Kieferorthopädie 25.02.2022

COVID-19: Stress, der uns mit den Zähnen knirschen lässt

COVID-19: Stress, der uns mit den Zähnen knirschen lässt

Foto: Christine von Diepenbroek – shutterstock.com

Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) umfassen Schmerzen und/oder Dysfunktionen, die das craniomandibuläre Kauorgan betreffen. Genauer gesagt, beschreibt der Begriff CMD die Erkrankungen bzw. die Fehlfunktionen des Kausystems, wobei die Schmerzen in drei Strukturen auftreten können – der Kaumuskulatur, dem Kiefergelenk und den Zähnen. Häufige Symptome sind Gesichtsschmerzen, Kopfschmerzen, allgemeine Schmerzen und Empfindlichkeit der Kaumuskulatur und Zähne sowie die eingeschränkte Funktion des Unterkiefers und Kiefergelenks. Orofaziale Schmerzen gehören zu den häufigsten Gründen, die einen Patienten veranlassen, einen Arzt zu konsultieren.1 Oft sind diese Fehlfunktionen multifaktoriellen Ursprungs.

Durch biologische, biomechanische, neuromuskuläre, aber auch psychische Faktoren kann CMD als multikausales Geschehen verstanden werden.2,3 Oftmals sind Frauen häufiger als Männer betroffen und am prävalentesten in der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen.4 Zusätzlich ist es auch nachweisbar, dass der Umgang mit Stress eine nicht zu unterschätzende Komponente der Entwicklung dieser Dysfunktionen darstellt. Die COVID-19-Pandemie (Coronavirus disease 2019) führte Anfang 2020 weltweit zu massiven Veränderungen und stellte uns alle vor neue Herausforderungen. Die große Ungewissheit und die Unsicherheit mit dem Umgang dieses neuen Virus führten in mehreren Ländern zu restriktiven Maßnahmen mit weitreichenden Folgen. Weltweit haben Lockdown-Maßnahmen, Isolationen, Existenzängste und Sorgen über das gesundheitliche Wohlbefinden zu Veränderungen der täglichen psychischen Belastungen in der Bevölkerung geführt. Durch einen hohen Druck der Anpassung führte diese Zeit viele Menschen an ihre Grenzen – so hat die Pandemie einen Wandel der Stressbelastung und eine Veränderung des Stresslevels herbeigeführt. Vorläufige Studien aus Israel, Polen, Italien und Brasilien erlauben nun auch Einblicke in diese kontraproduktiven Entwicklungen und zeigen, wie diese Belastungen ebenso eine Veränderung von Zahn- und Kiefer- Problematiken (u. a. CMD) hervorrufen konnte. So haben die Studien aus Israel ergeben, dass der Stress und die Angst, welche die Bevölkerung während des ersten Lockdowns erlebte, zu einem signifikanten Anstieg der orofazialen Kieferschmerzen sowie des Bruxismus (Kieferpressen und Knirschen) untertags und des Zähneknirschens in der Nacht führt.5 Genauer gesagt knirschten die Testpersonen nachts um 26 Prozent mehr als vor der Pandemie.5 Zudem trat das Knirschen um 15 Prozent häufiger auf.5 Des Weiteren wurde in einem Vergleich der Online-Fragebögen bei den Daten von Israel und Polen erkannt, dass die Altersgruppen von 18-35 Jahren und von 36-55 Jahren häufiger von Bruxismus betroffen waren. Zusätzlich zeigten 34 Prozent der polnischen Teilnehmer, dass sich ihre Symptome und die Problematik während der Krise verschlimmert hatten.5 Das bedeutet, die Symptome sind ortsunabhängig – Menschen gehen weltweit ähnlich mit Stress um. Die Studie aus Brasilien belegt dies ebenso. Sie zeigt, dass die pandemiebedingten sozialen Isolationen einen großen Einfluss auf die sozialen Determinanten hatten und konnte belegen, dass die Präsenz von orofazialen Schmerzen in dieser Zeit zusätzlich erhöht war.6 Außerdem wurden auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt.6

In einer anderen Studie aus Italien befasste man sich besonders mit dem Zeitpunkt der Verschlechterung dieser Schmerzsymptome im Vergleich zu den zunehmenden Einschränkungen und Veränderungen der COVID-19-Krise.7 Die Resultate dieser Studie zeigen, dass bei mehr als 50 Prozent der Probanden der zunehmende Stress mit einem „verschlechterten sozialen Zustand“ korrelierte.7 Zusätzlich gaben 60,8 Prozent der Teilnehmer an, dass die Schmerzen erst mit Beginn des Lockdowns begonnen hatten.7 Die Ergebnisse dieser Studie unterstützen die Hypothese, dass der erlebte Stress während des Lockdowns das Auftreten von Kiefergelenkerkrankungen und Gesichtsschmerzen beeinflusst bzw. eigens hervorgerufen hat. Auch ist es bemerkenswert, dass Zahnärzte in Amerika einen Anstieg an Zahnfrakturen in Folge dieser Entwicklungen der letzten sechs Monate erkennen.8

Fazit

Die Pandemie erforderte unser aller Veränderung des menschlichen Verhaltens insbesondere auch in Bezug auf soziale Beziehungen. Die gewohnte Routine durch uns vertraute Kontakte wurde gestört, und somit wurde auch ein grundlegender Teil der Gesundheit und des gewohnten alltäglichen Lebens in vielen verschiedenen Aspekten beeinträchtigt.9,10 Anhand der vorliegenden Studien ist zu erkennen, dass SARS-CoV-2 uns wahrscheinlich auf viel mehr Ebenen beeinflusst hat als uns bisher bewusst war. Die Patienten haben dieses Phänomen nur teilweise selbst wahrgenommen und können die Verbindung zwischen Stresszuständen und CMD nicht nachvollziehen oder in Beziehung bringen. Gerade deshalb ist es sinnvoll, aufzuzeigen, dass CMD bei Patienten durch die letzten Jahre zugenommen hat und die Stressentwicklung ins Negative geraten ist. Dies gilt es, schleunigst wieder umzukehren und den Patienten langfristig zu helfen, um größeren körperlichen und seelischen Schaden abwenden zu können. Die Aufklärung in der Zahnarztordination ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, der wahrgenommen werden sollte. Des Weiteren sollte eine Therapie angestrebt werden, in der eine klinische und instrumentelle Funktionsanalyse durchgeführt wird, die als Basis der initialen Schienentherapie dienen.

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Autorin: Dr. Vivian C. Hirsch, MClinDent

Dieser Beitrag ist im Prophylaxe Journal erschienen.

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