Kieferorthopädie 02.03.2018

Prävention und Korrektur von Neigungen der Okklusionsebene



Prävention und Korrektur von Neigungen der Okklusionsebene

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Ein Beitrag von Prof. Dr. Steven J. Lindauer, Direktor der Abteilung Kieferorthopädie der zahnmedizinischen Fakultät der  Virginia Commonwealth University.

Damit eine qualitativ hochwertige kieferorthopädische Versorgung möglich wird, müssen genaue Unterlagen zusammengestellt werden, auf denen die Diagnose und der Behandlungsplan aufgebaut sind. Die Erstellung eines Planes, anhand dessen jeder Patient von seinem Anfangspunkt aus den Endpunkt der Okklusion erreicht, die eine kieferorthopädische Behandlung normalerweise zum Ziel hat, bringt beträchtliche Anstrengungen mit sich. Je nach der Erstvorstellung können verschiedene Ziele in den Blick genommen werden, dental und fazial, in funktioneller sowie in ästhetischer Hinsicht.

In Anbetracht dessen, wie viel Aufmerksamkeit dem Behandlungsplanungsprozess gewidmet wird, ist es stets beunruhigend, wenn während der kieferorthopädischen Behandlung etwas Unerwartetes oder nicht Geplantes geschieht. Von pathologischen Prozessen einmal abgesehen, kann zwar darüber gestritten werden, aber von diesen unerwarteten Phänomenen stört vielleicht die Entwicklung eines anterior offenen Bisses, der zu Anfang nicht gegeben war, am meisten oder das Auftreten einer transversalen Neigung der anterioren Okklusionsebene.

Ein Beispiel einer Patientin, die bei der Behandlung unerwarteterweise eine Neigung der anterioren Okklusionsebene entwickelte, ist auf Abbildung 1 zu sehen. Bei dieser Patientin führte der Versuch des Kieferorthopäden, einen hochstehenden, nicht durchgebrochenen, bukkal verlagerten Eckzahn zu extrudieren, zu einer starken Kippung der Schneidezähne von der Patientin aus betrachtet nach rechts mit einer Intrusion der benachbarten Zähne. Das Ergebnis war in diesem Fall dramatisch und hätte aufgrund des schlecht ausgereiften Mechanikplans, der eingesetzt wurde, erwartet werden können.

Obwohl es offensichtlich zu sein scheint, haben Versuche gezeigt, dass eine Neigung der anterioren Okklusionsebene in ästhetischer Hinsicht nicht wünschenswert ist. Olivares et al.1 haben gezeigt, dass Kieferorthopäden, Allgemeinzahnärzte und Laien allesamt eine nicht um 2° geneigte Okklusionsebene bevorzugten, wobei 4° als erheblich weniger wünschenswert betrachtet wurde. Ähnlich dazu stellten Springer et al.2 fest, dass die mittlere Toleranz von Laien für eine Neigung der Okklusionsebene 2,8° betrug. Deshalb ist es wichtig, dass sich Kieferorthopäden der Bedingungen bewusst sind, die zu einer Neigung der Okklusionsebene führen, damit eine passende Mechanik konzipiert werden kann, die diese verhindert.

Erkennen, wann sich eine Fehlstellung entwickeln kann

Es gibt drei grundlegende Wege, wie eine Neigung der anterioren Okklusionsebene bei einer kieferorthopädischen Behandlung auftreten kann.  Wenn der Behandler sie kennt, kann er in der   Therapieplanungsphase darauf achten, sodass eine andernfalls unerwartete Enttäuschung vermieden werden kann.

Der erste dieser drei Gründe für die Entwicklung einer Neigung der Okklusionsebene während der Behandlung ist der offensichtlichste: ein ungünstiges Kräftesystem, das von der physikalischen Position der Zähne erzeugt wird und leicht zu erkennen ist. Ein Beispiel ist in Abbildung 2a zu sehen. Der Patient hat einen hochstehenden oberen linken Eckzahn. Greift ein durchgängiger Bogendraht in diesen Zahn ein, führt das zur Entwicklung einer Neigung (Abb. 2b). Das vom Bogen erzeugte Kräftesystem führt zu einer Extrusion und einem distalen Kippen des Eckzahns, während der benachbarte laterale Schneidezahn intrudiert und ebenfalls nach distal kippt, wie in Abbildung 2c dargestellt.3, 4

Zu guter Letzt kann eine anteriore Neigung der Okklusionsebene aufgrund einer geometrischen Konfiguration der Zähne entstehen, die ein ungünstiges Kräftesystem herbeiführt. Dies ähnelt der ersten Situation. In diesem Fall sind aber die erzeugten Kräfte als solche unerwünscht, da sie die Zähne in die entgegengesetzten Richtungen verschieben, als es gewünscht oder manchmal ohne eine gründliche biomechanische Untersuchung sogar erwartet wird. Dieses Phänomen ist als „inkonsistentes Kräftesystem“ bekannt, und ein Beispiel dafür ist in Abbildung 4a zu sehen. In diesem Fall erzeugt die mesiale Kronenangulation des oberen linken Eckzahns ein starkes Kräftepaar zum Aufrichten des Eckzahns, aber als Resultat erfährt der Eckzahn eine intrusive Kraft anstelle der gewünschten extrusiven Kraft (Abb. 4b). Das führt trotz eines stärkeren Bypass-Bogens, der verhindern soll, dass sich die Neigung entwickelt, zu einem ziemlich dramatischen Resultat (Abb. 4c).

Die Entwicklung einer Ebenenneigung vermeiden

Sobald das Risiko für die Entwicklung einer Neigung erkannt worden ist, kann ein alternativer Mechanikplan entworfen werden, damit es nicht dazu kommt. Ein Beispiel dafür, wie die Entwicklung einer Ebenenneigung vermieden werden kann, wurde in Abbildung 4 gezeigt. In Abbildung 4a wird der Einsatz eines starken Vierkant-Bypass-Bogens gezeigt, der alle Zähne im Bogen als Verankerung zusammenhalten sollte, um mithilfe eines leichten Nickel-Titan-Bogens den gekippten Eckzahn zu extrudieren und aufzurichten. Das ist für gewöhnlich ein guter Plan, um unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden, obwohl er in diesem Fall keinen Erfolg brachte.

Abbildung 5 veranschaulicht einen anderen, noch einfacheren Mechanismus zur Vermeidung von unerwünschten Nebeneffekten bei inkonsistenten Kräftesystem-Geometrien. In diesem Fall wird ein Cantilever-Draht vom Molaren aus eingesetzt, als Kontaktpunkt am Eckzahn verankert und nicht in den Bracketslot des Eckzahnbrackets eingeführt (Abb. 5a). Da der Draht nicht in den Slot eingebracht wird, entsteht am Eckzahn kein Kräftepaar, und es ergibt sich daraus nur eine extrusive Kraft (am Eckzahn, Abb. 5b). Der Eckzahn wird extrudiert und aufgerichtet, weil die Kraft anterior zum Widerstandszentrum des mesial gekippten Eckzahns ausgeübt wird.4, 6

Die Korrektur einer Neigung der anterioren Okklusionsebene

Manchmal kann doch trotz aller Bemühungen, eine sorgfältige Planung zu erstellen und unerwünschte Nebeneffekte im Voraus zu kalkulieren, eine Neigung der anterioren Okklusionsebene auftreten. Frühere Artikel haben die unterschiedlichen Bogenkonfigurationen beschrieben, die für die Ausübung von asymmetrischen Kräften zur Korrektur von Neigungen der anterioren Okklusionsebene eingesetzt werden können.7–9 Die vorgestellte Mechanik ist stimmig, und es können alle Methoden, die anterior eine asymmetrische Kraft ausüben, zur Korrektur einer Neigung eingesetzt werden. Es ist jedoch auch wichtig, daran zu denken, dass jedes Kräftesystem, das einseitig konzipiert und implementiert wird, auch nur einseitig Nebeneffekte bewirkt.

Ein Beispiel für die Verwendung von einseitig konzipierten Bögen, über die zwecks Korrektur einer Neigung Kräfte ausgeübt werden, wird in Abbildung 6 gezeigt. Bei diesem Patienten entwickelte sich bei der Behandlung oben auf der rechten Seite eine Neigung. Es wurden Cantilever-Drähte von den Molaren aus verwendet, um ein Kräftepaar auf die Frontzähne zu erzeugen und die anteriore Okklusionsebene gegen den Uhrzeigersinn zu rotieren (Abb. 6a). Der Hebel auf der rechten Seite des Patienten erzeugte eine extrusive Kraft, während der Hebel auf der linken Seite eine intrusive Kraft erzeugte und somit auf die anteriore Okklusionsebene ein gegen den Uhrzeigersinn wirkendes Kräftepaar ausgeübt wurde.

Das klingt erst einmal ideal, bis man berücksichtigt, dass der Cantilever-Draht gleiche, aber entgegengesetzte Kräftesysteme auf die rechten und linken Molaren erzeugt (Abbildungen 6b und 6c). Die Hebel werden über einen Molarenhilfstube befestigt. Der rechte Molar kippt nach mesial und intrudiert, während der linke Molar nach distal kippt und extrudiert. Ohne eine Kontrolle würden diese Nebeneffekte im Nachhinein Asymmetrien verursachen; sie können vermieden werden, indem die Molaren über einen Transpalatinalbogen miteinander verbunden werden.

Ein einfacherer Weg der Korrektur von Neigungen der anterioren Okklusionsebene ist der Einsatz eines Kräftesystems, das auf beiden Seiten gleich (oder ähnlich) auf beide Molaren wirkt, aber die anteriore Kraft asymmetrisch ausübt. Ein Beispiel ist in Abbildung 7 zu sehen. Dieser Patient stellte sich mit einer Neigung der oberen anterioren Okklusionsebene nach links unten sowie mit einem tiefen Überbiss vor. Es wurde ein Intrusionsbogen verwendet, um asymmetrisch eine intrusive Kraft aufzuwenden, indem der Bogen anterior nur an den linken und nicht an den rechten Schneidezähnen fixiert wird (Abb. 7b). Die Kraft wird links des Widerstandszentrums der Frontzähne ausgeübt und die Zähne intrudieren, da die anteriore Okklusionsebene gegen den Uhrzeigersinn rotiert (Abb. 7c).

Eine extrusive Kraft kann auf ähnliche Weise asymmetrisch ausgeübt werden, wenn der Patient z. B. einen offenen Biss hat. Der Patient in Abbildung 4 entwickelte aufgrund des mesialen Winkels des oberen Eckzahns auf der linken Seite eine Neigung der Okklusionsebene. Es wurde eine extrusive Kraft asymmetrisch auf die Frontzähne ausgeübt, links vom Widerstandszentrum, um die Frontzähne zu extrudieren und die anteriore Okklusionsebene im Uhrzeigersinn zu rotieren (Abb. 8).

Fazit

Auch wenn es ganz offensichtlich besser ist, bei der Planung vorsichtig vorzugehen und die Entstehung von Neigungen der Okklusionsebene zu vermeiden, werden sie sich bei einer kieferorthopädischen Behandlung gelegentlich und unerwarteterweise entwickeln. Das kann daran liegen, dass bei der Diagnose etwas übersehen wurde, an schlecht durchdachter Mechanik oder vielleicht an einer unvorteilhaften Reaktion trotz sorgfältiger Planung. Zudem kann es vorkommen, dass sich einige Patienten vor Behandlungsbeginn mit Neigungen der anterioren Okklusionsebene vorstellen, die behandelt werden müssen.

Oft können Neigungen der anterioren Okklusionsebene, die nachweislich dentalen Ursprungs sind, mithilfe einfacher Mechanik korrigiert werden. Bei tatsächlichen skelettalen Asymmetrien, die zu einer Neigung führen, ist es oft besser, sich auf eine Verankerung mithilfe einer Minischraube oder einer Miniplatte zu verlassen oder eine chirurgische Korrektur einzuplanen.

Die vollständige Literaturliste gibt es hier.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten 3/18 erschienen.

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