Abrechnung 24.02.2011
Die Abrechnungsfähigkeit von ästhetischer Kieferorthopädie
Seit
Jahrtausenden setzen die Menschen viel daran, ihren Körper, besonders
ihr Gesicht, zu verschönern, und nehmen dafür jedwede Form der
Behandlung auf sich. Ziel all dieser Behandlungen ist zu jeder Zeit, die
äußere Erscheinung vorteilhaft zur Geltung zu bringen, Aufmerksamkeit
zu erregen, eine grundlegende Veränderung des „Gesichtes als
Visitenkarte“ herbeizuführen, koste es, was es wolle.
Während früher das Gesicht „gottgegeben“, also genetisch definiert war,
wird es heute zum Kunstwerk, das sich künstlich ändern lässt. So
versprechen die plastisch-kosmetische Chirurgie und die ästhetische bzw.
kosmetische Zahnmedizin ein neues Gesicht mit mehr „Schönheit“. Meist
steht Ästhetik in Verbindung zu perfekter Funktion. Dabei ist die
Kieferorthopädie ein wichtiger Baustein in der präventiven Zahnmedizin.
Ästhetische Orthodontie erfüllt nach der befundbezogenen Einbeziehung
von parodontologischen, endodontologischen und restaurativen Erwägungen
einen grundlegenden medizinischen Bedarf. Voraussetzung dafür ist eine
eindeutige medizinische Indikationsstellung zur Rehabilitation bzw.
erneuten Stabilisierung der Funktionsfähigkeit des Kau- organs. Die
medizinischen Indikationen haben sich dabei in der Kieferorthopädie in
den letzten Jahrzehnten präventionsorientiert verändert. Zusätzlich
erlauben neue Techniken – insbesondere die „unsichtbaren“
Behandlungsformen – verstärkt ältere Erwachsene für die zeitlich
anspruchsvolle Therapie zur orthodontischen Erneuerung ihrer
Gebissfunktion und Ausstrahlung zu gewinnen.
Die Verbesserung der dentofazialen Ästhetik bei gleichzeitiger
Stabilisierung der Funktionsfähigkeit wird bei erwachsenen Patienten zum
entscheidenden Behandlungsmotiv. Der Bedarf und die Nachfrage sind in
der Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen am höchsten, denn in diesem
Lebensabschnitt wird ein attraktives Gesicht mit beruflichem Erfolg,
Prestige und erleichterter Kontaktaufnahme assoziiert.
Gerade die Zähne sind im Laufe der letzten 50 Jahre mehr und mehr zum
zentralen Mittelpunkt des Lächelns geworden. Dabei gibt es teilweise
eine auffällige Diskrepanz zwischen den objektiv vorliegenden Befunden
und der subjektiven Selbsteinschätzung. Deshalb muss man bei der
Behandlungskonzeption und Indikation vorsichtig sein, nicht auf
Patienten zu treffen, bei denen tiefer liegende psychische Probleme, wie
z.B. Depressionen oder Beziehungsprobleme, die dentale Problematik
überlagern.
Die Ästhetikwelle hat sich in den letzten Jahren zu einem festen Teil
der Zahnheilkunde mit schnell wachsenden Umsatzanteilen etabliert.
Moderne Marketingkonzepte für die kieferorthopädische Praxisdarstellung
oder im Rahmen der Werbung für die spezifischen Dienstleistungsangebote,
wie die „unsichtbare“ Behandlung mittels transparenten Schienen oder
Lingualtechnik, haben dazu geführt, dass sich so manche Zahnarztpraxis
heute zum Zentrum für ästhetische oder kosmetische Zahnmedizin bzw.
Kieferorthopädie umbenennt. Auf allen Inseraten, Praxisschildern,
T-Shirts und den Briefköpfen erkennt man das neue Praxismotto „create
your smile“ im Sinne einer durchaus perfekten zahnärztlichen „Corporate
Identity“. Diese neuen Marketingkonzepte sind sicherlich zeitgemäß und
erfolgreich, aber bergen eine Reihe von Risiken.
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Finanzielle Risiken
Die enge Vernetzung zwischen eugnather Okklusion und Artikulation,
ästhetischer Zahnaufstellung und ihrer „Halbschwester“, der kosmetischen
Zahnmedizin, macht es für die Steuerbehörden, Kostenerstatter und
Gerichte teilweise schwierig, zwischen medizinischer, ästhetischer
Indikationsstellung und kosmetischer Leistungserbringung zu
differenzieren. Voraussetzung zur Anwendung der zahnärztlichen bzw.
ärztlichen Gebührenordnung (GOZ) ist meistens, dass es sich um eine
medizinische Leistung handelt.
Eine kosmetische Leistungserbringung erfolgt häufig ohne medizinische
Indikationsstellung auf Wunsch des Patienten, sodass hier die
Vereinbarung zwischen Arzt und Patient nicht auf einem klassischen
Behandlungsplan (GOZ 004) basiert, sondern eine Behandlung auf Verlangen
darstellt (GOZ 002).
Mehrwertsteuerpflicht für Ästhetikanbieter?
Medizinische Dienstleistungen, die ausschließlich auf Wunsch des
Patienten subjektiv empfundene Schönheitsfehler beseitigen, ohne
jegliche medizinische Indikationsstellung, sind mehrwertsteuerpflichtig.
Die Mehrwertsteuerpflicht bedeutet für Praxisinhaber, die kosmetische
Zahnmedizin betreiben, dass eventuell 19% vom Praxisumsatz abgeführt
werden müssen. Da diese Pflicht zur Entrichtung von Mehrwertsteuer bei
Zahnarztpraxen meistens im Rahmen einer Betriebsprüfung diskutiert wird,
ergibt sich schnell ein mehrjähriger Veranlagungszeitraum und damit
sechsstellige Summen.
Fragliche Genehmigungs- und Erstattungsfähigkeit
Orthodontische Behandlungsmaßnahmen, die allein auf Veranlassung bzw.
Wunsch des Patienten nach neuer ästhetischer Frontzahnaufstellung ohne
klar definierte medizinische Indikationsstellung durchgeführt werden,
sind häufig durch gesetzliche oder private Kostenerstatter nicht oder
nur eingeschränkt genehmigungs- und erstattungsfähig.
Kieferorthopädische Behandlungspläne, die allein eine ästhetische
Reorientierung oder Neuaufstellung der Inzisivi zum Schluss der dunklen
interdentalen Dreiecke und/oder eine Verbesserung der Rot-Weiß-Relation
im Frontzahnbereich aus ästhetischen Gründen beantragen, werden von
vielen Kostenerstattern als medizinisch nicht notwendig eingestuft und
zurückgewiesen.
Bei orthodontisch-ästhetischen Behandlungsmaßnahmen sollte man den
Patienten die Voraussetzungen für die Genehmigungs- und
Erstattungsfähigkeit im Rahmen der Kostenaufklärung eingehend
vermitteln. Nach den ersten, nicht erstatteten Liquidationen kann die
emotionale Aufgebrachtheit beim Patienten schnell dazuführen, dass gegen
den Zahnarzt als Leistungserbringer vorgegangen wird.
Erwachsenbehandlung als reine „Ästhetik“ oder „Kosmetik“ abgestempelt
Private Kostenerstatter haben mittlerweile verschiedenste Strategien zur
Ablehnung kieferorthopädischer Behandlungsmaßnahmen bei Erwachsenen
entwickelt. Beinahe jeglicher orthodontischer Behandlungsplan wird als
allein ästhetisch motivierte Therapie eingestuft. Dazu notwendige
„Gefälligkeitsgutachten“ oder Stellungnahmen finden sich schnell im
zahnärztlichen Markt. Die Erstattungsfähigkeit wird entweder komplett
oder teilweise abgelehnt. Die Argumentationsgrundlage für einzelne
private Krankenkassen wird dabei vermehrt an die restriktive Genehmigung
von Behandlungsplänen bei Erwachsenen aus dem Bereich der gesetzlichen
Krankenversicherung bzw. Beihilfe angelehnt. Die gesetzlichen Regelungen
bei der vertragszahnärztlichen Versorgung richten sich bekanntlich nach
§ 29 des SGB V. Ausgehend von diesen Vorgaben bei den gesetzlichen
Versicherern, möchten einige private Kostenerstatter nur noch
schwerwiegende kraniofaziale Kieferanomalien mit angeborenen
Missbildungen des Gesichts, ausgeprägte skelettale Dysgnathien oder
verletzungsbedingte Kieferfehlstellungen genehmigen, die mindestens in
die Behandlungsgrade A5, D4, M4, O5, B4 oder K4 der kieferorthopädischen
Indikationsgruppen eingestuft werden können.
Die Ausgrenzung medizinisch indizierter orthodontischer Maßnahmen bei
erwachsenen Patienten durch private Kostenerstatter analog zu den
gesetzlichen Krankenkassen ist nicht statthaft und steht meist in
Widerspruch zu den Versicherungsbedingungen, die beim Abschluss der
privaten Krankenversicherung gültig waren. Immer mehr betroffene
Patienten und Kieferorthopäden haben sich in letzter Zeit erfolgreich
gegen die Vorgehensweise der privaten Kostenerstatter durchgesetzt.
Voraussetzung dafür ist meist ein unabhängiges und gerichtsfestes
Gutachten.
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Uneingeschränkte Therapiefreiheit in der KFO?
Voraussetzung für die erfolgreiche Kostenerstattung ist der Nachweis der
medizinischen Notwendigkeit durch den Versicherten bzw. seinen
behandelnden Arzt. Die Definition von medizinischer Notwendigkeit in der
aktuellen Rechtssprechung lautet:
„Eine Heilbehandlung ist medizinisch notwendig, wenn es nach den
objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen
zum Zeitpunkt der Behandlung vertretbar war, sie als medizinisch
notwendig anzusehen.“
Für die Erstattungspflicht der privaten Krankenkasse kommt es auf die
objektive medizinische Notwendigkeit an. Im sogenannten Alpha-Urteil vom
12.3.2003, IV ZR 278/01, wird klar herausgestellt, dass nachdem die
medizinische Notwendigkeit nachgewiesen wurde, der Patient bei der Wahl
der Therapie nicht die preisgünstigste Möglichkeit wählen muss. Drei
Jahre später hat der BGH die Feststellungsklage einer KFO-Patientin
gegen ihre PKV befürwortet (IV ZR 131/05, 8. Februar 2006). Die PKV
hatte eine Zusage kategorisch verweigert, da der Versicherungsgutachter
nur ein kombiniertes Vorgehen mit chirurgischer Bisslagekorrektur als
medizinisch sinnvoll angesehen hat. Im Kommentar dazu schrieb der BGH:
„Die Klägerin habe einen Anspruch gegenüber ihrer PKV darauf, vor einem
nicht abzuschätzenden Kostenrisiko geschützt zu werden.“ Entscheidend,
so der BGH, kommt es auf die Eignung einer medizinischen Maßnahme an,
eine Krankheit zu heilen oder zu lindern. Der BGH nimmt die
zahnärztliche Therapiefreiheit ernst und formuliert: „Eine Behandlung
kann auch dann medizinisch sinnvoll sein, wenn ihr Erfolg nicht sicher
vorhersehbar sei. Es genügt, wenn die Befunde zum Zeitpunkt der
Behandlung als vertretbar erscheinen lassen, die Behandlung als
notwendig anzusehen.“
Diese eindeutige BGH-Rechtssprechung für die Versicherten und die
zahnärztliche Therapiefreiheit wird durch das neue
Versicherungsvertragsgesetz zukünftig beeinflusst werden. In diesem
Gesetz wird ein neuer Begriff der Übermaßbehandlung definiert. Was in
der Kieferorthopädie eine Normal- bzw. Übermaßbehandlung ist, wird in
den nächsten Jahren vermutlich vor Gericht landen. Es bleibt abzuwarten,
inwieweit sich durch dieses Gesetz die Therapiefreiheit in der
Kieferorthopädie verändert.
Überprüfbare und legale Abrechnung
Private Liquidationen werden zunehmend von privaten Kostenerstattern und
der Beihilfe hinsichtlich der Abrechnung adäquater Gebührenpositionen
und angemessener Steigerungsfaktoren auf Plausibilität überprüft. Bei
Unstimmigkeiten werden die entsprechenden Gebührenpositionen durch die
Sachbearbeiter immer häufiger nicht erstattet, teilweise mit dem Hinweis
„Ihr Zahnarzt rechnet falsch ab“. Die Patienten bringen diese Briefe
mit in die Praxis, mit der Bitte um Klarstellung, Korrektur bzw.
Erstattung.
Obwohl die aktuelle Gebührenordnung bereits 20 Jahre alt ist und
unzählige teilweise widersprüchliche GOZ-Urteile bei unterschiedlichen
Gerichten und Instanzen bundesweit ergangen sind, halten sich viele
Kostenerstatter nicht an diese Rechtssprechung. Hinweise, dass diese
GOZ-Positionen zweideutig oder umstritten sind, fehlen in diesen
Schreiben weitestgehend.
Das Ansetzen von umstrittenen Gebührenpositionen, wie der Position Ä3
für eine umfassende längere Beratung oder der GOZ-Position 203 für das
Separieren vor dem Setzen der Bänder werden von manchen Praxen gar nicht
mehr angesetzt, um die Anzahl der Abrechnungskonflikte bzw.
Patientenreklamationen zu reduzieren.
Obwohl in vielen Praxen überwiegend die Zahnarzthelferinnen die
Abrechnung vornehmen, sollten sich die Ärzte darüber im Klaren sein,
dass sie allein für die Liquidation haften. Das werbewirksame
Abrechnungsmotto „alles, was geht“ hat in den letzten Jahren dazu
beigetragen, dass viele Gebührenziffern aus der Gebührenordnung für
Ärzte unkontrolliert in den Liquidationsbereich der Kieferorthopädie
eingebunden wurden. Dies hat das Ausmaß und die Anzahl der Konflikte
erhöht. Zur Erreichung einer höheren Rechtssicherheit und zur Reduktion
von Abrechnungskonflikten, sollte man vor allem spezifische
KFO-Positionen in den Vordergrund der Liquidationserstellung stellen.
Zur Wahrung der Umsatzneutralität empfiehlt es sich, die
kieferorthopädischen Gebührenpositionen angemessen zu steigern und
individuell zu begründen.
Umstellung der zahnärztlichen Gebührenordnung
Die derzeit laufende Diskussion über die Umstellung der zahnärztlichen
Gebührenordnung (GOZ 2008) wird durch die vermutete und befürchtete
„Bematisierung“ der kieferorthopädischen Leistungspositionen vorschnell
emotionalisiert. Niemand außerhalb des BMG weiß zurzeit, wie die
definitive GOZ 2008 aussehen und vor allem wann sie in Kraft treten
wird. Der bisher vorliegende Referentenentwurf hat dabei zur
Verunsicherung beigetragen. Vorschnelle Fortbildungskurse, die den
Inhalt des Referentenentwurfs zur Basis haben, werden nach dem
definitiven GOZ-Erlass weitestgehend Makulatur sein. Das Abwarten auf
die definitive GOZ-Verordnung ist bei dem aktuellen Pegelstand der Angst
zwar schwierig, aber unvermeidlich.
Bei allen Risiken durch die anstehende GOZ-Verordnung und das neue
Versicherungsvertragsgesetz bin ich zuversichtlich, dass sich zukünftig
erstattungsfähige Regelungen für eine angemessene Honorierung
kieferorthopädischer Dienstleistung finden lassen.
Autor: Prof. Dr. Robert A. W. Fuhrmann.