Branchenmeldungen 02.12.2024
Das Ziel: Eine enkeltaugliche Nachhaltigkeit
share
Kaum ein Wort ist derart im Umlauf und dabei zugleich schwer greifbar wie das Wort „Nachhaltigkeit“. Grund genug, bei dem ausgewiesenen Sustainability-Experten Prof. Dr. Christian Berg nachzufragen, was er darunter versteht.
Herr Prof. Dr. Berg, was bedeutet Nachhaltigkeit im Kern für Sie und welche „Lesart“ möchten Sie anderen vermitteln?
Enkeltauglich – das ist die prägnanteste Form. Welche Welt wollen wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen? Das beinhaltet eigentlich alles, was dazugehört: eine lebenswerte Welt mit einer intakten Natur, in der die unglaubliche Vielfalt natürlicher Lebensformen erhalten bleibt; eine Gesellschaft, in der jede und jeder ein gutes Leben in Frieden und Freiheit führen und eigene Potenziale entfalten kann, mit stabilen Institutionen in einem Rechtsstaat, der Erwartungssicherheit gibt und einem gesellschaftlichen Miteinander, das von gegenseitigem Respekt, Fürsorge für die Schwachen und einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten geprägt ist. Schon bei dieser Aufzählung merkt man, wie weit wir davon gegenwärtig entfernt sind. Aber sich dafür zu engagieren lohnt sich. Es gibt dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung, auch wenn man selbst vielleicht keine Kinder hat.
Es heißt, Veränderung beginnt immer im Kleinen – welche Handlungsempfehlungen können Sie (Zahn-)Medizinern geben, die nachhaltig mit Ressourcen umgehen möchten?
Zunächst halte ich es für wichtig, sich der Herausforderungen, der Komplexität der Zusammenhänge und des Bedarfs an integrierten, umfassenden Lösungen bewusst zu werden. Und dann gilt es, ganz konkret zu werden. In Ihrem Fall kann das zum Beispiel heißen: Als Zahnmediziner sehen Sie täglich buchstäblich, dass der Mensch ist, was er isst … Ernährung ist einer der wichtigsten Einflussfaktoren nicht nur für die persönliche Gesundheit, sondern auch für die Gesundheit des Planeten. Natürlich sollen sich Zahnmediziner bewusst sein, dass die eigene Macht nicht missbraucht werden darf, und natürlich soll niemand seine Patienten indoktrinieren. Aber ich halte es nicht nur für legitim, sondern für geboten, auf den wichtigen Einfluss der Ernährung hinzuweisen. Viele hoch prozessierte, viel Zucker und Salz enthaltende Lebensmittel sind weder gut für die eigene Gesundheit noch gut für den Planeten. Daneben gibt es natürlich auch im täglichen Praxis- oder Klinikbetrieb vieles, was man tun kann. Speziell bei Narkosen ist es zum Beispiel wichtig, sich der extrem klimaschädlichen Wirkung der inhalativen Anästhetika bewusst zu sein. In der Humanmedizin machen alleine diese sehr kleinen Mengen mehr als ein Drittel(!) der gesamten direkten Emissionen einer Klinik aus! Hier gibt es mittlerweile Möglichkeiten, diese Schäden abzumildern, sei es durch entsprechende Anästhetikaauswahl, durch Rückgewinnung der Atemluft oder auch Verringerung der Sauerstoffzufuhr.
Der Titel Ihres Buches fragt „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ – ohne vor der Lektüre zu viel zu verraten, welche Antwort geben Sie auf diese Frage?
Wie das Thema selbst, so ist auch meine Antwort auf diese Frage vielschichtig. Einerseits kann man angesichts der immensen Herausforderungen und sehr mühsamen Fortschritte manchmal schon denken, dass das Ideal einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung völlig unerreichbar, illusorisch, utopisch ist. Andererseits ist eine Utopie, wie der Historiker Nipperdey einmal gesagt hat, der Ent-wurf einer Welt, die institutionell so geordnet ist, dass den Menschen ihr Leben darin gelingen kann. Die Utopie entwirft ein Bild einer positiven Zukunft, das ganz bewusst die gegenwärtigen Möglichkeiten übersteigt. Insofern ist die Utopie der Nachhaltigkeit wohl wichtiger denn je.
Dieser Beitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.