Schmerzen mit entzündlichen Begleitsymptomen (z.B. Zahnschmerzen). Auf Grund der Nebenwirkungen sollten sie so kurz und niederdosiert wie möglich verabreicht werden. Prof. Aeschlimann empfahl, zuerst nur mit zwei Drittel der Maximaldosis zu starten. Häufig ist dies ausreichend, ansonsten hat man noch einen Drittel auf Reserve. NSAR können mit Paracetamol und Tramadol kombiniert werden, nicht aber mit Aspirin oder einem zweiten NSAR (v.a. nicht mit Ibuprofen und Naproxen). Kontraindikationen für NSAR sind Schwangerschaft (im 1. Trimenon gemäss neusten Studien nur im Notfall, ab der 30. Woche sicher obsolet), Allergien, Antikoagulation (wird durch NSAR erhöht) und Magenulzera. Bei Risikofaktoren für gastrointestinale Probleme (Alkohol, Zigaretten, Helicobacter pylory Infektion, Alter über 60, Co-Medikation mit Steroiden) sollte zusätzlich ein Protonenpumpenhemmer verschrieben werden.

Opioide werden bei mittel- bis starken akuten und chronischen Schmerzen verwendet. Vorsicht geboten ist bei hohem Alter (Schwindel, Obstipation) und einer Suchtanamnese, kontraindiziert sind Opioide bei Schwangerschaft, wie übrigens auch Novalgin®. Bei starken Schmerzen mit Entzündung sollte während einer Schwangerschaft auf  Paracetamol (max. 4g/Tag) und ein Corticosteroid (5 bis 10mg/Tag) ausgewichen werden. Bei chronischen Schmerzen kann ein niedrig dosiertes trizyklisches Antidepressivum verwendet werden. Das immer noch häufig verwendete Mefenacid ist schon seit längerem in Verruf geraten und würde unter den heute geltenden Medikamentenzulassungsbestimmungen wegen der relativen Nephrotoxizität wohl kaum mehr zugelassen werden.

Abgerundet wurden die lehrreichen Vorträge mit Workshops, in denen einzelne Referenten zu ausgewählten Themen Rede und Antwort standen. An Hand von Fallbeispielen wurde das komplexe Thema der orofazialen Schmerzen vertieft und in Live-Demonstrationen Biofeedback- und Hypnoseverfahren vorgestellt.

Dem Schmerz Update 2012 für Ärzte und Zahnärzte wurde mit dem Klavierkonzert von See Siang Wong, Pianist und Musiklehrer an der Zürcher Hochschule der Künste, ein kultureller und würdiger Abschluss gegeben.

zumstein dental academy gmbh

CH-6003 Luzern

Tel.: +41 41 249 30 55

info@zumstein-dental-academy.ch

www.zumstein-dental-academy.ch

Mehr News aus Branchenmeldungen

ePaper