Patienten 20.01.2012
Polypragmasie beim älteren Patienten in der zahnärztlichen Ordination
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Das Wort „Polypragmasie“ stammt aus dem griechischen und bedeutet soviel
wie „Vielgeschäftigkeit“. Umgelegt auf unser medizinisches Handeln ist
damit die unkontrollierte Verabreichung von Wirksubstanzen gemeint, ohne
dass die Dosierungen auf den individuellen Metabolismus angepasst
werden oder auf mögliche Medikamenteninteraktionen geachtet wird. Alter,
Anzahl der behandelnden Ärzte, Dauer der Therapie und Anzahl der
individuellen Diagnosen lassen die Polypragmasie ansteigen. Bei der
zahnärztlichen Intervention beim älteren Patienten ist daher ein
verantwortungsvolles Vorgehen gefragt.
Nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht man von einer
Polypragmasie, wenn ein Patient 5 oder mehr Wirkstoffe gleichzeitig
verabreicht bekommt. Rezente Studien konnten zeigen, dass bei einer
Multimedikation von mehr als 9 Präparaten unterschiedlicher
Wirkstoffklassen die Wahrscheinlichkeit von klinisch manifesten
Nebenwirkungen bei 100 Prozent liegt.
Ziel einer qualitätsvollen Patientenbetreuung sollte die regelmäßige
Überprüfung der Medikation auf ihre aktuelle Indikation und auf mögliche
Wirkstoffinteraktionen sein. Diese Forderung gilt auch für den
zahnärztlichen Tätigkeitsbereich. Speziell ältere Patienten unterliegen
veränderten Metabolisierungsprozessen, nicht zuletzt aufgrund der häufig
zusätzlich bestehenden Multimorbidität (Tabelle 1). Führend in der
Ursachenliste medikamenteninduzierter Probleme sind Verschreibungen ohne
fassbaren klinisch-diagnostischen Hintergrund, gefolgt von
unbehandelten, aber dokumentierten Diagnosen, unerwünschten
Nebenwirkungen sowie Überdosierungen. Interessanterweise rangierten in
einer aktuellen Studie die Medikamenteninteraktionen mit einem
prozentuell minimalen Anteil an letzter Stelle der zu ermittelnden
Ursachen. Im Alltag dürfte der Anteil an Medikamenteninteraktionen
jedoch wesentlich höher liegen, da bekanntermaßen eine Polypragmasie mit
dem Alter, der Anzahl der behandelnden Ärzte, der Dauer der Therapie
und der Anzahl der individuellen Diagnosen drastisch ansteigt.
Bevor man mit einer zahnärztlichen oder kieferchirurgischen Intervention
beginnt, sollten folgende Punkte beachtet werden: Medikationen, welche
im Notfall verabreicht werden, müssen hinsichtlich möglicher
Interaktionen mit der bereits bestehenden Therapie und auch den
Grunderkrankungen hinterfragt werden. Weiters ist zu klären, ob eine
bestehende Medikation wie z.B. eine orale Antikoagulation (Marcoumar®,
Sintrom®) die geplante zahnärztliche Behandlung beeinflussen bzw. die
entsprechenden Laboruntersuchungen bereits vorliegen. Die individuelle
Beurteilung obliegt dabei dem einzelnen Arzt und sollte unbedingt im
Kontext mit geplanten Zusatzmedikationen (wie z.B. eine zusätzliche
Antibiose) gesehen werden. Es erhebt sich auch die Frage, inwieweit das
Langzeitergebnis der geplanten Behandlung von der laufenden Medikation
beeinflusst wird (z.B. Wundheilungsstörungen bei einer immunsupressiven
Dauertherapie). Wichtig ist zu bedenken, dass zusätzlich „Naturprodukte“
eingenommen werden können, die vom Patienten nicht unbedingt als
Medikament angesehen werden, aber sehr wohl den Verlauf einer
Zahnbehandlung beeinflussen können (Tabelle 2). Weitere wichtige
Interaktionen von rezeptpflichtigen Substanzen in der zahnärztlichen
Praxis sind in Tabelle 3 zusammengefasst.
Aber nicht nur unerwünschte Interaktionen, sondern der altersbedingt
veränderte Metabolismus durch eine verzögerte Aufnahme von Medikamenten,
eine gestörte Verteilung infolge eines Eiweißmangels, oder eine
veränderte renale oder hepatische Elimination können die Pharmakokinetik
beeinflussen (Tabellen 4 und 5). Aus diesen Überlegungen ergeben sich
folgende praktische Konsequenzen: Bei überwiegend renal eliminierten
Antibiotika wird die Dosis individuell an die errechnete glomeruläre
Filtrationsrate (GFR) angepasst. Bei einer GFR <50 ml/min verabreicht
man Amoxicillin, Cephalosporine, Penicillin und Tetrazykline in einer
Einzeldosis alle 8 Stunden. Bei einer Verminderung der GFR auf <10–50
ml/min wird die geforderte Dosis alle 8–12 Stunden verabreicht, bei
einer GFR <10 ml/min nurmehr alle 24 Stunden. Bei Störungen des
Lebermetabolismus wird die individuelle Funktion anhand der
Lebertransaminasen (AST, ALT) beurteilt. Der physiologische Normbereich
liegt bei 30–40 U/l. Wird dieser um das Vierfache überschritten, werden
Medikamente, die überwiegend hepatisch metabolisiert werden, nicht mehr
verabreicht. Dazu zählen Präparate wie Acetaminophen, Codein,
Tranquilizer wie Diazepam und Lorazepam, aber auch NSARs (z.B.
Ibuprofen). Gegenanzeigen bestehen auch für das Lokalanästhetikum
Lidocain und für Ketokonazol.
In jedem Falle ist bei der Planung einer zahnärztlichen Intervention
beim älteren Patienten vor Beginn einer Behandlung der individuelle
klinische Status, die aktuellen Diagnosen und laufenden Therapien zu
hinterfragen. Bei Unsicherheiten hinsichtlich Organfunktionen und
möglichen Medikamenteninteraktionen ist die enge Zusammenarbeit mit den
behandelten Kollegen gefragt. Alle internistisch tätigen Ärzte im
Allgemeinen und Geriater im Speziellen sind mit der Problematik der
Polypragmasie beim alten Patienten vertraut und kompetente Partner in
der interdisziplinären Betreuung alter Menschen.
Weitere Informationen bieten
folgende Internetseiten:
www.ada.org
www.dentalgate.com
www.drugs.com
Literatur:
Kann beim Verfasser erfragt werden.
Kontakt:
Medizinische
Universitätsklinik Graz
Auenbruggerplatz 15
8036 Graz
Tel.: 03 16/3 85-29 11
Fax: 03 16/3 85-61 17
E-Mail: Regina.Roller-Wirnsberger@meduni-graz.at