Alterszahnmedizin 17.10.2025

Mit Haltung und Struktur: Seniorenzahnmedizin im Praxisalltag



Die Seniorenzahnmedizin ist eine Querschnittsdisziplin, die Lebenswirklichkeit, Multimorbidität und individuelle Bedürfnisse und Bedarfe älterer Menschen ins Zentrum der zahnärztlichen Behandlung und zahnmedizi­nischen Betreuung stellt.

Mit Haltung und Struktur: Seniorenzahnmedizin im Praxisalltag

Foto: De Visu – stock.adobe.com

Der demografische Wandel macht ­sie längst zu einem Hauptthema im Praxisalltag: Mehr als ein Drittel aller Patienten in deutschen Zahnarztpraxen ist heute über 65 Jahre alt – Tendenz steigend.1, 2 Zudem steigt die Zahl pflege­bedürftiger Menschen in Deutschland kontinuierlich3, und mit ihr die Herausforderungen für die zahnmedizinische Versorgung. Während gesetzliche Rahmen­bedingungen 4–7 neue Möglichkeiten eröffnen, bleiben struktu­relle Lücken bestehen.

Typische Herausforderungen dieser Altersgruppe sind chronische Allgemeinerkrankungen, Polypharmazie, eingeschränkte Mobilität und kognitive Einschränkungen. Auch sozioemotionale Faktoren wie Vereinsamung oder reduzierte Selbstachtsamkeit und damit auch der Umgang sowie die Akzeptanz einer eigenen Pflegenotwendigkeit spielen eine Rolle.8 Gleichzeitig verlangt der Umgang mit Betreuten und zunehmend auch von Menschen mit kognitiven Einschränkungen sowie deren Angehörigen ein hohes Maß an Kommunikation, Empathie und ethischem Fein­gefühl. Seniorenzahnmedizin erfordert deshalb nicht nur fachliches Know-how, interdisziplinäres Denken und Vernetzen, sondern auch einen barriere­freien Kopf (Einstellung und Haltung gegenüber dem Älterwerden und -sein) sowie strukturelle Anpassungen im Praxisablauf – von der Kommunikation bis zur Recallplanung.

Versorgungsketten statt Einzelakteure

Zahnmedizin sollte Teil eines strukturierten Versorgungssystems sein. Doch in der Praxis zeigt sich: Dieses System funktioniert nur punktuell. Immer noch ist die Versorgung älterer Menschen geprägt von Brüchen – beim Wechsel (Transition) in die Pflege, beim Verlust der Mobilität oder beim Eintritt einer gesetzlichen Betreuung.9

Gerade bei pflegebedürftigen Personen kann eine fehlende Anbindung an die Zahnarztpraxis dazu führen, dass einfache Befunde unbehandelt bleiben und sich dadurch zum Notfall entwickeln. Es braucht verlässliche Übergänge, z. B. wenn ein Patient aus der häuslichen Versorgung in eine stationäre Pflegeeinrichtung wechselt. Hier ist Teamarbeit zwischen Zahnarztpraxis, Hausarzt, Pflegedienst, Betreuung und Angehörigen gefragt. Ein gerostomatologisches Übergabemanagement ist bislang die Ausnahme, sollte aber Standard werden.9

Der rechtliche Rahmen: Einwilligung, Betreuung, mutmaßlicher Wille

Pflegebedürftige Menschen sind häufig nicht mehr in der Lage, medizinische Entscheidungen allein zu treffen. Dann greifen gesetzliche Betreuungen oder Vorsorgevollmachten. In der zahnärztlichen Praxis ist oft unklar: Wer darf entscheiden und was darf gemacht werden?
Grundsätzlich gilt: Eine Maßnahme darf nur erfolgen, wenn der Patient einwilligungsfähig ist – oder ein gesetzlich bestellter Betreuer (mit dem Aufgabenkreis „Gesundheitssorge“) oder Bevollmächtigter dies übernimmt. Ist auch das nicht möglich, muss der mutmaßliche Wille des Patienten berücksichtigt werden. Dieser ergibt sich aus bekannten früheren Äußerungen, dem Lebenskontext oder schriftlichen Festlegungen.10

PRAXIS-TIPP

Eine kurze, dokumentierte Rückfrage bei Angehörigen oder Pflegepersonal („Hatte der Patient in der Vergangenheit ­regelmäßig Zahnersatz tragen wollen?“) kann hier rechtlich wie menschlich eine hilfreiche Stütze sein.

Kommunikation: Wenn Worte fehlen

Viele ältere Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Demenz können sich nicht mehr sprachlich äußern. Umso wichtiger wird der Blick für nonverbale Signale: Schmerzreaktionen, Verweigerung von Nahrungsaufnahme, Unruhe bei bestimmten Handgriffen. Diese Zeichen ernst zu nehmen, ist Teil professioneller zahnmedizinischer Kommunikation. Gerade in der Kommunikation mit Betreuenden, Pflegekräften und Angehörigen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wichtige Maßnahmen sollten verständlich erklärt, Erwartungen realistisch eingeordnet werden. Der Zahnarzt wird hier nicht nur Behandler, sondern oft auch Übersetzer zwischen medizinischer Notwendigkeit und menschlicher Machbarkeit.

Pflegegrad ≠ Praxisverbot?

Nicht jeder Mensch mit Pflegegrad ist automatisch auf mobile zahn­ärztliche Betreuung angewiesen. Viele können mit etwas Unterstüt­zung durchaus eine Zahnarztpraxis aufsuchen und profitieren dort von einer vollständigen Ausstattung, Teamroutinen und bewährten ­Abläufen.11, 12 Wichtig ist eine niedrigschwellige Anbindung: Erinnerungsanrufe, flexible Terminvergabe, kurze Wartezeiten. Ebenso sollte der Weg zurück in die Praxis offenbleiben, wenn zwischenzeitlich mobile Betreuung nötig war. Auch hier: Struktur hilft – nicht zuletzt im Recallsystem.

Angehörige und Pflegekräfte als Schlüsselpersonen

In der Betreuung alter Menschen kommt den Angehörigen und Pflegepersonen eine zentrale Rolle zu. Sie sind nicht nur Begleitende, sondern auch wichtige Informations- und Motivationsquelle. Aufklärung, Anleitung und Wertschätzung ihres Beitrags zur Mundgesundheit sind essenziell. Eine ansprechende, gut verständliche Information wie der Flyer der Deutschen Gesellschaft für AlterszahnMedizin e.V. (Abb. links) kann helfen, das Thema Zahngesundheit im Pflegealltag präsent zu halten. Oft genügt ein kleiner Impuls, um große Wirkungen zu erzielen, etwa das tägliche Reinigen einer Prothese konsequent umzusetzen. Hierfür können auch die Instruktionsvideos zur Mundpflege hilfreich sein.

Geroprothetik und Kaufunktion – was wirklich zählt

Die Versorgung älterer Menschen mit Zahnersatz verlangt einen Perspektivwechsel: Nicht das technisch Mögliche, sondern das individuell Sinnvolle und Machbare stehen im Vordergrund. Ziel ist nicht die „perfekte Restauration“, sondern eine funktionelle, handhabbare, hygienefähige und sozial verträgliche Lösung – orientiert am tatsächlichen Bedarf und der Fähigkeit zur Nutzung. Ebenso sollte eine vorausschauende Planung, die die Abänderbarkeit oder Erweiterungsfähigkeit der Restauration im Blick hat, im Fokus stehen. Hier spielt das 3gS-Konzept der Geroprothetik eine entscheidende Rolle: Zahn­ersatz sollte simpel, solide und stabil geplant werden. Entscheidend ist, dass Prothetik im Alter nicht isoliert geplant wird. Die Einbeziehung von Pflegekräften, Betreuenden und Angehörigen sowie die realistische Einschätzung der Mundhygienefähigkeit gehören ebenso dazu wie die Option, auf Interims- oder Langzeitprovisorien auszuweichen. Geroprothetik ist Teamarbeit – im besten Sinn.

Kaumuskulaturtraining

Die Kaufunktion spielt ebenso eine zentrale Rolle. Studien zeigen: Eine gute Kaufunktion trägt nicht nur zur Ernährung und Lebensqualität bei, sondern wirkt sich auch positiv auf Kognition, Mobilität und soziale Teilhabe aus. Gerade bei älteren Menschen ist sie ein zentraler Marker für Selbstständigkeit. Des Weiteren ist bekannt, dass die Kaufunktion – also die Kaukraft und Kaueffizienz – durch ein aktives physiotherapeutisches Kaumuskeltraining, welches regelmäßig absolviert werden sollte, verbessert werden kann.13
Das Training umfasst drei Übungen (Grafik, Seite 36), die mithilfe einer kleinen Eieruhr für eine zeitliche Orientierung einfach durchgeführt werden können. Der Patient sitzt aufrecht und entspannt. Die Übungen können ortsunabhängig durchgeführt werden und eignen sich ideal für eine Integration in den Alltag (z. B. beim Fernsehen etc.). Übung 1 zielt darauf ab, die Kaukraft zu optimieren, während die Übungen 2 und 3 die Kaueffizienz mithilfe eines isometrischen Kraftaufbaus trainieren sollen.14

MasticatoRy Muscle Training (Ma | MU | t)*

Übung 1

Kraftausdauertraining und Koordination

  • Patient sitzt aufrecht
  • Silikonwürfel (1 × 1 × 1 cm) beidseitig kauen ohne Abbeißen

Übung 2

Aufbau von Kraft im Unterkiefer OHNE Bewegung!

  • Patient sitzt aufrecht
  • Mund leicht öffnen, Hand mit einem Finger auf die unteren Zähne legen
  • Druck auf den Unterkiefer nach unten bei gleichzeitigem Schluss des
    Mundes
  • keine Bewegung des Unterkiefers

Übung 3

Aufbau von Kraft in der Wange OHNE Bewegung!

  • Patient sitzt aufrecht, rechte/linke Hand auf die gleiche Kieferseite legen
  • Hand gegen den Unterkiefer drücken bei gleichzeitigem Druck des Unterkiefers gegen die Hand
  • keine Bewegung des Unterkiefers

Kaumuskulatur-Trainingsprogramm – Masticatory Muscle Training (MaMuT) zur Verbesserung der Kaukraft und Kaueffizienz.( Fotos: © Dr. Julia Jockusch) 

Fazit

Die Seniorenzahnmedizin beginnt schon vor dem Zeitpunkt, wenn der Patient im Behandlungsstuhl Platz nimmt – sie beginnt mit Strukturen, Kommunikation und dem Verständnis für die Lebenswelt der Betroffenen. Wer heute ältere Menschen versorgen will, muss nicht nur therapeutisch versiert sein, sondern auch vernetzt denken und empathisch handeln. Zukunftsfähige Versorgung gelingt dort, wo Teamarbeit, Haltung und Information zusammenkommen – für ein würdiges, sicheres und möglichst gesundes Altern. Seniorenzahnmedizin ist nicht langweilig, sondern fordert die Zahnärzteschaft, für fitte, gebrechliche und pflegebedürftige Senioren viele individuelle Lösungen zur Verfügung zu haben.

Prof. Dr. Julia Jockusch


Frau Prof. Jockusch, Sie sind seit April 2025 neu berufene Professorin in Brandenburg an der Havel – was hat Sie zu dem Wechsel an die Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB) bewogen und welche Bereiche decken Sie vor Ort ab?

Die MHB ermöglicht es mir, durch den innovativen Modellstudiengang Zahnmedizin von Beginn an die Zahnärztliche Prothetik und Seniorenzahnmedizin in der Forschung, Lehre und interdisziplinär in einem innovativen Rahmen zu denken und umzusetzen. Der modular strukturierte, praxisnahe Studiengang integriert früh Klinik-, Labor- und Patientenkontakt – ergänzt durch digitale Tools, Problemorientiertes Lernen und enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Das ist eine zukunftsweisende Basis für Studium und Versorgung.

Seit vergangenem Jahr sind Sie Beisitzerin der DGAZ. Welche Bereiche umfasst Ihre Arbeit?

In der DGAZ bringe ich mich bei den Themen „Angehörige“ und ­„Studierende“ ein. Derzeit liegt der Fokus auf dem Aufbau von Ideen und Netzwerken, um Angehörige künftig besser zu unterstützen und Seniorenzahnmedizin stärker in die Lehre einzubinden. Erste Projekte und Materialien sind in Planung.

Welchen Stellenwert wird die Seniorenzahnmedizin zukünftig haben?

Die Seniorenzahnmedizin wird fester Bestandteil jeder zahnärztlichen Tätigkeit sein. Das Interesse junger Kollegen ist hoch, wie die Teilnehmerzahlen z. B. im Curriculum Seniorenzahnmedizin der APW und der Deutschen Gesellschaft für AlterszahnMedizin e.V. (DGAZ) zeigen. Durch die Verankerung im Querschnittsbereich „Medizin und Zahnmedi­zin des Alterns und des alten Menschen“ in der neuen Approbationsordnung (ZApprO) könnte ­ sie für zukünftige Zahnärzte selbstverständlich werden – ergänzt durch mobile und alternative Versorgungskonzepte, welche durch die univer­sitäre Ausbildung in den jungen Zahnärzten im­plementiert werden könnten.

Weitere Infos zur Medizinischen Hochschule Brandenburg auf www.mhb-fontane.de.

ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis 09/25

ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis


Dieser Fachbeitrag ist in der ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis erschienen.

Seit 31 Jahren ist die ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis das führende Wirtschaftsmagazin für den Zahnarzt. Als General-Interest-Titel deckt sie das gesamte Spektrum der Praxisführung ab.

Das Wirtschaftsmagazin zählt mit seinen 12 Ausgaben im Jahr und einer Auflage von 40.800 Exemplaren zu den frequenz- und auflagenstärksten Titeln im deutschen Dentalmarkt. Zudem enthält jede Ausgabe das Supplement „ZWP spezial“, in dem besondere Themen vertieft werden.

Jetzt das ePaper lesen.

Literaturliste

* Jockusch J, Hahnel S, Sobotta BBAJ, Nitschke I. The Effect of a Masticatory Muscle Training Program on Chewing Efficiency and Bite Force in People with Dementia. lnt J Environ Res Public Health. 2022 Mar 22; 19(7):3778. doi: 10.3390/ijerph19073778. 
PMID: 35409460; PMCID: PMC8997984.

Mehr Fachartikel aus Alterszahnmedizin

ePaper