Psychologie 16.11.2009
Die Alternative zur Vollnarkose bei Angstpatienten
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Angstpatienten sind in Zahnarztpraxen weit verbreitet und gehören somit zum Berufsbild des Zahnarztes. Dennoch wird in der Ausbildung wenig auf die psychologischen Bedürfnisse der Patienten eingegangen. Dies führt häufig zu einer Überforderung des Praxisteams und der ängstlichen Person und als Ausweg wird oft narkotisiert. Der Artikel zeigt eine psychologische Alternative hierzu auf.
Da auch Angstpatienten behandelt werden müssen, wird gerade bei größeren Eingriffen, wie z.B. in der Implantologie, gerne zur Vollnarkose gegriffen (Boyle, CA., Newton, T. & Milgrom, P., 2009: Who is referred for sedation for dentistry and why? Br Dent J). Das ist jedoch aus psychologischer Sicht nicht das Mittel der Wahl.
Facetten der Angst
Der überwiegende Teil der Bevölkerung geht ungern zum Zahnarzt. Bei jeder fünften Person geht das Unbehagen in Angst über und jede zehnte meidet aufgrund von Angst den Besuch komplett. Die Folgen sind facettenreich. Medizinisch gesehen ist der schlechte Zahnzustand offensichtlich. Die Patienten haben Schmerzen, leiden unter Karies und Parodontitis oder beklagen umfassenden Zahnverlust. Psychologisch gesehen müssen über die Angst hinaus weitere Auswirkungen mit einbezogen werden. Der Patient spürt soziale Folgen. Es beginnt damit, dass er sich für seine Zähne schämt, dadurch weniger lächelt, seltener kommuniziert und sich letztendlich zurückzieht. Dies kann so weit gehen, dass der berufliche Werdegang erheblich beeinträchtigt wird und die Partnerschaft zerbricht. Der Betroffene ist gedanklich ständig mit den Zähnen und seiner Angst beschäftigt, sodass er kaum zur Ruhe kommt. Es ist möglich, dass der ängstliche Patient körperlich-gesundheitliche Effekte spürt, die bei Zittern und Schwitzen beginnen und beim stressbedingten Zusammenbruch des Immunsystems enden. Es ist somit ohne Frage wichtig, diese Patienten zu unterstützen – medizinisch wie psychologisch.
Vollnarkose als Lösung?
Das Bestreben, diese Patienten zahnmedizinisch umfassend zu versorgen, ist aus medizinisch-menschlicher Sicht nötig und aus wirtschaftlicher Sicht attraktiv. Meist sind umfangreiche Maßnahmen notwendig, welche Kariesbehandlung, Füllungen, Kronen, Brücken, Implantate und Parodontitisbehandlung einschließen. Das zahnmedizinische Vorgehen ist für den Zahnarzt und die Zahnärztin kein Hindernis. Die psychologische Betreuung stellt das zahnärztliche Team jedoch vor ein Problem. Handelt es sich um stark ängstliche Patienten, ist es fast unmöglich, die Behandlung durchzuführen. Einen Ausweg bietet hier die Narkose. Der Patient hält still, ist ruhig, stört in keiner Weise und ist danach auch überwiegend zufrieden mit dem Ergebnis.
Die Erfahrung zeigt, dass Zahnmediziner und Psychologen meist unterschiedlicher Auffassung über den Sinn einer Narkose sind. Der Zahnarzt ist überzeugt, dass der Patient seine Angst verliert, wenn er unter Vollnarkose behandelt wird. Psychologisch gesehen ist dies fraglich. Niemand käme auf die Idee, Flugangst zu behandeln, indem er den Betroffenen in Vollnarkose von München nach New York fliegt, um ihm danach zu berichten, dass er den Flug überstanden hat. Hat ein Kind Angst vor Hunden, legt man es auch nicht sediert in eine Hundemeute. Es würde an der Angst nichts ändern.
Kompromiss
Ich möchte mich hier nicht ausschließlich gegen Behandlungen unter Vollnarkose aussprechen. Sicherlich gibt es Patienten, bei denen eine Zahnsanierung auf anderem Weg partout nicht möglich ist. Ich gebe zu, dass sich die Angst bei Zahnarztphobikern nach einer Behandlung unter Vollnarkose gelegentlich verringert. "Das Gröbste" ist geschafft und der Patient ist motiviert, seine neuen schönen Zähne zu erhalten.
Einwände habe ich gegen die Tendenz, Vollnarkose schon bei den ersten Anzeichen von Angst anzubieten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein einziges umfangreiches Gespräch vor der ersten Behandlung für die meisten Patienten die Erlösung bedeutet. Dies ist letztendlich nicht zeitintensiver als die Aufklärung vor und die Betreuung nach einer Vollnarkose. Gezielte Fragen nach Auslösern, Ursachen und Auswirkungen der Angst zeigen dem Patienten, dass er Vertrauen zu seinem Zahnarzt haben kann. Sprechen Sie als Zahnarzt an, woran der Patient seine Angst spürt und wie Sie sinnvoll darauf eingehen können. Beraten Sie dahingehend, dass die Angst nur überwunden werden kann, wenn der Patient sie bewusst erlebt und mit Unterstützung abbaut.
Gehen Sie schrittweise vor und erarbeiten Sie mit Ihrem Team ein Konzept, wie der Umgang mit ängstlichen Patienten vor kleinen und größeren Eingriffen organisiert sein sollte. Dadurch sind Sie in der Lage, jedem Patienten auf stressfreiem Weg zahnmedizinisch und psychologisch zu helfen, ohne das Risiko einer Vollnarkose einzugehen.