Kieferorthopädie 14.03.2022

Der prä-adjustierte 4D Michigan Splint bei craniomandibulärer Dysfunktion



Der prä-adjustierte 4D Michigan Splint bei craniomandibulärer Dysfunktion

Foto: Dr. Joachim Weber

Bekanntermaßen ist die craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) eine ubiquitäre Erscheinung mit vielen Einflussfaktoren. Neben anatomischen und morphologischen Rahmenbedingungen können beispielsweise Stressverarbeitung oder Haltungsprobleme eine wichtige Rolle spielen. Bereits in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Universität Michigan (USA) ausführlich den therapeutischen Maßnahmen im zahnärztlichen Bereich gewidmet. Resultat ist der bis heute genutzte Begriff der „Michigan-Schiene“ als Entlastungsschiene. Aufgrund der Breite des Spektrums finden parallel jedoch viele Derivate, Modifikationen sowie Neuentwicklungen in diesem Bereich ihre berechtigte Anwendung.

Seit jeher ist die Herstellung dieser Schienen ein filigraner Prozess zwischen Therapeuten, Zahntechnikern und Patienten. Dabei bergen die damit verknüpften Arbeitsschritte eine Vielzahl von Fehlerquellen. So erfordern die patientenseitige Eingewöhnung und die damit verbundene Integration in dessen Tagesablauf sowie die Adaptation während der ersten therapeutischen Schritte (z. B. Physiotherapie, Medikation, Orthopädie etc.) viele Arbeitsschritte, bis letztlich die angestrebte stabile Therapieposition erreicht ist. Es ist daher nur verständlich, dass dieser Aufwand hohe Kosten nach sich zieht. Sind dann später therapeutische Änderungen oder gar Neuanpassungen erforderlich, stoßen diese beim Patienten auf wenig Gegenliebe. Schließlich ist auf Therapeutenseite ein erneuter Zeitaufwand notwendig, der zusätzliche Kosten nach sich zieht. Die Wünsche hinsichtlich einer kostengünstigen Schienenproduktion fließen daher mit der Option, in einem digitalen Workflow einfache Arbeitsschritte zur Verfügung zu haben, zusammen.

So kann es zum Beispiel – insbesondere bei Tätigkeit mehrerer Therapeuten – wünschenswert sein, die Schienen im Verlauf zu wechseln, anzupassen oder gar für verschiedene Aktivitäten auch entsprechend verschiedene Entlastungsschienen bereithalten zu können. Als typisches Beispiel hierfür sei die Sportschiene als Ersatz neben der nächtlichen Michigan-Schiene genannt. Diese dann auf Knopfdruck aus bereits bestehenden Daten erzeugen zu können, erscheint dabei nur als einer von vielen weiteren Vorteilen des digitalen Workflows. 

Digitaler Workflow

Ein digitaler Workflow zur Herstellung einer CMD-Entlastungsschiene ist keinesfalls neu und bereits mehrfach beschrieben worden. Eine in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Erweiterung stellt jedoch ein neues Feature der Planungssoftware OnyxCeph™ (Fa. Image Instruments) dar. Dieses fügt dem Schienenkonzept eine vierte Dimension hinzu. Dabei wird die Dynamik der individuellen Patientenbewegungen im digitalen Workflow als Front-Eckzahn-Führung virtuell „eingefräst“. Derartige Schienen bezeichnen wir als prä-adjustierten 4D Michigan Splint (P4M). Im Folgenden soll dieser Workflow entsprechend der digitalen Einzelschritte dargestellt werden.

Diagnose

Unsere Diagnose hinsichtlich CMD stellen wir gewebespezifisch anhand der pathologischen Strukturen mithilfe der manuellen Strukturanalyse (MSA) nach Professor Bumann. Bereits hier setzen wir mit der Software CMD Professional Light (Fa. medondo, Abb. 1 und 2) auf den digitalen Workflow auf. Alle Befunde werden hierbei in einer cloudbasierten Software erfasst, wodurch sie jederzeit mit anderen Therapeuten sowie den Patienten teilbar sind.

Der Software-Hersteller bietet in diesem Zusammenhang sowohl eine Patienten-App als auch eine „Überweiser-App“ (in Kürze verfügbar) an. Befindet sich der Patient also bei mehreren Therapeuten gleichzeitig in Behandlung, ist über diese digitalen Wege eine asynchrone Kommunikation möglich.

Besonderheiten bei der Digitalisierung von Zähnen und Biss

Ergibt sich aus dem MSA-Befund und der daraus resultierenden Diagnose die Notwendigkeit für den therapeutischen Einsatz einer P4M-Entlastungsschiene mit dynamischer Okklusionsoberfläche, so folgt im nächsten Prozessschritt die morphologische Datenakquise. Dies geschieht bei uns zunächst mit Tools aus dem Hause Carestream Dental. Die Modellsituation kann dabei auf zwei Wegen in den digitalen Workflow einfließen. Ist bereits ein physikalisches Modell (z. B. Gipsmodell) vorhanden, so wird dieses bei uns mit dem DVT CS 9300 digital gescannt. Bei Patienten im kompletten digitalen Workflow erfolgt die Aufnahme der Zahnbögen über den Intraoralscanner CS 3800.

Während bei den Gipsmodellen die Okklusion händisch eingestellt wird, erweist es sich beim intraoralen Scannen als ein großer Vorteil, dass Bissnahmen mithilfe des Scanners erfolgen können. Dies ist für die Herstellung einer präzisen P4M-Entlastungsschiene dringend zu empfehlen.

Bereits hier ist zu beachten, dass später alle Daten in OnyxCeph zur Berechnung der Schiene zusammengeführt werden müssen. Da eine habituelle Okklusion nicht unbedingt eineindeutig stabil sein muss (z. B. „Freedom in Zentrik“), nehmen wir schon an dieser Stelle einen kleinen Fixierungsbiss (Abb. 3). Dafür geeignet ist beispielsweise ein Registratsilikon, welches bei maximaler Interkuspidation in die Zahnzwischenräume okklusal eingebracht werden muss. Der daraus resultierende Fixierungsbiss darf allerdings den Zusammenbiss nicht stören. Das heißt, ein maximaler Zahnkontakt ist weiterhin erforderlich. Der Biss muss aber auch so dimensioniert sein, dass er später das Anbringen eines paraokklusalen Löffels noch erlaubt.

Ein besonderer, zusätzlicher Scan muss zur späteren Kopplung des Oberkiefers mit dem Kieferregistriersystem JMA-Optic (Fa. zebris Medical) durchgeführt werden (Abb. 4). Hierzu werden einige Zähne des Oberkiefers mithilfe eines aufgesetzten Kopplungslöffels mit geometrischen Referenzpunkten gescannt. Nun kann in der Software CS ScanFlow (Fa. Carestream Dental) im Rahmen der Bissnahme auf verschiedene Situationen Rücksicht genommen werden.

Zum späteren „Matchen“ der Daten in OnyxCeph wird in jedem Fall eine Bissnahme mit dem Fixierungsbiss hergestellt. Gleichzeitig sind aber auch Bisse in verschiedenen anderen Bisslagen registrierbar („Sundaybite“, „Freedom in Zentrik“ oder kieferorthopädischer Konstruktionsbiss, Abb. 5–7).

Diese Bissnahmen ordnet Carestream Dental folgendermaßen zu: Zu einem feststehenden Oberkiefermodell werden mehrere Unterkiefermodelle erzeugt. Öffnet man den Oberkiefer mit einem dieser Unterkiefermodelle in einer entsprechenden 3D-Software, so ist der Unterkiefer bereits im damit genommenen Biss zugeordnet. Entsprechend sollte im Rahmen der Benennung der Dateien darauf geachtet werden, dass bei der späteren Schienenberechnung klar ist, welches Modellpaar den Fixierungsbiss zum Matchen enthält. Alle weiteren Modelle dienen der diagnostischen Planung und späteren Rekapitulation des Falles (Dokumentation).

Röntgen und MRT

Sofern erforderlich, kann in die Gesamtplanung auch eine digitale Volumentomografie oder eine Magnetresonanztomografie miteingebunden und gematcht werden. Dies geschieht bei uns in den betroffenen Fällen mithilfe des CS 9300. Um identische Situationen für das Matchen zu erhalten, ist es auch hier erforderlich, das DVT oder MRT mit dem oben beschriebenen Fixierungsbiss zu akquirieren.

Bewegungsdynamik erfassen

Zur Herstellung einer an die Patientendynamik angepassten Oberfläche auf der P4M-Entlastungsschiene ist es erforderlich, diese Bewegungsdynamik des Patienten aufzunehmen. Wir nutzen hier das System JMA-Optic von zebris (Abb. 8–10). Werden im üblichen Ablauf die dynamischen Daten mithilfe von zebris erfasst, so ist auch hier darauf zu achten, dass während der Aufnahme die Situation des Fixierungsbisses als Nullung miterfasst wird.

zebris erlaubt in seiner Software zur Datenerfassung, die Art und Häufigkeit der Bewegungen selbst festzulegen. Es empfiehlt sich also, einen Aufnahmepunkt „Fixierungsbiss“ den Daten hinzuzufügen. Auch dieser dient dem späteren Matchen der Daten in OnyxCeph. Bei der Datenakquise ist zudem eine Registrierung des Oberkiefer-Kopplungslöffels nötig. Er verknüpft die Oberkieferrelation beim Matchen mit der zuvor im Scan genommenen Oberkieferlage.

Virtuelle P4M-Schienenplanung

Nun liegen alle erforderlichen Daten im Rohformat vor: statische dentale und skelettale Zuordnung, die Bewegungsdynamik und die daraus errechnete Scharnierachsenposition des Patienten. Alle Daten können nun in OnyxCeph importiert werden. Zunächst sind die Daten dort entsprechend vorzubereiten und zu matchen. Wurde bei der Datenakquise darauf geachtet, bei allen Verfahren den Fixierungsbiss zu verwenden, stellt diese Position den Nullpunkt aller Systeme dar. Das heißt, alle Daten werden bei gleicher Ausgangshaltung zusammengeführt.

Aus den zebris-Daten kann nun eine Bisshöhe für die zu berechnende Schiene festgelegt werden. Hierzu wird ein geeigneter Datenpunkt aus der zebris-Datenwolke gewählt. Sämtliche aufgenommenen Bewegungspunkte können jetzt anhand der gemachten Modelle visuell auf ihre Eignung hin überprüft werden. Zu dieser Höhe passend kann dann eine Bewegungsdynamik hinsichtlich Laterotrusion und Protrusion zugeordnet werden (Abb. 11 und 12).

Mithilfe dieser Daten arbeitet OnyxCeph nun als virtuelle Fräseinheit (Abb. 13). Aus einem virtuellen Grundkörper wird mittels der Bewegungsbahnen die Schiene virtuell „eingeschliffen“. Dies kann dann vom Zahntechniker bei Bedarf noch virtuell geglättet und nachbereitet werden.

Auch die spätere Friktion auf dem schienentragenden Kiefer ist zu berücksichtigen. Hierzu erlaubt die Software, Unterschnitte herauszurechnen und auch einen virtuellen Platzhalter unterzuziehen. Die notwendige Dimension dieses Platzhalters ergibt sich aus den individuellen Zahnangulationen, Unterschnitten etc., also der anatomischen Situation beim Patienten. Die Software liefert hier schon gute Mittelwerte. An dieser Stelle ist trotz allem ein gewisser klinischer Erfahrungswert erforderlich, um später weder zu stramme noch zu lockere Schienen zu erhalten. Für den Anfänger ist es empfehlenswert, zunächst mit einem strammen Sitz zu beginnen, als zu schnell zu lockere Schienen zu erzeugen.

Schienenausgabe durch 3D-Druck

Der fertig berechnete P4M-Schienenkörper wird schlussendlich als druck- oder fräsbares STL-File ausgegeben. Wir drucken direkt mithilfe geeigneter Materialien, wie beispielsweise KeySplint Soft™ (Keystone Industries, Abb. 14 und 15). Unser Drucksystem SprintRay Pro (Fa. SprintRay) produziert die P4M-Schiene in circa einer Stunde. Die praxisinternen Abläufe erlauben bei entsprechender Vorplanung, den gesamten Prozess innerhalb von etwa zwei bis drei Stunden durchzuführen. Insofern ist es durchaus denkbar, Patienten in einem einzigen Termin zu versorgen (Abb. 16).

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass integrierte digitale Workflows tatsächlich zu besseren Produkten führen können. Gerade das Beispiel des Michigan Splints zeigt den Wandel weg von einem leidigen, arbeitsintensiven Arbeitsablauf hin zu einem einfachen und kalkulierbaren Workflow.

Zugleich ist zu sehen, dass dies nur möglich ist, wenn Händler wie Hersteller bereit sind, über offene Schnittstellen die Kommunikation zwischen verschiedenen Softwareprodukten zuzulassen. Dies erlaubt, neue Ideen aus Teilbausteinen zu erstellen und zu implementieren.

Möge der dargestellte Ablauf Ihnen also Hilfe im Alltag sein, zugleich aber auch Inspiration für die Suche nach neuen kreativen digitalen Workflows.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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