Implantologie 23.01.2014
Erhöhung des Alveolarkammes mit Distraktionsosteogenese
share
Um Patienten dauerhaft und erfolgreich mit Implantaten prothetisch versorgen zu können, bedarf es unter anderem eines ausreichend dimensionierten, periimplantären knöchernen Volumens. Eine große Herausforderung in der augmentativen Chirurgie ist die absolute vertikale Erhöhung des Alveolarkammes. Es wird eine neue Methode der Distraktionsosteogenese vorgestellt, die einen höheren Patientenkomfort aufweist als herkömmliche Systeme.
Der zahnlose Alveolarkamm kann ein Knochendefizit aufweisen, das unvorteilhaft für das Setzen von Implantaten ist. Dieses Mindervolumen kann das Positionieren von Implantaten in der idealen Position verhindern oder erschweren und damit ästhetische sowie prothetische Beeinträchtigungen verursachen.1 Zusätzlich können dann oft nur Implantate mit ungenügender Länge gesetzt werden. Dies kann in ein Missverhältnis zwischen Implantat- und Kronenlänge resultieren.2 Es existieren zahlreiche Verfahren, den Alveolarkamm in der vertikalen Dimension zu erhöhen. Zum einen kann die Augmentation durch Auflagerung von autologen Knochentransplantaten oder Knochenersatzmaterialien erfolgen, zum anderen durch die Distraktionsosteogenese. Dieses augmentative Verfahren ist bereits seit den 1970er-Jahren in der Unfallchirurgie und Orthopädie bekannt3 und von McCarthy für die konstruktive Gesichtschirurgie seit den 1990er-Jahren systematisch erforscht worden.4
Die Distraktionsosteogenese
Definiert wird die Distraktionsosteogenese als die Schaffung von neugeformtem Knochen samt angrenzendem Weichgewebe durch eine kontrollierte und sukzessive Verlagerung eines Knochensegments. Dieses Knochensegment wird zuvor chirurgisch osteotomiert und mittels eines fixierten Distraktors anschließend von seinem Ursprungsort verlagert.5 Die Vorteile der Distraktionsosteogenese sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Zwischen bewegtem Knochensegment und Ursprungsort bildet sich ein Kallus, der mithilfe des Distraktors relativ gleichmäßig ca. 1 Millimeter pro Tag distrahiert werden kann. Der Kallus wird also auseinandergezogen, in der Distraktionsstrecke bildet sich neuer Knochen.6 Dieser Vorgang lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. In der Latenzphase, von OP-Beginn bis zum Beginn der Distraktion, bildet sich ein weicher Kallus. Dieser Zeitabschnitt dauert bis zu sieben Tage. Anschließend folgt die Distraktionsphase, also die Zeit der aktiven Distraktion. In der Konsolidierungsphase, die sechs bis zwölf Wochen dauert, reift und verknöchert der Knochen.5,7,8 Die Ernährung des distrahierten Segmentes erfolgt über das bedeckende Periost bzw. Mukosa (als „gestieltes“ Transplantat).9 Herkömmliche Methoden zur Distraktion haben in der Implantologie einen eher niedrigen Stellenwert. Der Patientenkomfort ist recht gering, die Systeme weisen hygienisch bedenkliche Zonen auf. Im Frontbereich liegen meist unbefriedigende Lösungen während der Distraktionsphase vor. Der Distraktionsvektor ist oft schwer zu sichern, was zu einem Kippen des Knochensegments führen kann.10 Genau hier setzt das verwendete Distraktionssystem (Zepf Medizintechnik GmbH) an. Es erfolgt die Integration des Distraktors in einer provisorischen festsitzenden Prothetik. Der Halt dieser provisorischen Brücke erfolgt entweder auf eine vorhandene Restbezahnung oder mithilfe von Hilfsimplantaten. Die provisorische Distraktionsbrücke ermöglicht eine ästhetische Versorgung während der Distraktionsphase. Besonders beim Einsatz im Oberkiefer-Frontzahnbereich wird eine ästhetisch ansprechende Lösung erreicht. Der Distraktionsapparat wird dabei unter der festsitzenden Brücke versteckt. Weichgewebe und Periost „wachsen“ darunter mit. Zusätzlich ist die Kaufunktion und Okklusion während der Distraktionsperiode im Seitenzahngebiet möglich. Außerdem wird die Koordination der Zungen- und Kaumuskulatur gesichert. Abbildungen 1 bis 5 zeigen eine Distraktionsosteogenese mit dem beschriebenen System im Unterkiefer-Seitenzahnbereich. Zehn Jahre nach Distraktion herrschen stabile knöcherne Verhältnisse ohne Anzeichen einer Resorption. Abbildungen 6 bis 11 zeigen dagegen den Unterschied zwischen einem herkömmlichen Distraktionssystem und dem hier verwendeten System. Zu beachten sind gerade im ästhetischen Bereich die Möglichkeiten der provisorischen Befestigung von festsitzender Prothetik.
Operatives Vorgehen
Die prothetische Hilfskonstruktion, die Schablone, entweder nur justiert am Restzahnbestand oder unter Verwendung von zusätzlichen Hilfsimplantaten, muss vor dem Eingriff auf ihre Passgenauigkeit am Patienten geprüft werden, damit postoperativ die Position der Distraktorbuchse bei der Abformung sicher festgehalten werden kann. Der operative Eingriff erfolgt unter Lokal- bzw. Leitungsanästhesie. Die Lappenpräparation entsteht nach den anatomischen Gegebenheiten (Abb. 12). Beim hier verwendeten System ist auch ein Alveolarkammschnitt möglich, wenn die Freipräparation des Periosts im Bereich des zu distrahierenden Knochensegments erfolgt. Anschließend wird auf dem Alveolarkamm das Periost durchtrennt und der Knochen lingual und vestibulär freigelegt; gerade so weit, dass die angedachte horizontale Osteotomiestelle zugänglich ist. Jetzt erfolgt die Markierung der horizontalen Osteotomielinie mit einem feinen Rosenbohrer (Abb. 13). Danach werden die kranial verlaufenden Osteotomien mit der oszillieren- den Säge oder mit einem Piezogerät vorgenommen (Abb. 14 und 15). Es ist darauf zu achten, dass die senkrechten Osteotomien schräg lateral nach koronal konisch angelegt werden, damit das Segment frei nach koronal bewegt werden kann. Das zu distrahierende Knochenstück soll nicht vollständig gelöst werden, damit die Distraktorbuchse unter Anwendung der Bohrschablonen exakt an der vorbestimmten Stelle platziert werden kann. Nach Einsetzen der Bohrschablone mit Hülse zur Einhaltung des Distraktionsvektors (Abb. 16) erfolgt die Vorkörnung (Abb. 17) und die Bohrung für den Distraktoranker (Abb. 18 und 19). Nach Positionierung des Distraktors (Abb. 20 und 21) löst der Operateur das Knochenstück mit einem Meißel, bis es frei beweglich wird. Mit einer resorbierbaren Naht wird lingual das vestibuläre Periost mit Rückstichnähten fixiert. Die Schleimhaut wird zurückgelegt und vestibulär mit Einzelknopfnähten fixiert. Anschließend erfolgt die Übertragung der Position des Distraktorankers für das zahntechnische Labor zur Fixierung der Stellung und Achsrichtung des Distraktors. Dafür wird ein Übertragungspfosten in die modifizierte Bohrschablone polymerisiert (Abb. 22 bis 24). Der Zahntechniker stellt nun das Provisorium im Labor her, in welchem die Distraktorschraube integriert ist (Abb. 25a und b). Zwischenzeitlich wird der Distraktoranker mit einer Einheilungskappe versehen. In der Regel ist die zahntechnische Herstellung in drei bis sieben Tagen zu bewerkstelligen. Ab diesem Zeitpunkt kann mit der Distraktion begonnen werden (Abb. 26). Abbildung 11a und b veranschaulichen in diesem Fall den Ablauf der Distraktion von zwei Wochen (ca. 1 mm pro Tag) mit einer Retentionszeit von drei Monaten. Zwischenzeitlich muss eine Kürzung des Distraktorprovisoriums erfolgen (Abb. 27). Nach Entfernung des Distraktors zeigt sich ein gutes Knochenangebot bei gleichzeitiger ausgezeichneter Weichgewebssituation (Abb. 28). In diesem Fall wurden zwei Implantate inseriert, wobei gleich zeitig noch ein Bone Splitting durchgeführt werden musste (Abb. 29). Nach 20 Monaten zeigt sich sowohl röntgenologisch (Abb. 30) als auch klinisch (Abb. 31) ein stabiles und ästhetisch zufriedenstellendes Ergebnis der alio loco angefertigten Einzelkronen (Abb. 32).
Mögliche Komplikationen
Obwohl die Distraktionsosteogenese zahlreiche Vorteile aufweist, können diverse Komplikationen auftreten, die das Ergebnis negativ beeinflussen können. Dazu zählen postoperative Hypästhesien des N. mentalis, die aber durch schonende Operationstechniken verhindert werden können. Resorptionen bis zu 20 % und mehr werden beschrieben.11 Eine leichte Überaugmentation sollte vorher berücksichtigt werden sowie eine längere Konsolidierungsphase von mindestens drei Monaten.12 Mit dem vorgestellten Distraktionssystem stellt diese Zeit für den Patienten kein Problem dar, da ein komfortabler festsitzender Zahnersatz eingegliedert ist. Möglich sind weiterhin eine schwierige Kontrolle des Knochensegmentes während der Distraktion, ein Bruch des basalen Knochens oder des transportierenden Segments bei falschem Kraftvektor, oder gar ein Bruch des Distraktors ist denkbar.13 Das zu distrahierende Segment muss eine gewisse Mindesthöhe aufweisen, um eine Minderperfusion und damit die Gefahr einer resultierenden Nekrose zu minimieren.14,15 Der Patient muss über die Tatsache aufgeklärt werden, dass eventuell die Notwendigkeit einer weiteren Augmentation besteht, vor allem in Form einer lateralen Augmentation (z.B. Bone Splitting).13 Auftretende Komplikationen lassen sich mit einfachen Behandlungsmaßnahmen beheben.16 –18 Insgesamt bestehen geringe Komplikationsraten, die sich durch eine zügige und schonende Operation minimieren lassen.
Fazit
Die Distraktionsosteogenese ist eine effektive Technik mit einer hohen Implantatüberlebensrate.9,16,19 Für die Dauer der Distraktion wird die Kaufunktion und Okklusion gesichert. Durch die Integration des Distraktors in eine festsitzende provisorische Prothetik wird die Distraktionsosteogenese auch im ästhetischen Bereich problemlos möglich.
Autoren: Dr. Phillip Wallowy, Dr. Ullrich Jeggle, Dr. Frank Kehrer
Die Literaturliste finden Sie hier.