Oralchirurgie 05.09.2011
Minimalinvasive Entfernung von verlagerten unteren Weisheitszähnen
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Fit 4 Flapless – Teil 1
Große Chirurgen – große Schnitte, je kleiner der Schnitt, desto unübersichtlicher wird die Situation: Weshalb sollte sich ein vernünftiger Mensch also das Leben schwer machen und durch ein Schlüsselloch operieren, wenn man sich mit einem beherzten und gekonnten Ablösen der Gingiva das OP-Feld schneller und übersichtlicher darstellen kann? Aus der Sicht eines Oralchirurgen ist diese Überlegung völlig verständlich, aus der Sicht des Patienten jedoch keineswegs.
Würden Sie sich osteotomieren lassen, um einen kleinen Wurzelrest aus dem Kiefer zu entfernen, wenn es eine gute, in der Praxis verfügbare Technik gibt, dies auch ohne Deperiostierung und ohne Knochenverlust zu erreichen?
Solange durch die Basis einer Kunststoffprothese der Defekt am Kieferkamm wieder ausgeglichen wurde, war die Entscheidung noch einfach: Auf etwas mehr oder weniger Knochen kam es nicht an, im Hinblick auf eine ästhetisch anspruchsvolle Restauration auf Implantaten hingegen wird wohl kaum ein Patient eine letztlich destruktive Technik wie eine Osteotomie durchführen lassen, sofern er über Alternativen informiert ist. Am Beispiel der Entfernung von unteren dritten Molaren, also einer Situation mit einem vergleichsweise schwierigen anatomischen Zugang, soll dargestellt werden, dass die vollständige Entfernung von Zähnen auch in schwierigen Situationen ohne eine laterale Exposition minimalinvasiv erfolgen kann.
Die Entfernung dritter Molaren gilt als einer der häufigsten zahnärztlich-chirurgischen Eingriffe überhaupt. Aus diesem Grunde wird in der zahnärztlichen und oralchirurgischen Praxis besonderer Wert darauf gelegt, den Eingriff innerhalb einer gut strukturierten Behandlungsroutine durchzuführen. Dies erfordert neben einer guten chirurgischen Ausbildung ein Behandlungskonzept, das eine genau geplante und vor allem rasche Technik zur Anwendung bringt. In der Routine wird die Entfernung von unteren Weisheitszähnen unter Bildung eines bukkalen Mukoperiostlappens mit nachfolgender vorwiegend bukkaler Osteotomie durchgeführt (Thoma 1969). Dennoch stellt die Morbidität nach Osteotomie insbesondere unterer Molaren noch immer ein erhebliches Problem dar. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Deperiostierung zur postoperativen Wundschwellung und postoperativem Wundschmerz führt und dass insbesondere bei tiefer verlagerten Weisheitszähnen zum Teil ausgedehnte Defekte in der bukkalen Kortikalis angelegt werden müssen, um die Wurzel unter direkter Sicht zu entfernen. Während Weisheitszähne mit noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum in der Regel durch moderate perikoronare Osteotomie von bukkal soweit mobilisiert werden können, dass sie unter Einsatz eines Hebels luxiert werden können, ist dies bei tiefer verlagerten Molaren und abgeschlossenem Wurzelwachstum oftmals nicht mehr möglich, sodass hier von vornherein eine Odontosektion geplant werden muss. Kürzlich konnte diesbezüglich eine Veränderung der Paradigmen im Sinne einer zunehmenden Tendenz zu atraumatischen Operationstechniken beobachtet werden (Genu et al. 2008, Ngeow 2009). Auch wird der Empfehlung zur partiellen Entfernung von Kronen dritter Molaren (Landi et al. 2010) neuerdings vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.
Eine Sonderstellung nehmen dabei partiell retinierte Zähne ein. Sind sie für die ausschließliche Luxation mit dem Hebel durch ihre Lagebeziehung zum zweiten Molaren nicht geeignet, ist eine Odontosektion erforderlich. Kim et al. (2010 konnten in diesem Zusammenhang zeigen, dass ohne Bildung eines mukoperiostalen Lappens die Entfernung im Sinne einer sogenannten Flapless-Technik möglich ist, d. h. die Odontosektion wurde von okklusal ohne Aufklappung durchgeführt. Kim et al. (2010) konnten ferner zeigen, dass durch den Verzicht auf Aufklappung die Operationszeit reduziert werden konnte und die Patienten vergleichsweise geringe postoperative Beschwerden aufwiesen. Wir können also festhalten, dass abhängig von der Lage des unteren Molaren eine geschlossene Technik ohne Aufklappen grundsätzlich möglich ist, und zwar ohne Zeitverlust. Anders stellt sich hingegen die Situation bei Zähnen dar, die vollständig knöchern impaktiert sind oder die zumindest vollständig von Schleimhaut bedeckt sind. Im vorliegenden Artikel soll demonstriert werden, dass auch vollständig impaktierte untere Weisheitszähne ohne laterale Osteotomie systematisch minimalinvasiv mit vertretbarem apparativen Aufwand versorgt werden können.
Operatives Vorgehen
Die Eingriffe können wie gewohnt unter Lokalanästhesie durchgeführt werden. Die Inzision umfasst eine sulkuläre transversale Schnittführung distal des 2. Molaren, sie schwenkt vom mittleren Drittel des Sulkus in Richtung auf den aufsteigenden Ast nach distobukkal ab (Abb. 1a). Die über dem retromolaren Feld gelegenen Weichgewebe werden gespreizt und an der bukkalen Kante des retromolaren Feldes ein Separator eingesetzt. Nach Darstellung der Okklusalfläche des Molaren (Abb. 1b) wird gerade so viel Knochen abgetragen, dass die nach okklusal zeigende Fläche vollständig sichtbar wird, anschließend wird im distalen Bereich des Operationsfeldes ein Stützendoskop eingesetzt. Der Spatel des Stützendoskopes dient als Abstandhalter zur Knochenoberfläche und separiert gleichzeitig distal die Weichgewebe. Statt einer endoskopischen Darstellung besteht die Option, mit dem Operationsmikroskop oder der Lupenbrille zu arbeiten. Diese Option ist insbesondere bei horizontal verlagerten Zähnen, nicht jedoch bei vertikaler Verlagerung gegeben. Die Exposition des nach okklusal zeigenden Teils der Krone erfolgt unabhängig von der Position des Zahnes im Kiefer. Als zweiter Schritt folgt die transversale Separation (Abb. 2).
Dabei wird das bukkale und mittlere Drittel der Krone mit einer Lindemannfräse transversal getrennt (Abb. 2a) und mittels einer raumschaffenden Präparation die Pulpa (Abb. 2b) nach kaudal so weit eröffnet, dass eine ausreichende endoskopische Übersicht zur weiteren Trennung des Zahnes gewonnen werden kann. Eine lingual gerichtete Perforation des Zahnes mit der Lindemannfräse ist zu vermeiden. Mit fortschreitender Odontosektion nach basal ist die Zuhilfenahme des Stützendoskopes notwendig. Je nach Dislokation des Zahnes wird eine Trennung in Richtung auf die Furkation (bei vertikaler Lage) oder eine Separation zwischen Krone und Wurzel (bei horizontaler Lage) durchgeführt. Die dabei entstehende Kavität dient als Verfügungsraum zur Mobilisation der Kronenfragmente mittels Implosionstechnik. Die Separation unter Sicht muss in kritischen Zonen wie z.B. im lingualen und kanalnahen Bereich immer mit besonderer Vorsicht unter Verwendung von diamantierten Fräsen und unter direkter Beobachtung mit dem Endoskop erfolgen, in Zonen ohne größeres Gefährdungspotenzial (bukkal) können Rosenbohrer verwendet werden. Dieser Abschnitt der Zahnentfernung kann je nach Lage des Molaren mehr oder weniger zeitaufwendig sein, durch systematisches Vorgehen bei der Trennung ist der zeitliche Aufwand jedoch nur gering. Im vorliegenden Falle wurde die Odontosektion nach dem am häufigsten angewendeten Protokoll ausgeführt:
1. Sagittal gerichtete Trennung des mesialen Anteils der Krone (Abb. 3)
2. Entfernung der Kronenfragmente durch Luxation in die Kavität statt nach außen mittels Implosionstechnik (Abb. 4)
3. Prüfung der Mobilität der Wurzeln, ggf. Wurzelseparation
4. Entfernung der Wurzeln
Unter Einsatz der Implosiontechnik werden die Wurzeln in den durch die Kronenentfernung geschaffenen Raum mobilisiert (Abb. 5). Dieser Schritt erfolgt ggf. unter gezielter intraossärer Freilegung von okklusal. Die separierten Wurzeln werden mit grazilen Hebeln luxiert. Für den Fall einer Ankylose werden die Wurzelanteile ebenfalls unter endoskopischer Sicht mit einem rotierenden Instrument ggf. vollständig abgetragen. Eine sichere Unterscheidung von Wurzeldentin und Knochen ist über eine stützimmersionsendoskopische Betrachtung unter hoher Vergrößerung möglich: Als sicheres Unterscheidungskriterium von Dentin und Knochen gelten Volkmann-Kanälchen im Knochengewebe. Bei ausgedehnten Wundhöhlen kann ein Kollagenvlies eingelegt werden Die abschließende Kontrolle zeigt, dass die bukkale Wand vollständig erhalten werden konnte (Abb. 6). Nachfolgend wird das Endoskop entfernt (Abb. 7) und die Wunde mit 5-0 monofilem Nahtmaterial verschlossen.
Diskussion
Mit der hier gezeigten Methode wurde kürzlich am Beispiel einer Fallserie gezeigt, dass der bukkale Knochenverlust wesentlich reduziert werden kann (Engelke et al. 2011). Nimmt man an, dass bei einer konventionellen Entfernung von unteren Molaren die Exposition zumindest der Krone, oftmals jedoch auch noch weitergehende Exposition der Zahnwurzel, erforderlich wird, ist die hierdurch verursachte Höhenreduktion bezogen auf die Zahnlänge mit einem Defekt von ca. 8 bis 9 mm verbunden. Dies entspricht der Kronenhöhe bis in den Furkationsbereich. Bei der an unserem Krankengut bestimmten Molarenhöhe (Engelke et al. 2011) ergaben sich 17,49 mm, die intraoperativen Messwerte nach der mikrochirurgischen Entfernung zeigten demgegenüber eine bukkale Knochenhöhe von 14,5 mm, entsprechend einem rechnerischen Verlust von ca. 3 mm. Diese Überlegung macht deutlich, dass bei der Entfernung von unteren dritten Molaren über den mikrochirurgischen okklusalen Zugang der bukkale Knochenrand deutlich oberhalb der ursprünglichen Schmelzzementgrenze des verlagerten Zahnes liegt und somit eine wesentlich geringere Ablösung des Periostes bei der Exposition der Knochenoberfläche erforderlich ist als beim konservativen Vorgehen.
Dass die Deperiostierung weitestgehend vermieden und somit die postoperativen Beschwerden reduziert werden können, ist einer der wesentlichen Vorteile, wie auch aus der von Kim et al. (2010) mitgeteilen Untersuchung hervorgeht. Abhängig von der Verlagerung der Molaren ist auch bei konventioneller Vorgehensweise mit komplexer Wurzelanatomie eine konsequente Odontosektion zu einem frühen Zeitpunkt erforderlich (Thoma 1969, Petersen 1988). Wird die Odontosektion durch eine raumschaffende Präparation in der Krone des Molaren statt Schaffung von Freiraum im umgebenden Knochen ergänzt, so führt es zu einem Konzept, bei dem die Schonung des Knochengewebes im Vordergrund steht und bewusst auf eine Entfernung des anatomisch intakten Zahnes verzichtet wird, die als solche abgesehen von Transpositionsfällen letztendlich sinnlos ist. Die mikrochirurgische Technik bei der Entfernung impaktierter Zähne in der hier gezeigten Form könnte also als endodontischer Zugang zur Zahnentfernung bezeichnet werden. In Analogie zur endodontischen Versorgung wird durch Trepanation und raumschaffende Präparation zunächst ein „Verfügungsraum“ geschaffen, dieser wird allerdings für die Mobilisierung der Kronenanteile und der Wurzeln mit dem Ziel einer Implosion des Zahnes genutzt.
Obwohl die Technik zunächst komplex erscheint, wird bei fortschreitender Lernkurve für den Geübten sehr bald deutlich, dass die wesentlich verbesserte Einsicht über Mikro- und Endoskop auch eine zügige Patientenversorgung in der Routine erlaubt: Die okklusale Separation kann sehr präzise mit Turbine, rotem Winkelstück oder Lindemannfräse im Handstück erfolgen. Dabei wird gezielt zentral von okklusal in linguo-bukkaler Richtung separiert. Die raumschaffende Präparation als Erweiterung der Kavität und die von dort ausgehende sagittale Kronenseparation wird in Kenntnis des Röntgenbefundes bis zur basalen Begrenzung der Krone respektive bis zur Furkation unter Sicht erfolgen. Ausschließlich werden die lingualen und die kanalnahen Bereiche des verlagerten Molaren separiert. Sie müssen dabei mit diamantierten Kugelfräsen größeren Durchmessers präpariert werden. Alternativ kommen piezochirurgische Geräte zum Einsatz. Die Luxation der entstehenden Fragmente erfolgt ohne Kraft und unter Sicht. Dies ist im Vergleich zu konventionellem Vorgehen mit z.T. unzureichender Ausleuchtung des OP-Feldes ein wesentlicher Vorteil. Eine ansonsten als mühevoll empfundene „Zerlegung“ des Molaren kann durch systematisches Vorgehen soweit vereinfacht werden, dass sie sich in eine Routine mit nur wenigen Instrumenten einbinden lässt. Wobei die Dauer der OP bei komplexen Fällen im Vergleich zu konventionellen Osteotomien reduziert ist, da die einzelnen Schritte unter präziser Sicht auf das Operationsfeld erfolgen und deshalb ausgedehnte, der Wurzeloberfläche folgende Osteotomien nicht erforderlich sind. Ein weiterer wesentlicher Vorteil des Verfahrens besteht darin, dass die Blutungsneigung des Operationsfeldes geringer ist, da Spongiosaräume im Vergleich zum konventionellen Vorgehen nicht eröffnet werden. Nach unserer Erfahrung ist die Stützendoskopie ein sehr gut geeignetes mikrochirurgisches Instrument, da es als vergrößerndes optisches System in Verbindung mit einer Lichtquelle eine direkte Einsicht in das Operationsfeld von einer Position nahe des zu entfernenden Zahns einnehmen kann. Auch v. Arx et al. (2002, 2003) und Taschieri et al. (2008) betonen den Wert der endoskopischen Bildgebung in anderen Bereichen der zahnärztlichen Chirurgie. Taschieri et al. (2008) stellten fest: „Intraoperativ ist eine bestmögliche Visualisierung erforderlich, um eine hohe Erfolgsquote zu erzielen.“ Definiert man als Erfolg für exodontische Maßnahmen den Erhalt von knöchernen Strukturen und bedeckenden Weichgeweben, so erscheint es selbstverständlich, mikrochirurgische Verfahren mit den bestehenden Visualisierungsmöglichkeiten konsequent einzusetzen. Das Stützendoskop hat den Vorteil einer guten Schärfentiefe und kontinuierlich guter Einsicht in das Operationsgebiet mit festem Objektabstand. Dies betrifft vor allem die schwierige Einsicht bei tief verlagerten vertikal stehenden Molaren. Bei ankylosierten Wurzeln kann unter Umständen eine Abtragung unter Sicht bis zum Apex ohne nennenswerte laterale Knochenentfernung von okklusal erfolgen. Dabei kann während einer Präparation im lingualen Bereich ebenso wie in Nervkanalnähe durch Einsatz relativ groß dimensionierter, diamantierter, rotierender Instrumente eine Gefährdung der Nerven hinsichtlich einer versehentlichen Durchtrennung sicher ausgeschlossen werden (Engelke et al. 2011).
Reduzierter Knochenverlust bedingt in der Folge ein geringeres Frakturrisiko bei tiefer verlagerten Zähnen, was insbesondere bei der Entfernung von tief frakturierten Wurzelresten erhebliche Bedeutung haben kann. Zur Frage der postoperativen Beschwerden durch Hämatom, Deperiostierung und Ablösung von muskulären Strukturen werden derzeit vergleichende Untersuchungen durchgeführt. Bisher konnte festgestellt werden, dass die postoperativen Beschwerden vergleichsweise gering sind und die Anzahl der Komplikationen im Vergleich zu konventionellem Vorgehen nicht erhöht war. Dies trifft auch zu für die mikrochirurgische Entfernung teilretinierter Zähne mit mesialer Angulation (Kim et al. 2010). Hier kann in der Regel durch Separation unter mikrochirurgischen Bedingungen die für die Lappenbildung und den Nahtverschluss erforderliche Zeit eingespart werden. Nach den uns vorliegenden Erfahrungen größerer Fallzahlen, die in Kürze ausgewertet publiziert werden, ist nicht mit einer erhöhten Komplikationsrate bei der Weisheitszahnoperation zu rechnen. Die Weisheitszahnentfernung stellt in ihrer Form als Flapless Surgery besondere Anforderungen hinsichtlich der des Zuganges dar. Die initialen Erschwernisse der Zugangspräparation im retromolaren Feld werden durch die Vorteile mehr als ausgeglichen: Im Zusammenhang der Entwicklung konnten wir exemplarisch zeigen, dass eine ausschließlich von okklusal erfolgende Entfernung ohne jede Einschränkung realisiert werden konnte. Im Vergleich zur Studie von Kim et al. (2010), die sich auf teilretinierte Zähne bezogen, ist die okklusale Entfernung von vollständig retinierten Molaren zwar schwieriger und auch mit zunächst größerem Zeitaufwand verbunden, allerdings kann klar gezeigt werden, dass durch Verwendung der endoskopischen Technik der laterale Zugang nicht mehr erforderlich ist.
Schlussfolgerungen
Der okklusale minimalinvasive Zugang zum unteren Weisheitszahn bietet folgende Vorteile:
– Reduktion der durch Deperiostierung verbundenen Morbidität
– Ausschluss eines Frakturrisikos
– Strukturerhalt des Kieferkamms.
Die Anwendung dieser revolutionären Technik bei Zähnen in der ästhetischen Zone wird in einem weiteren Artikel im Oralchirurgie Journal 4/2011 vorgestellt. Nie wieder aufklappen zu müssen ist ein realistisches Therapieziel.