Kieferorthopädie 28.02.2011
Lingualtechnik mit SLBs
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Dr. Hatto Loidl und Dr. Mathias Roloff stellen das selbstligierende Lingualbracketsystem EVOLUTION SLT® sowie dessen spezifischen Laborprozess bei Anwendung der modifizierten Hiro-Technik mit individuellen Übertragungskäppchen und Smart Jigs® vor.
Vor etwa zehn Jahren begann in Europa die Lingualtechnik in der Kieferorthopädie immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Allerdings war lediglich ein einziges Bracketsystem verfügbar und Versuche aus den USA der siebziger Jahre, diese Technik zu beherrschen, waren gescheitert.
In den letzten Jahren fanden eine Reihe weltweiter, europäischer sowie nationaler Konferenzen (WSLO, ESLO, DGLO) hinsichtlich dieser Behandlungsmethode mit zunehmenden Teilnehmerzahlen statt. Dies führte zu einer steigenden Zahl von Kieferorthopäden, die die Lingualtechnik in ihr Repertoire aufnahmen.
Lingualtechnik
Mittlerweile sind eine Fülle an neuen Bracketsystemen diverser Hersteller vorgestellt worden (adenta, American Orthodontics, DENTAURUM, FORESTADENT, GAC, Ormco usw.), die alle nach sehr unterschiedlichen Konzepten arbeiten. Einige davon legen besonderen Wert auf einen möglichst hohen Komfort und eine besonders geringe Beeinträchtigung der Sprache (JOY® von adenta, 2D® Lingual-Bracket von FORESTADENT, STbTM von Ormco). Andere Systeme wiederum sollen besonders gut in allen drei Dimensionen Kraft übertragen können (EVOLUTION® von adenta, magic® von DENTAURUM und In-Ovation® L von GAC). Diese sehr unterschiedliche Ausrichtung der einzelnen Brackets ermöglicht den Behandlern, sehr spezifisch auf unterschiedliche Behandlungserfordernisse einzugehen.
Laborprozess
Gegenüber dem direkten Kleben auf der labialen Zahnoberfläche sind hinsichtlich des klinischen Vorgehens die morphologische Variabilität sowie anatomischen Besonderheiten der Lingualflächen (z.B. Cingula, ausgeprägte Randleisten, akzessorische Höcker, Invaginationen) zu berücksichtigen. Bereits geringe Fehler bei der Bracketpositionierung führen zu vergleichsweise großen Zahnbewegungen.
Die Vorbereitung für das Einsetzen der Brackets in den Mund unserer Patienten unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Schwierigkeitsgrad der Behandlungen. Sind während einer Behandlung Be-wegungen in allen drei kieferorthopädischen Dimensionen erforderlich, insbesondere Torqueveränderungen und körperliche Bewegungen, so empfiehlt sich das indirekte Kleben. Die Bracketposition wird vorab im Labor bestimmt und mit Transferhilfen in den Patientenmund übertragen.
Spezifischer Laborprozess mit EVOLUTION SLT®-Brackets
Das von uns verwendete Verfahren basiert auf der Hiro-Technik. Die Besonderheit hierbei liegt in der von Dr. Loidl und der Fa. adenta* entwickelten Kombination von selbstligierenden Brackets (EVOLUTION SLT®) und dem System der Bracketübertragung mithilfe der Smart Jigs®.
Nach Abdrucknahme im Korrekturverfahren und Modellherstellung erfolgt die Aufstellung des Set-ups. Zunächst wird ein 0,0180 x 0,0250 Stahlbogen der lingualen Kontur des Set-up-Zahnbogens angepasst. Dieser Idealbogen stellt die Grundlage für das weitere Vorgehen dar.
Auf diese Weise ergibt sich die für die Lingualtechnik typische pilzförmige Bogenform. Nachdem sich alle Brackets an der richtigen Position am Bogen befinden, wird zur Individualisierung der Bracketbasen jedes einzelne Bracket mit einem lichthärtenden Kunststoff (z.B. Transbond LR®, 3M Unitek) beschickt, der Bogen in seine definierte Position zurück auf das Modell gesetzt und der Kunststoff ausgehärtet. Im Anschluss daran werden die Smart-Jigs® mit einer Elastikligatur am Bracket befestigt und die Übertragungskäppchen (Triad VLC Gel®) hergestellt (Abb. 1).
Aufgrund der Passgenauigkeit der Einzelkäppchen ist eine fehlerfreie Übertragung in den Patientenmund direkt vom Set-up-Modell möglich. Während die Käppchen früher nach dem Kleben im Mund zerstört und damit für ein erneutes Kleben nach Bracketverlust erst wieder neu angefertigt werden mussten, ist es bei der Verwendung von EVOLUTION SLT®-Brackets in Verbindung mit den Smart-Jigs® jederzeit möglich, verloren gegangene Brackets mit demselben Übertragungskäppchen erneut zu kleben (Abb. 2).
Fallbeispiele
Zu verschiedenen Behandlungssituationen werden im Folgenden zwei Patientenfälle vorgestellt.
Patient 1 (Abb. 3–13)
Bei dieser 25 Jahre alten Patientin lagen ein ausgeprägter Tiefbiss sowie ein Distalbiss vor. Weiterhin bestand im Oberkiefer ein leichter Engstand mit rotierten seitlichen Schneidezähnen. Wie bereits erwähnt, gehören Tiefbisse zu den Dysgnathien, die mit einer lingualen Apparatur besonders gut zu behandeln sind. Die Brackets der oberen Front wirken beim Zusammenbiss dabei als Aufbisse. Anders als bei Aufbissschienen kommt es bei der Lingualtechnik im Bereich der Molaren zu einer Disklusion, sodass die bukkalen Segmente elongieren können.
Bei einer zu großen vertikalen Diskrepanz, wie bei der hier dargestellten Patientin, sollten am Anfang der Behandlung auf den letzten Molaren zusätzlich Aufbisse angebracht werden, um die Kaufunktion aufrechtzuerhalten. Im weiteren Behandlungsverlauf werden diese dann mit zunehmender Bisshebung reduziert. Im frontalen Segment kommt es zu einer Intrusion. Im Laufe der Therapie wurden beide Kiefer ausgeformt, die Oberkieferfront konnte exvertiert und damit der sagittale Platz für den anschließenden Bissausgleich geschaffen werden. Mit Unterstützung von Klasse II-Gummizügen konnte schließlich eine Klasse I-Verzahnung erreicht werden.
Die Behandlung wurde ohne kieferchirurgische Maßnahmen erfolgreich beendet. Der Biss ist im Vergleich zum Beginn der Behandlung 6mm höher als davor.
Patient 2 (Abb. 14–18)
Diese 34-jährige Patientin hatte im ersten Quadranten eine nicht erhaltungswürdige Brücke von 15 nach 17. Diese zeigte überstehende Kronenränder und war aus parodontalhygienischer Sicht unzureichend. Im zweiten Quadranten war der Zahn 26 mit einer großen dreiflächigen Füllung versorgt. Gleichzeitig bestand eine sagittale Frontzahnstufe und ein ausgeprägter Engstand in der Front.
Die sagittale Frontzahnstufe sollte reduziert und der frontale Engstand aufgelöst werden. Um ausreichend Platz für eine Ausformung der Front zu erhalten und gleichzeitig die sagittale Frontzahnstufe reduzieren zu können, mussten Zähne extrahiert werden. Aus der oben beschriebenen Situation erschien es am sinnvollsten, nicht – wie normalerweise üblich – zwei Prämolaren zu entfernen, sondern im ersten Quadranten das Brückenzwischenglied zu entnehmen und im zweiten Quadranten den Zahn 26 zu entfernen. Ein Verankerungsverlust durfte nicht in Kauf genommen werden, da die Frontzähne distalisiert werden sollten, während die Molaren unter keinen Umständen nach mesial rutschen durften. Im vorliegenden Fall sollten die Prämolaren soweit distalisiert werden, bis die Front ausgeformt werden konnte. Danach sollte die Front distalisiert werden, um die sagittale Frontzahnstufe zu reduzieren. Dies konnte mit Unterstützung von zwei Miniimplataten im palatinalen Bereich der Molaren erreicht werden. Miniimplantate garantieren eine absolute Verankerung und die Molaren werden dabei nicht belastet.
Schlussfolgerungen
Durch die zunehmende Verbreitung der Lingualtechnik in der Kieferorthopädie entstehen einerseits vielfältige Möglichkeiten hinsichtlich der kosmetischen Bedürfnisse unserer Patienten. Andererseits erweitert die Lingualtechnik unsere therapeutischen Möglichkeiten in der Kieferorthopädie in einem bisher noch nie da gewesenen Ausmaß. Behandlungen von tiefen Bissen oder Therapien bei Patienten mit extremen horizontalen Knochenabbau werden durch ein günstigeres Verhältnis zwischen Kraftansatz und Widerstandszentrum der einzelnen Zähne sicherer und vorhersagbarer.
Allerdings fehlen bei dieser noch jungen Behandlungsmethode viele unterstützende wissenschaftliche Ergebnisse, die sich speziell mit der Lingualtechnik beschäftigen und die Ergebnisse aus der konventionellen labialen Kieferorthopädie ergänzen.
* (Anm. der Red.) adenta GmbH, www.adenta.com