Branchenmeldungen 13.01.2012
Opioide können das Schmerzgedächtnis löschen
Eine im Fachmagazin "Science" veröffentlichte Studie zeigt: Opioide löschen das Schmerzgedächtnis im Rückenmark dauerhaft.
Ein Forscherteam der MedUni Wien an der Abteilung für Neurophysiologie (Zentrum für Hirnforschung) hat eine bisher unbekannte Wirkung von Opioiden entdeckt: Die jetzt im Top-Magazin „Science“ veröffentlichte Studie unter der Leitung von Ruth Drdla-Schutting und Jürgen Sandkühler zeigt, dass Opioide nicht nur Schmerzen vorübergehend lindern, sondern bei entsprechender Dosierung eine Gedächtnisspur für Schmerz im Rückenmark löschen und damit eine wichtige Ursache für chronische Schmerzen beseitigen können.
Die WissenschafterInnen bildeten in-vivo einen operativen Eingriff experimentell nach, wobei Schmerzfasern kontrolliert erregt wurden. Sandkühler: „Obwohl die tiefe Narkotisierung jede Schmerzempfindung verhindert, konnten wir im Rückenmark eine synaptische Langzeitpotenzierung beobachten. Trotz Narkose gab es also eine Gedächtnisspur für Schmerzen und ein Schmerzverstärker hat sich eingeschaltet.“ Durch die hochdosierte, intravenöse Gabe eines Opioids über eine Stunde – normalerweise werden Opioide in mittlerer Dosierung über einen längeren Zeitraum verabreicht – konnte die Potenzierung vollständig aufgehoben werden. Sandkühler: „Die Gedächtnisspur für Schmerzen wurde also wieder gelöscht und der Schmerzverstärker ausgeschaltet.“
Die so genannte Gedächtnisspur wird durch verschiedene Mechanismen ausgelöst, dazu zählt insbesondere die Potenzierung der Erregungsübertragung an den Kontaktstellen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen. Das nennt man synaptische Langzeitpotenzierung. Durch dieses Schmerzgedächtnis kommt es dazu, dass die Schmerzverstärkung viel länger andauern kann als die eigentliche Schmerzursache – bis hin zu chronischen Schmerzen.
Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie?
Derzeit
wird in dem vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs-, und
Technologiefonds (WWTF) geförderten Projekt untersucht, wie man diese
neue Entdeckung klinisch nutzen kann. Dazu erhalten ProbandInnen oder
SchmerzpatientInnen über einen Zeitraum von 60 Minuten eine hohe Dosis
eines Opioids. „Sollte sich unser Ansatz unter klinischen Bedingungen
bewähren, würde dies einen Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie
einläuten. Weg von der vorübergehenden, rein symptomatischen
Schmerztherapie hin zu einer an den Schmerzmechanismen orientierten,
nachhaltigen Beseitigung einer Schmerzursache durch Opioide.“
Die Wirkung der Opioide (Morphin oder
morphinähnliche Substanzen) basiert auf ihrer Bindung an spezifische
Bindungsstellen, die µ-Opiatrezeptoren (MOR), die sich auf den
Nervenzellen befinden, die Schmerzinformation verarbeiten. Bislang war
angenommen worden, dass Opioide die Schmerzen nur lindern können,
solange sie an MOR gebunden sind und so Erregungen im
schmerzverarbeitenden System unterdrücken. Drdla-Schutting: „Sobald das
Medikament abgesetzt wird, verschwindet auch die schmerzlindernde
Wirkung.“ In der klinischen Praxis werden Opioide daher in mittleren
Dosierungen kontinuierlich verabreicht, um eine dauernde Bindung an MOR
zu erreichen.
Dadurch können Schmerzen zwar hochwirksam
gelindert, deren Ursachen aber nicht beseitigt werden. Durch die neue,
hochdosierte Kurzzeittherapie mit Opiodien werden dagegen zelluläre
Veränderungen, die beim Schmerzgedächtnis eine wichtige Rolle spielen,
wieder rückgängig gemacht und so möglicherweise eine der Ursachen für
chronische Schmerzen beseitigt.
Service: Science
“Erasure of a Spinal Memory Trace of Pain by a Brief, High-Dose Opioid Administration.”
Ruth Drdla-Schutting, Justus Benrath, Gabriele Wunderbaldinger, Jürgen
Sandkühler. SCIENCE, Vol. 335 no. 6065 pp. 235-238 DOI:
10.1126/science.1211726