Branchenmeldungen 17.09.2024
„Die Versorgung wird durch die ePA nicht besser“
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Die ePA für alle kommt – auch wenn viele Fragen offen sind. Kritiker befürchten, dass hochsensible Gesundheitsdaten nicht ausreichend geschützt sind. Einer von ihnen ist der Münchner Psychiater und Psychotherapeut Dr. Andreas Meißner. Er sieht durch die ePA die ärztliche Schweigepflicht gefährdet. Wir sprachen mit ihm darüber, wie es auch in Zeiten von Internet, Clouds und KI noch eine „Humanmedizin“ im besten Wortsinn geben könnte.
Ihr Buch „Die elektronische Patientenakte – Das Ende der Schweigepflicht“ ist ein ziemlicher Paukenschlag. Hat Herr Lauterbach schon ein Exemplar erhalten?
Von mir nicht. Aber ich nehme schon an, dass es im Ministerium wahrgenommen wurde.
Die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach lässt sich in Skandinavien zeigen, wie man ein Gesundheitssystem digitalisiert. Sind wir wirklich ein digitales Entwicklungsland?
In Zeiten von Hitze, Rohstoffknappheit, geopolitischen Unsicherheiten und täglichen Cyberangriffen selbst auf gut gesicherte Server ist die Frage, welche Länder auf lange Sicht resilienter sein werden. Eventuell nicht die, die ihre kritische Infrastruktur komplett ins Internet verlegt haben. Natürlich ist Digitalisierung sinnvoll, wenn sie Abläufe vereinfacht, einen Mehrwert möglichst ohne Mehraufwand bietet und die Nutzer mitnimmt. Da kann Deutschland sicher noch aufholen. All das ist aber bei der ePA, E-Rezept und eAU nicht gegeben. Hier werden bisher einfache Papierprozesse durch umständliche Digitalprozesse ersetzt.
Wie beurteilen Sie als nieder-gelassener Arzt generell die „Performance“ der gematik? Es kommt ja häufig zu Störungen und Ausfällen bei der Telematik-Infrastruktur (TI).
Komplexe Technik führt zu Störanfälligkeit. Und damit auch zu Abhängigkeiten von Spezialisten. Überforderte Hotlines sind die Folge. Den Fachkräftemangel gibt es auch im IT-Bereich. All das wird auch die gematik nicht vollständig verhindern können. Wenn man allein bedenkt, wie viele Kliniken, Apotheken und Praxen an der TI hängen, oft mit völlig unterschiedlichen IT-Voraussetzungen. Durch meinen Nichtanschluss an die TI ist mir da vieles an Zeit, Geld und Nerven erspart geblieben, trotz Honorarabzug.
Liegt das vielleicht auch daran, dass die gematik ein halbstaatliches Unternehmen ist? Hätte man den Aufbau einer digitalen Infrastruktur privaten Firmen überlassen sollen?
Das vermag ich nicht zu beurteilen, dafür bin ich zu wenig IT-fachkundig. Grundsätzlich war es schon richtig, dass in der gematik auch die Beteiligten mitreden konnten, wenngleich das Einigungen erschwert hat. Seit der 51-prozentigen Verstaatlichung durch Jens Spahn und jetzt komplett durch Karl Lauterbach wird jedoch über unsere Köpfe hinweg entschieden. Private Firmen hätten hier vielleicht eher kundenfreundliche Angebote für uns als Nutzer in den Praxen gemacht.
Karl Lauterbach will die gematik zur Digitalagentur mit hoheitlichen Befugnissen ausbauen. Für Sie ist das wahrscheinlich ein Horrorszenario …
Ein Horrorszenario ist es vor allem, dass das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und die Bundesdatenschutzbeauftragte mit Neuerungen nicht mehr einverstanden sein müssen, sondern nur noch „ins Benehmen“ zu setzen sind. Ulrich Kelber (Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit bis Juli 2024, Anm. d. Red.) hatte gegen Ende seiner Amtszeit die Herabsetzung von Sicherheitsstandards bei der ePA kritisiert. Im Übrigen auch die Opt-out-Lösung. So meinte er, durch die Widerspruchslösung werde Misstrauen gegen Patientinnen und Patienten ausgestrahlt, offenbar hätte man die ePA wohl bisher nicht gut genug genutzt, also müsse man jetzt wohl zu seinem Glück gezwungen werden. Insgesamt ist natürlich schon zu befürchten, dass mithilfe der geplanten Digitalagentur nun „durchregiert“ wird, wie eigentlich schon in den letzten Jahren. Verloren gegangenes Vertrauen wird man so nicht wieder aufbauen können.
Warum ist die ärztliche Schweigepflicht durch die ePA gefährdet?
Wenn Patientinnen und Patienten automatisch eine ePA eingerichtet bekommen und hier von Technik und Widerspruchsmöglichkeiten meist überfordert sind, wenn dann noch Behandelnde zur Befüllung der ePA verpflichtet sind, wenn weiter diese Daten dafür bald automatisiert aus dem Praxissystem in die ePA übernommen werden sollen, wenn dann diese Daten – nur pseudonymisiert, also nur Name durch Nummer ersetzt – ebenso automatisch an Forschung und Europäischen Gesundheitsdatenraum weitergeleitet werden, ist die Schweigepflicht tatsächlich erheblich gefährdet. Sie ist komplett zerstört, wenn dann noch KI die Praxisgespräche aufnimmt, zeitgleich in strukturierte Daten umwandelt und in die ePA wie auch an die Forschung weiterleitet, wovon Lauterbach bereits gesprochen hat.
Sind Sie für dieses Thema besonders sensibilisiert, weil Sie beruflich mit psychischen Erkrankungen zu tun haben?
Ja. Wobei es hier nicht nur um die Schweigepflicht bei besonders sensiblen Krankheitsdaten geht, sondern auch darum, dass die Neuerungen komplett an den Bedürfnissen sehr vieler Patientinnen und Patienten vorbeigehen. Die haben andere Sorgen, etwa bald keinen behandelnden Arzt mehr zu finden. Bei mir hatte in den letzten Jahren jedenfalls niemand nach der ePA nachgefragt. Die Versorgung wird durch die ePA nicht besser. Die Milliarden für die teure IT und TI wären woanders besser investiert, man denke nur an Pflegenotstand, Ärztemangel oder Kliniken- und Apothekensterben. Leistungskürzungen werden schon diskutiert, das betrifft meine Patientinnen und Patienten besonders. Sie können sich auch nicht die neuesten Mobilgeräte leisten, die sie zur vollständigen Nutzung der ePA bräuchten. Nicht nur Ältere und psychisch Kranke meiden oft die Nutzung dieser Geräte. Schon bei jungen Menschen zeigen Studien zunehmend eine digitale Erschöpfung und Überforderung.
Befürchten Sie eine Stigmatisierung von Patienten?
Ja. Sensible Daten in der Cloud zu psychischen Krankheiten, aber auch zu schweren körperlichen Erkrankungen, einem Diabetes schon in jungen Jahren oder auch zu einem schlechten Zahnstatus können stigmatisierend sein. Versicherungen und potenzielle Arbeitgeber werden ein Interesse an diesen Daten entwickeln. Und wenn dann beispielsweise ein Orthopäde in der Akte liest, dass jemand beim Psychiater behandelt wird, werden Schmerzen möglicherweise vorschnell als psychosomatisch betrachtet. Der Patient kann dann gar nicht einordnen, warum das Gespräch plötzlich eine andere Wendung nimmt.
Die Zahnärzte sehen kaum einen Mehrwert in der ePA, weil sie kaum interdisziplinär arbeiten. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Ich kann das sehr gut verstehen. Mir geht es ähnlich, bisher hat mir der direkte Kontakt zu Hausärzten und Psychotherapeuten ausgereicht. In den letzten Jahren hatte ich häufig Kontakt zu Zahnärzten, die sich vehement gegen diesen digitalen Zwang gewehrt haben. Es kann für sie schon hilfreich sein, in der ePA zu sehen, welche Medikamente ein Patient derzeit nimmt, Beispiel Blutverdünnung. Aber wer garantiert die Vollständigkeit und Richtigkeit der ePA-Daten? Auch können Fehldiagnosen vorhanden sein. Ein gründliches Nachfragen beim Patienten wird weiter nötig sein. Die ePA kann kein gutes Anamnesegespräch ersetzen.
Gibt es überhaupt jemanden im Gesundheitswesen, der von der ePA profitiert? Die Krankenkassen und die Politik erhoffen sich ja Einsparungen, wenn Mehrfachuntersuchungen vermieden werden.
Das finanzielle Ausmaß von Doppeluntersuchungen ist bisher nicht belegt. Zumal alle Töpfe gedeckelt sind, stationär wie ambulant. Mehr Untersuchungen kosten daher nicht automatisch mehr Geld. Und manche Zweitmeinung oder auch eine Klinikuntersuchung nochmals direkt vor einer OP sind auch sinnvoll. Natürlich können Patientinnen und Patienten grundsätzlich von der ePA profitieren. Der Impfpass muss nicht mehr gesucht werden, die Vorerkrankungen sind im günstigsten Fall übersichtlich aufgeführt. Dafür wird aber Eigenverantwortung an eine anonyme Technik abgegeben, statt wie bisher die Daten beim Hausarzt des Vertrauens zu belassen.
Das mag zunächst bequem sein, aber entfremdet uns noch mehr von unseren Krankheiten und Befunden. Der Preis dafür ist zu hoch. Denn profitieren werden vor allem Ökonomie und Industrie. Was von den politisch Verantwortlichen auch zum im Dezember verabschiedeten Gesundheitsdatennutzungsgesetz immer wieder betont und im Europäischen Gesundheitsdatenraum noch mehr an Bedeutung gewinnen wird. Profitieren werden auch die Krankenkassen, die mehr Daten ihrer Versicherten und aus den Praxen haben wollen. Auch können Ermittlungsbehörden profitieren. So können sich Zugriffsrechte ändern, ebenso politische Verhältnisse – keine Seltenheit in diesen Zeiten. Dann möchte ich unter Umständen nicht mehr meine Gesundheitsdaten in staatlich regulierten Systemen verwaltet wissen.
Was halten Sie vom Argument, dass die Forschung mehr Gesundheitsdaten braucht?
Das mag sein. Nur: Welche Daten braucht sie, und in welcher Qualität? Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hatte vor einigen Jahren schon festgestellt, dass die Daten aus Abrechnung und elektronischen Patientenakten kaum für gute Forschung geeignet sind. Manchmal tragen wir ja Diagnosen ein, um ein bestimmtes Medikament mit weniger Regressängsten verordnen zu können. Auch Abrechnungsgesichtspunkte können eine Rolle spielen. Hindernisse für Forschung liegen heute mehr in zu viel Bürokratie, oft nötigen Genehmigungen gleich mehrerer Ethikkommissionen und zu schlechter finanzieller Ausstattung. Das hatte ein „FAZ“-Artikel kürzlich treffend beschrieben. Vertreter der evidenzbasierten Medizin warnen zudem vor methodischen Mängeln einer Big-Data-Forschung.
Wie sieht es mit hochbetagten, pflegebedürftigen oder dementen Patienten aus? Diese wissen ja oft nicht, welche Medikamente sie nehmen müssen.
Da wäre es gut, einen Medikationsplan auf der elektronischen Gesundheitskarte zu haben, wie ursprünglich ja auch geplant. Oder, wie heute meist üblich, einen ausgedruckten Medikationsplan vom Hausarzt, den einem dann die oft anwesenden oder begleitenden Betreuungspersonen geben.
Das war jetzt sehr viel Kritik. Aber Sie machen in Ihrem Buch auch Vorschläge für eine „menschliche internetbasierte Medizin“. Wie könnte die aussehen?
Na ja, es sollte eher um eine minimal internetbasierte menschliche Medizin gehen. Mit dezentralen Daten, Freiwilligkeit und sicheren digitalen Verbindungen zu Patientinnen und Patienten wie auch zu Kolleginnen, Kollegen und Kliniken. Die Möglichkeit einer digitalen Befundübermittlung wäre sinnvoll. Dafür brauchen wir aber keine ePA. Man hätte auch das früher schon eingerichtete KV-Connect mit Anreizen mehr propagieren können! Und so reizvoll KI, digitale Zwillinge und Avatar-Ärzte für digitale Nerds sein mögen – der direkte zwischenmenschliche Kontakt wird immer der tragfähigere sein. Praxen aber, aus denen keine Daten ausgeleitet werden, werden eine Nische darstellen können für „datenbewusste“ und weniger technik- bzw. internetaffine Menschen.
Werden Sie Ihren Patienten raten, der ePA zu widersprechen?
Ja. Denn wenn schon bei der Organspende die Widerspruchslösung mit guten Gründen nicht eingeführt wurde, sollten umso mehr jetzt nicht sensible Gesundheitsdaten automatisch abfließen können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Beitrag ist im BZB Bayerisches Zahnärzteblatt erschienen.