Kieferorthopädie 05.03.2012
Klasse II-Anomalie – die vierte Dimension
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Ein Beitrag von Dr. Tom Verhofstadt aus Kevelaer in memoriam an den jüngst verstorbenen Prof. Dr. Tiziano Baccetti.
Die Korrektur von skelettalen und dentalen Angle-Klasse II-Malokklusionen mithilfe funktioneller kieferorthopädischer Apparaturen ist eine der größten Herausforderungen in der heutigen Zahnmedizin. Innerhalb Europas stellt sie bei Kindern die am meisten verbreitete Anomalie dar. Verschiedene Quellen berichten von einer Prävalenz zwischen 23 und 63%. Angle-Klasse II-Malokklusionen können dabei folgende Ursachen haben:14
- Die größte Kindergruppe (etwa 70%) zeigen einen defizienten Unterkiefer und beide Zahnbögen weisen eine jeweils norma-le Position in ihrem Kiefer auf.
- Eine kleinere Kindergruppe zeigt eine maxilläre Protrusion der Zähne, wobei die Kieferrelation normal ist.
- Die kleinste Gruppe hingegen weist ein exzessives Wachstumsmuster (superdolichofazial) des Oberkiefers auf. Der Unterkiefer rotiert dabei nach unten und nach hinten.
Einleitung
Im Jahre 1980 haben Wissenschaftler festgestellt, dass das Problem von Klasse II-Malok-klusionen nicht im protrusiven Oberkiefer, sondern eher im defizienten Unterkiefer begründet liegt. Heutzutage werden oft zwei Gruppen von FKO-Apparaturen benutzt, um die Klasse II-Anomalie mit defizientem Unterkiefer zu korrigieren:
- herausnehmbare Apparaturen, wie z.B. der FR-2 Regulator (nach Fränkel), der Aktivator (nach Andresen), der Twin Block (nach Clark) und Modifikationen,
- festsitzende Apparaturen, wie Pancherz’ Herbst-Scharniere, Jaspers Jumper und Modifikationen.
Während der letzten 20 Jah-re wurden in der wissenschaftlichen Literatur drei Dimensionen berücksichtigt, um die Behandlung von Klasse II-Anomalien zu verbessern. Diese Dimensionen sind die drei räumlichen Ebenen (vertikale, sagittale und transversale Ebene). Das primäre Ziel von funktionskieferorthopädischen Geräten ist es, den defizienten Unterkiefer zu verlängern und gleichzeitig die maxilläre Protrusion zu hemmen, sodass der sagittale Overjet korrigiert wird. Es ist die Summe des Remodeling von Kondylus und Fossa Glenoidale und Änderungen der Kondylenposition in der Fossa, die den Unterkiefer nach vorn wachsen lässt. Dies ändert die Kinnposition und lässt den Unterkiefer rotieren.15
Bei der Twin Block-Therapie wird der Overjet korrigiert. Dies geschieht sowohl durch eine skelettale als auch eine dentoalveoläre Komponente. Die Erfolge skelettaler Korrektur liegen zwischen 27 und 67%.1,10,11 Der Rest ist der Hemmung des vorderen Wachstums der Oberkiefermolaren und der Mesialbewegung der Unterkiefermolaren zuzuschreiben. Des Weiteren erfolgt die Retroinklination der oberen Schneidezähne. Dieser Effekt wird wahrscheinlich durch die Lippenmuskulatur16 und die Labialbewegung der unteren Schneidezähne verursacht.
Die vierte Dimension
Die vierte Dimension, nämlich die Zeit, fand in der internationalen wissenschaftlichen Literatur bisher nur wenig Beachtung. So wird bis heute noch immer ein Unterschied zwischen einer „frühen“ und einer „späten“ Behandlung gemacht. Dabei wird die Frühbehandlung von vielen Wissenschaftlern und Klinikern als jene Behandlung definiert, welche in der Milchzahn- oder Wechselgebissphase vor Durchbruch der bleibenden Zähne beginnt. Diese Annahme bzw. dieser Gedankengang kann sich jedoch als sehr problematisch und ineffizient erweisen, wenn das Kind mithilfe einer FKO-Apparatur behandelt wird. Das Ziel der funktionellen Kieferorthopädie darf nicht die Korrektur der Zähne sein, sondern ist es vielmehr, die skelettale Entwicklung des Unterkiefers zu erhöhen. Bisher berücksichtigen wenige wissenschaftliche Studien die biologischen Aspekte des einzelnen, individuellen, skelettalen Wachstums. So wurde vor allem geforscht, wenn die Wachstumsentwicklung des Unterkiefers zu früh oder bereits vorbei war.
Studien (z.B. von Kevin O’Brien et al.10,11) untersuchten die Zunahme der Unterkieferlänge bei Einsatz von Herbst-Scharnier und Twin Block und kamen zu dem Ergebnis, dass frühe kieferorthopädische Behandlungen keine Vorteile gegenüber einer Spätbehandlung vorweisen. Nachteil dieser Untersuchung und vieler anderer Studien rund um FKO-Apparaturen in den letzten zehn Jahren ist, dass diese keine sichere Auskunft darüber geben, wann das skelettale Wachstum stattfindet. Stattdessen wurde dies durch das chronologische Alter oder den Zahndurchbruch (frühe Wechselphase, mixed oder permanentes Gebiss) gesichert. Tatsächlich ist das Wachstum des Unterkiefers in CS1 und CS2 sehr gering und nimmt in CS5 und CS6 stark ab. In diesen Studien ist es daher logisch, dass nur ein geringer oder gar kein Unterschied zwischen einer frühen und einer späten KFO-Behandlung gefunden wurde.
Eine globale Diagnose für Klasse II-Anomalien impliziert, dass nicht nur die Zähne im Zahnbogen behandelt werden sollen, sondern auch das komplette Gesicht. Die Konvexität des Gesichts, der Nase und das weiche Gewebe um den Mund herum sind ebenso wichtig wie die Korrektur der dentalen Klasse II-Malokklusion. Dieser globale kieferorthopädische Ansatz würde nicht allein eine Verbesserung des konvexen Gesichtsprofils bewerkstelligen, sondern auch verbesserte psychische und soziale Auswirkungen bieten. Dieser Artikel soll die Bedeutung einer genauen Beurteilung des skelettalen Wachstums zu Beginn der Behandlung mittels funktionskieferorthopädischer Geräte verdeutlichen, unabhängig vom Alter des Kindes und der dentalen Phase, in der sich das Kind befindet.
CVM (Cervical Vertebral Maturation)
Der ideale Indikator, radiologisch das skelettale Wachstum zu beurteilen, umfasst folgende Merkmale:2–4
- Die erhaltene Information muss mit einem Referenzindex vergleichbar sein.
- Der Unterkieferwachstumsschub muss anhand einer radiologischen Diagnose schnell und zielgerichtet zu finden sein.
- Die Verringerung von Röntgenstrahlung beim Patienten.
- Die Methode muss eine große Validität aufweisen, um das skelettale Wachstumsstadium zu evaluieren.
Lamparski8 sowie später Baccetti und Franchi1,2,6 schlugen sechs Stadien vor, die mit sechs Wachstumsphasen der zervikalen Vertebrae während des pubertären Alters übereinkamen. Diese sechs Stadien werden durch morphologische Änderungen und große Änderungen des zweiten bis vierten Wirbelkörpers (CS 2 bis CS 4) festgelegt. Die Methode hat in der Vergangenheit ihre Effizienz und Zuverlässigkeit in der Praxis bewiesen. So stimmen die Wachstumsstadien der Halswirbel mit den Veränderungen im Unterkieferwachstum während der Pubertät überein.3,12
CVS 1: Die inferiore Begrenzung aller Wirbelkörper ist flach.
CVS 2: Die inferiore Begrenzung des 2. Wirbelkörpers entwickelt eine Konkavität.
CVS 3: Die inferiore Begrenzung des 3. Wirbelkörpers entwickelt eine Konkavität.
CVS 4: Die inferiore Begrenzung des 4. Wirbelkörpers entwickelt eine Konkavität. Die Wirbelkörper C3 und C4 sind rechteckig geformt.
CVS 5: Die inferioren Begrenzungen aller Wirbelkörper sind konkav. Die Wirbelkörper sind fast viereckig und der Raum zwischen den Wirbeln verringert sich.
CVS 6: Alle Wirbel weisen tiefe Konkavitäten auf und sind in vertikaler Richtung rechteckig.
Die beschriebene Methode bietet folgende Merkmale:4
- Die CV-Stadien sind unabhängig vom chronologischen Lebensalter.
- Die Änderungen in Größe und Morphologie der Vertebrae in den sechs Phasen sind identisch für beide Geschlechter.
- Die Identifizierung und Reproduzierbarkeit der Daten bzw. der CVM-Stadien liegt zwischen 91,2%13 und 98,6%1,6.
- Der skelettale Wachstumsschub und der Schub des Unterkieferwachstums finden zwischen CS3 und 4 in 95% der Fälle statt.
- CS1 kommt mindestens zwei Jahre vor dem skelettalen Wachstumsmaximum vor.
- CS2 kommt ein Jahr vor Beginn des skelettalen Wachstumsschubs vor.
- CS5 tritt ein Jahr nach Ende des Wachstumsmaximums und CS6 mindestens zwei Jahre nach dem Wachstumsmaximum auf.
- CS 6 markiert das Ende des pubertären Wachstums.
- Die morphologischen Änderungen der zervikalen Wirbel beginnen bei Mädchen früher als bei Jungen.
Die Änderungen hinsichtlich Größe und Morphologie der Vertebrae in den sechs Phasen sind identisch für beide Geschlechter. Es gibt – im Gegensatz zu Lamparski – keine unterschiedlichen Angaben für Mädchen und Jungen.8 Im Rahmen einer Studie wurde bei 250 Kindern untersucht, ob eine Differenz zwischen den zervikalen Stadien und den verschiedenen Stadien des Zahndurchbruchs besteht7 (Tabelle 2).
Aus der Tabelle geht hervor, dass eine große Übereinstimmung zwischen der frühen dentalen Wechselphase und dem skelettalen Wachstum besteht. Während des Wachstumsschubs im zervikalen Stadium 3 besteht wenig Übereinstimmung mit der dentalen Wechselphase.
Wenn die permanenten Eckzähne und Prämolaren durchbrechen, ist die späte dentale Wechselphase erreicht. Ein Viertel der Kinder befindet sich noch in ihrem prä-pubertären Wachstumsschub (CS 2) und ein Drittel der Kinder im pubertären Wachstum (CS 3). Befindet sich das Kind in der späten dentalen Wechselphase oder dem frühen permanenten Gebiss, hat der Behandler eine Chance von 66%, den Wachstumsschub in CVS3 zu erkennen. Weitere Untersuchungen ergaben, dass zwischen dem Lebensalter und dem skelettalen Wachstum große Differenzen bestehen. Der Wachstumsschub in CS3 kann zwischen dem 8. und 14,5. Lebensjahr auftreten. Diese Studie belegt, dass wenig Übereinstimmung zwischen dem skelettalen Wachstum der Mandibula, den verschiedenen dentalen Wechselphasen sowie dem Lebensalter besteht.
Die vierte Dimension – der klinische Beweis
In einer Untersuchung von Baccetti aus dem Jahre 2004 wurden 36 Patienten mit einer Angle-Klasse II-Anomalie mithilfe der Twin Block-Apparatur therapiert und mit 30 nichttherapierten Klasse II- Patienten verglichen. Von den 36 Patienten wurden 21 vor und 15 Patienten nach dem pubertären Wachstumsschub therapiert. Die „frühe“ skelettale Wachstumsgruppe wurde vor dem pubertären Wachstumsschub therapiert. Sie befand sich am Anfang der Twin Block-Behandlung zwischen Phase CS1 und CS2. Nach durchschnittlich einem Jahr und zwei Monaten Behandlung befanden sich die Patienten zwischen Phase CS1 und CS3. Die „späte“ skelettale Wachstumsphase wurde nach dem pubertären Wachstumsschub therapiert. Sie befand sich bei Beginn der Behandlung zwischen Phase CS3 und CS5. Nach erfolgter Twin Block-Behandlung von durchschnittlich einem Jahr und fünf Monaten Dauer befanden sich die Patienten zwischen Phase CS4 und CS6. Beide Gruppen wurden respektiv mit einer nichttherapierten Klasse II-Anomalie-Kontrollgruppe verglichen, die sich in demselben vertebralen Stadium befand. Da die experimentellen Gruppen klein waren (36 behandelte Kinder verglichen mit 30 nicht behandelten Kindern), waren nur die Ergebnisse der Unterkieferlänge (Co-GN) und der Winkel CL-ML signifikant.
Diskussion
Eine Behandlung mithilfe von funktionskieferorthopädischen Apparaturen – in unserem Fall mithilfe der Twin Block-Apparatur – ist während oder nach dem skelettalen Wachstumsschub des Unterkiefers viel effektiver als vorher. Nach dem Wachstumsschub sind die induzierten skelettalen Änderungen der kondyläre Knorpel günstiger. In der „späten“ skelettalen Wachstumsgruppe betrug der Unterschied des Unterkieferwachstums im Vergleich zur Kontrollgruppe 4,75mm, gemessen in einem Jahr und fünf Monaten (im Durchschnitt 3,35mm pro Jahr). In der „frühen“ skelettalen Wachstumsgruppe betrug der Unterschied des Unterkieferwachstums im Vergleich zur Kontrollgruppe 1,88mm, gemessen in einem Jahr und zwei Monaten (im Durchschnitt 1,61mm pro Jahr). Das Unterkieferwachstum ist also in der „späten“ skelettalen Wachstumsphase doppelt so groß wie in der „frühen“ Phase. Die Zunahme der Unterkieferlänge (Co-Pg) in der „späten“ Wachstumsgruppe ergibt sich aus der Verlängerung der Ramus Manudibulae (Co-Gn) in vertikaler Richtung und einer Zunahme der Korpuslänge vom Unterkiefer (Go-Pg) in horizontaler Richtung. Im Jahre 1977 stellten Lavergne et al.9 fest, dass die Wachstumsrichtung der Kondylen in posteriorer Richtung ausgerichtet ist. Das wurde auch festgestellt durch den Unterschied im Winkel Kondylenlinie (CL) und mandibuläre Linie (ML) zwischen der „späten“ skelettalen Wachstumsgruppe und Kontrollgruppe. Die „morphogenetische posteriore Unterkieferrotation“ ist ein biologischer Mechanismus, der es möglich macht, die Unterkieferlänge zu vergrößern und so eine effektive Verbesserung der skelettalen sagittalen Klasse II zu erreichen.
Fazit
Mit diesen Erkenntnissen über die kephalometrischen Ergebnisse bei Klasse II-Malokklusionen ist eine der größten Kontroversen in der Kieferorthopädie gelöst worden. Von nun an kann mithilfe von FKO-Apparaturen bei Klasse II-Therapien nicht mehr im Hinblick auf eine „frühe“ oder „späte“ Behandlung aufgrund von Zahndurchbruch oder Lebensalter gesprochen werden, sondern vielmehr im Hinblick auf das frühe oder späte skelettale Unterkieferwachstum. Mein Dank gilt Prof. Dr. Tiziano Baccetti, durch dessen Erkenntnisse aus jahrelanger Forschungsarbeit und die erfolgreiche Umsetzung derer in der Praxis dieser Artikel entstanden ist.