Endodontologie 31.08.2011
Endodontie und Dentalphobiker
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Überlegungen zur Gestaltung der Behandlungssituation in der Praxis
In dem vorliegenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich Praxisbedingungen und Praxismanagement sowohl im Sinne der Problempatienten als auch der Behandlungsqualität, also das Erreichen der endodontischen Therapieziele trotz Phobiebedingung, gestalten und optimieren lassen.
Nach aktuellen Erkenntnissen hat sich innerhalb der Zahnärzteschaft ein erkennbarer Bewusstseinswandel im Umgang mit Zahnbehandlungsängsten vollzogen (Thom 2011, S. 4). Demnach werden heutzutage diese seelischen und verhaltensbezogenen Einschränkungen bei Patienten wesentlich ernster genommen als früher. Zahnärzte sind sich im Klaren darüber, dass hier besondere Anforderungen vorliegen, sich mit den Ängsten und Nöten betroffener Patienten zu befassen. Auch lassen sich Rückschlüsse auf eine substanzielle Bereitschaft unter deutschen Zahnärzten „zur Fort- und Weiterbildung zu klinischen Aspekten der Zahnbehandlungsängste und zum Umgang mit solchen Angstpatienten konstatieren“ (Thom 2011, S. 4). Allerdings wird laut Mehrstedt (2007, S. 9 f.) hierzulande in der zahnmedizinischen Grundausbildung zwar die Vermittlung psychologischer Kenntnisse gefordert, in der universitären Ausbildung werden nach Angaben dieses Autors die betreffenden Inhalte dann jedoch oftmals nicht ausreichend vertieft. Ein besonders ausgeprägtes „phobisches Potenzial“ weisen nach derzeitigem Erkenntnisstand die (chirurgischen) endodontischen Eingriffe auf.
Zahnbehandlungsängste: Grundlagen und Übersicht
Kennzeichen, Abgrenzung und diagnostische Erfassung
Die „International Classification of Diseases“ (ICD) führt Zahnbehandlungsängste als manifeste psychische Störungen mit der Erkrankungscharakteristik eines speziellen phobischen Belastungserlebens auf (WHO 2007, ICD-Rubrik 40.2). Mithin gibt es nicht „die“ Zahnbehandlungsangst. Vielmehr sollte von Zahnbehandlungsängsten gemäß Mehrstedt et al. (2009, S. 235) besser in der Pluralform gesprochen werden, da die Ursachen dieser Störungen multikausal und das klinische Erscheinungsbild durchaus heterogen sein können. Die entsprechenden Ängste können sich beispielsweise auf eine spezifische zahnärztliche Maßnahme beziehen oder aber auf das gesamte Behandlungs-Setting. Jöhren und Sartory (2002, S. 17) weisen darauf hin, dass auch die Übergänge zwischen einem gleichsam normalen Unbehagen vor einem Zahnarztbesuch und manifesten Zahnbehandlungsängsten oftmals fließend sind. Gerade vor einem solchen Hintergrund kann es sinnvoll sein, mögliche Zahnbehandlungsängste und deren Ausmaß anhand valider diagnostischer Verfahren zu bewerten. Hierzu wurden in der Vergangenheit insbesondere Fragebögen und unterschiedlich strukturierte Abfragen zur Patientenselbsteinschätzung erarbeitet und für den deutschen Sprachraum angepasst (Jöhren und Sartory 2002, S. 39 ff.).
Prävalenz
Nach relativ übereinstimmenden Angaben in der Literatur findet sich für Deutschland eine Bevölkerungsgruppe von etwa 5 bis 10%, bei denen nicht mehr nur von ansatzweisen Zahnbehandlungsängsten gesprochen werden kann, sondern von einem phobischen Muster mit dem Resultat eines weitgehenden oder völligen Vermeidens erforderlicher Kontroll- oder Eingriffstermine beim Zahnarzt. Offenbar nehmen nur etwa 20 bis 30% der Menschen tatsächlich angstfrei einen Zahnarzttermin wahr (Halsband 2011, S. 24). Zieht man die internationale Literatur heran, so stellen Ängste vor einer zahnärztlichen Behandlung in den entwickelten Ländern geradezu ein „large-scale public health problem“ mit einer je nach Region anzunehmenden Prävalenz bis hin zu 20% dar (Collado et al. 2008, S. 35).
Auswirkungen
Als längerfristige Konsequenz von manifesten Zahnbehandlungsängsten können sich weitere schwerwiegende Probleme ergeben. Die Lebensqualität von Dentalphobikern ist zumeist erheblich eingeschränkt (Mehrstedt et al. 2002, Croft-Barnes et al. 2010). Im ungünstigsten Fall resultiert eine Negativspirale aus Angst, Vermeidung und Zahnschäden, die Mehrstedt (2007, S. 5) folgendermaßen kennzeichnete: „Die durch die Angst immer wieder bestätigte Hilflosigkeit kann ein schwindendes Selbstwertgefühl zur Folge haben, und der zunehmende, durch das Ausweichverhalten verursachte Zahnverfall führt dazu, dass die Angst weiter verstärkt wird. Diese Menschen nehmen häufig nur bei starken Schmerzen zahnärztliche Hilfe in Anspruch oder vermeiden sie ganz. Dies hat oft zur Konsequenz, dass die Zähne derart verfallen, dass Zahnschmerzen und schlecht aussehende oder abgebrochene Zähne es den Menschen unmöglich machen, den Arbeitsplatz zu behalten oder ein normales soziales Leben zu führen.“ Ein durch Zahnbehandlungsängste bewirktes Vermeidungsverhalten belastet durch den im Endeffekt bzw. zwangsläufig extrem hohen Sanierungsaufwand der Zähne das gesamte System der zahnärztlichen Versorgung, die Krankenkassen und Versichertengemeinschaft.
Endodontische Maßnahmen und Zahnbehandlungsängste
Endodontische Maßnahmen und phobisches Potenzial
Hinsichtlich der Ätiologie von Zahnbehandlungsängsten ist von einer multikausalen Verursachungsstruktur auszugehen bei der Erfahrungen, der (psycho-)soziale Hintergrund und auch dispositionelle Faktoren eine Rolle spielen (Janke und v. Wietersheim 2009, S. 420 f.). Auf jeden Fall wird die Entwicklung von Dentalphobien durch traumatische Erlebnisse bei Zahnbehandlungen, etwa unerwartete und heftige Schmerzen oder auch ein rohes Verhalten eines Behandlers, entscheidend gebahnt (Macher 2005, S. 37; Bisping 2009, S. 2). Invasive endodontische Maßnahmen und hierbei wiederum insbesondere Wurzelkanalbehandlungen lösen bei vielen Patienten offenkundig in einem besonderen Maße Angst aus oder stoßen auf diesbezügliches Vermeidungsverhalten. Gerade bei der endodontischen Therapie neigen Patienten auch dazu, im Vorfeld eine hohe Schmerzhaftigkeit anzunehmen bzw. ein späteres (tatsächliches) Schmerzempfinden zu überschätzen (Watkins et al. 2002). Autoren wie etwa van Wijk und Hoogstraten (2006, S. 386) machten im Zusammenhang mit ihrer Analyse der problematischen Koppelung von Schmerzerwartungen und Angstauslösung in der Endodontie darauf aufmerksam, dass manche Patienten sogar die Zahnextraktion einem „root canal treatment“ vorziehen würden.
Endodontie und Dentalphobiker: Gestaltungs- und Bewältigungsansätze
Die endodontische Behandlung beinhaltet sowohl für Dentalphobiker als auch für die involvierten Zahnärzte eine erhebliche Belastung und erfordert qualifizierte Gestaltungssmaßnahmen einschließlich einer effizienten Anxiolyse (Mathers 2010). Die Wahl des geeigneten Vorgehens sollte zunächst stets eine gründliche Anamnese und diagnostische Sicherung umfassen. Offenkundig werden aber zur Verfügung stehende valide und praktikable diagnostische Selbsteinschätzungsverfahren für Zahnbehandlungsängste (Patient) in den zahnärztlichen Praxen eher unzureichend genutzt; statt dessen fließen in die diesbezügliche Diagnostik teils Zufallseffekte oder die „Intuition“ von Behandlern mit ein (Jöhren und Sartory 2002, 36). Die Anwendung einer Vollnarkose namentlich bei Endodontiephobikern gewährleistet eine einfach erscheinende Lösung, um störende Verhaltenseffekte seitens dieser Problempatienten auszuschalten. Letztlich handelt es sich hier aber um ein symptomatisches Vorgehen, das eine tatsächliche Bewältigung der Angststörung nicht leisten kann. Als sinnvolle Alternative zu einer Anästhesiefokussierung bieten sich insbesondere bei den Endodontiephobikern Kombinationen von anxiolytischen und schmerzreduzierenden Vorgehensweisen mit praktikablen Entspannungs- und Desensibilisierungsverfahren an. Konkrete Hinweise zur Umsetzung solcher Verfahren und zu ihrer Effizienz auf empirischer Basis veröffentlichte u.a. die Amsterdamer Arbeitsgruppe um de Jongh (de Jongh und ten Broeke 2009). Die Wirksamkeit derartiger psychologischer Verfahren, früher oftmals skeptisch eingeschätzt, wird in der Gegenwart berechtigterweise deutlich positiver bewertet (Höfel 2010). In bestimmten Fällen wird natürlich die substanzinduzierte Versorgung der Dentalphobiker nicht entbehrlich sein. In diesem Zusammenhang findet in der neueren Fachdiskussion die qualifizierte Nutzung des schon im 19. Jahrhundert bekannten, aber zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Lachgases als eine Möglichkeit zur sicheren und effizienten Sedierung phobischer Patienten gerade bei endodontischen Maßnahmen wieder ein gesteigertes Interesse (Mathers 2010).
Fazit und Schlussfolgerungen
Manifeste Zahnbehandlungsängste haben in der Bevölkerung eine durchaus nicht zu unterschätzende Prävalenz. Endodontische Maßnahmen weisen hierbei besonderes „phobisches Potenzial“ auf. Im Handling solcher Patienten und auch von Verdachtsfällen kann durch die Integration von standardisierter Dentalphobiediagnostik in das Praxismanagement ein klarer Nutzwert erbracht werden. Eine unmittelbare Nutzenstiftung für phobische Patienten in der zahnärztlichen Praxis entfalten auch die mittlerweile zur Anwendungsreife entwickelten Entspannungs- und Desensibilisierungsverfahren, die gegebenenfalls mit der Gabe von Anxiolytika oder auch der in jüngerer Zeit vermehrt diskutierten Lachgassedierung kombiniert werden können. In der Regel wird die Orientierung auf solche speziellen psychologisch-zahnärztlichen Module gezielte Schulungen nicht nur der Zahnärzte, sondern auch der zugehörigen Praxisteams erfordern. Diese Fort- und Weiterbildung sollte nach Möglichkeit auch das Verhalten und die Kommunikation gegenüber Dentalphobikern jenseits der unmittelbaren Eingriffssituation am Behandlungsstuhl thematisieren (Compliance-Aufbau). Kritisch ist darauf hinzuweisen, dass solch eine Orientierung zunächst einmal einen nicht unbeträchtlichen Aufwand darstellt und auch der Regelung entsprechender kassenrechtlicher Fragen bedarf. Andererseits dürfte jede erfolgreiche Anstrengung, vor allem die extremen Dental- bzw. Endodontiephobiker für regelmäßige zahnärztliche Kontroll- und Behandlungsmaßnahmen gleichsam zurückzugewinnen, im Endeffekt eine auch gesundheitsökonomische Entlastung darstellen und zu einer eindeutigen Verbesserung der gesamten Lebensqualität betroffener Patienten beitragen.
Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.