Kieferorthopädie 07.05.2021

Therapie von Klasse III-Dysgnathien



Therapie von Klasse III-Dysgnathien

Foto: Dr. Bashar Muselmani

Die Behandlung einer skelettal bedingten Angle-Klasse III stellt zweifellos eine Herausforderung im klinischen Praxisalltag dar, zumal deren Verlauf durch verschiedene Faktoren maßgeblich mit beeinflusst wird (z. B. individuelle Ätiologie sowie Morphogenese). Der folgende Artikel zeigt anhand zweier Patientenbeispiele mit Wechsel- bzw. bleibendem Gebiss die erfolgreiche Anwendung eines Therapiekonzepts, bei dem passiv selbstligierende Brackets zum Einsatz kamen.

Die Anzeichen der echten (vererbten) Progenie können schon bei Zweijährigen erkannt werden, da der progene Biss das auffallendste Symptom ist, welches im Wechselgebiss und bleibenden Gebiss wiederkehrt. Bei Kleinkindern gestaltet sich jedoch die Unterscheidung eines progenen Zwangsbisses von der echten Progenie mitunter als schwierig.4

Das klinische Bild einer mandibulären Prognathie lässt sich differenzialdiagnostisch einer dentoalveolären oder skelettalen Klasse III mit „Ursache“ im Unter- oder Oberkiefer oder einer Kombination von beidem zuordnen. Die Abklärung, welche Diagnose tatsächlich zutrifft, erfolgt hierbei mithilfe von klinischen sowie technischen Analysen, insbesondere in der Lateralebene (Abb. 1a–d).5 

Dento-alveoläre Klasse III

Extraoral ist dieser Befund in der Lateralebene durch einen relativ harmonischen Gesamtprofilverlauf charakterisiert, bei dem jedoch eine positive Lippentreppe mit nach ventral vorspringender Unterlippe sowie das Fehlen einer Sublabialfalte bei korrekter Nasen- und Kinnlage auffallen. Intraoral dominiert bei seitlicher Okklusionsbetrachtung neben einer Angle-Klasse III-Verzahnung zumeist eine negative Frontzahnstufe. Es kann auch eine Kopfbissstellung vorliegen.

Die kephalometrischen Daten weisen hinsichtlich der basalen Relation eine sagittale Harmonie der skelettalen Werte auf, mit Ausnahme des mandibulären Prognathiegrades (SNB-Winkel). Dieser ist größer als der maxilläre Prognathiegrad (SNA-Winkel). Der ANB-Winkel weist einen negativen Wert auf.

Die dento-basale Relation kann eine dem vorstehenden alveolären Unterkieferbereich entsprechende Protrusionsstellung der Unterkiefer-Inzisivi aufweisen, mit gleichzeitiger Retrusionsstellung der Oberkiefer-Inzisivi.

Was die dentoalveoläre Relation betrifft, zeigt diese neben der charakteristischen Klasse III-Okklusion häufig Lücken in der Front sowie im Seitenzahnbereich.

Skelettale Klasse III (Mandibuläre Prognathie)

Die auch als „echte“ Progenie bezeichnete sagittale Überentwicklung des Unterkiefers stellt eine vererbte Dysgnathie dar.7 Diese kann bereits im Milchgebiss voll ausgeprägt sein. Mitunter entwickelt sie sich erst beim Übergang zum Wechselgebiss und zeigt sich in ihrer ganzen Schwere dann in Erwachsenenalter. Für das therapeutische Vorgehen gelten hierbei zwei Grundsätze: so früh wie möglich und so lange wie möglich behandeln.2,3

Kritische Phasen liegen dabei im Schneidezahnwechsel und in der Pubertät, sodass die Behandlung darüber hinaus zwingend fortgeführt werden muss. Allein schon die Länge die Behandlung verlangt einen hohen Einsatz, auch und vor allem vonseiten des Patienten. Als Therapieziele gelten hierbei die funktionelle Hemmung des Unterkieferwachstums, die Erzielung eines gesicherten und regelrechten Überbisses sowie die Erreichung einer korrekten Neutralbissverzahnung.

Als unterstützende Maßnahme hat sich das Tragen einer Kopf-Kinn-Kappe am Tage sowie nachts und vor allem während der funktionellen Betätigung des Unterkiefers bei den Mahlzeiten bewährt. Diese zusätzliche Führung verhindert, dass der Unterkiefer gewohnheitsmäßig vorgeschoben wird. (Abb. 2a–c, Abb. 3).5,9 Eine progene Verzahnung von Einzelzähnen ist in der ersten Phase des Wechselgebisses zu beheben. Die Symptome könnten hierbei ein Zeichnen für eine dentoalveoläre oder skelettale Klasse III sein, so wie es in folgendem Fallbeispiel dargestellt wird.

Klinisches Fallbeispiel 1 (Wechselgebiss)

Der Patient stellte sich im Alter von acht Jahren und elf Monaten mit seinen Eltern in unserer Praxis vor. Extaoral zeigten sich ein konkaves Gesichtsprofil sowie eine positive Lippentreppe (Abb. 4a–c). Die intraorale Untersuchung ergab einen unteren Frontzahnvorbiss (progene Verzahnung von 11, 21/31, 41).

Sehr auffällig war die parodontale Situation bei den Zähnen 31 und 41. So zeigte sich ein Zahnfleischrückgang (Rezession) infolge einer umgekehrten traumatischen Okklusion (Kreuzbiss, Abb. 4d–f).

Die kephalometrische Analyse ergab eine dolichofaziales Wachstum. Der SNA-Winkel betrug 83,6°, der SNB-Winkel 83,2°, der ANB-Winkel –1,6° und der Wits-Wert lag bei –14,6 mm, was den klinischen Symptomen einer skelettaen Klasse III entsprach (Abb. 5a–e).

Behandlungsverlauf

Wir begannen, im Oberkiefer (Zähne 12-22) Brackets zu kleben (Damon® Q Low Torque, Fa. Ormco). Zunächst sollte das Ausformen des Zahnbogens im oberen Frontzahnbereich bei Einsatz eines geringen lingualen Torques und gleichzeitiger Vermeidung einer Retrusionsstellung der Oberkiefer-Inizisivi erfolgen. Als initialer Bogen wurde hierfür in beiden Kiefern ein .013er CuNiTi-Teilbogen einligiert (Abb. 6).

Acht Wochen später wurden weitere Zähne (53, 54, 55, und 63, 64, 65) bebändert (Special Mini Brackets, MBT .022'' Slotgröße, 3er mit Hook, Fa. Orthana), und wir wechselten auf einen .014''er CuNiTi-Bogen (Abb. 7). Zehn Wochen nach Therapiebeginn wurde die Behandlung im Unterkiefer gestartet, auch hier erfolge zunächst nur die Bebänderung der Schneidezähne (Damon® Q Standard Torque, Fa. Ormco). Es wurde ein 013''er CuNiTi-Teilbogen eingegliedert. Gleichzeitig erfolgte im Oberkiefer ein Bogenwechsel (.018er'' CuNiTi, Abb. 8).

Zwei Wochen später konnten wir bereits bei Zahn 11/41 einen positiven Überbiss beobachten (Abb. 9). Um ein weiteres Ausformen des unteren Zahnbogens zu erreichen, wurden weitere zwei Wochen später die Zähne 74 und 84 beklebt (Special Mini Brackets, MBT .022'' Slotgröße, Fa. Orthana) und ein 0.14''er CuNiTi-Bogen einligiert. Im Oberkiefer wechselten wir parallel auf einen .014'' x .25'' CuNiTi. Die Zähne 73 und 83 wurden aufgrund ihrer Bewegung während des Zahnwechsels ohne Brackets belassen (Abb. 10a und b).

Nach insgesamt zehnmonatiger Behandlung war das Therapieziel erreicht, sodass die Apparatur entfernt werden konnte. Die finalen Ergebnisse, Röntgenaufnahmen sowie die kephalometrische Analyse zum Behandlungsende sind in den Abbildungen 11a–c, 12a–c sowie 13a–f dargestellt. In den Abbildungen 14a und b ist noch einmal der Vorher-Nachher-Vergleich zu sehen. Die Verbesserung des Gingivazustands bei Zahn 33 die korrigierten Mittellinien sind deutlich erkennbar.

Diskussion

Keinesfalls gehören Gebissanomalien mit dem Hauptsymptom falsch verzahnter Einzelzähne grundsätzlich zu den leicht behandelbaren Malokklusionen. So kann sich hinter einer falschen Verzahnung eines Einzelzahns mitunter eine schwere Dysgnathie verbergen, deren wahres Ausmaß erst im Laufe der Gebissentwicklung deutlich wird.8 Eine skelettale Klasse III (progene Verzahnung) kann im frühen Kindesalter als Gebissanomalie mit dem Leitsymptom falsch verzahnter Einzelzähne gesehen werden. Sie kann aber auch als eine Orientierung für einen frühzeitigen Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung gelten und als solche verstanden werden. Im gezeigten, ersten Fallbeispiel konnten mithilfe eines einfachen Behandlungsmittels (passives Multibracketsystem) gute Ergebnisse erzielt werden.

Klinisches Fallbeispiel 2 (permanentes Gebiss)

Die Patientin stellte sich im Alter von elf Jahren und drei Monaten gemeinsam mit ihren Eltern in unserer Praxis vor. Extraoral zeigten sich ein konvexes Gesichtsprofil sowie eine positive Lippentreppe (Abb. 15a–c). Die intraorale Untersuchung wies eine progene Verzahnung mit Tendenz zu einem frontal offenen Biss auf. Die Mesialbisslage lag dabei links und rechts über einer ½ Pb im Molaren- und Eckzahnbereich (Abb. 15d–f).

Die kephalometrische Analyse ergab ein dolichofaziales Wachstum. Der SNA-Winkel lag bei 76,3°, der SNB-Winkel bei 77,0°, der ANB-Winkel bei –2,7° und der Wits-Wert bei –7,7 mm, was den klinischen Symptomen einer skelettalen Klasse III entsprach (Abb. 16a–f).

Behandlungsverlauf

Unser Ziel war es, im Frontzahnbereich einen positiven Überbiss zu erhalten und die Klasse III im Eckzahn- und Molarenbereich soweit wie möglich in eine Klasse I-Verzahnung umzustellen. Dafür setzen wir im Ober- und Unterkiefer eine passiv selbstligierende Multibracketapparatur ein (Damon® System, Standard-Torque, Fa. Ormco). Als initialer Bogen wurde in beiden Zahnbögen ein .013''er CuNiTi einligiert. Da zunächst der offene Biss reduziert werden sollte, setzten wir in diesen ersten Behandlungsschritten noch keine Brackets mit unterschiedlichen Torquewerten ein (Abb. 17a–c).

Binnen zehn Wochen konnte im Frontzahnbereich bereits eine gute Verzahnung erzielt werden, sodass in beiden Kiefern ein erster Bogenwechsel (.014''er CuNiTi) erfolgen konnte (Abb. 18).

In der dreizehnten Behandlungswoche erfolgte der Wechsel auf einen .014'' x .025''er CuNiTi (Oberkiefer) bzw. .018''er CuNiTi (Unterkiefer, Abb. 20). Die Abbildung 21a–c zeigt den Therapiefortschritt in der 14. bis 30. Woche. Im achten Behandlungsmonat wechselten wir erneut den Bogen. Es kamen in beiden Kiefern nun .019'' x .025''er Stahlbögen zum Einsatz (Abb. 22a–c).

Die Behandlung inklusive Retentionsphase dauerte insgesamt 18 Monate. Nach dem Entfernen der Apparatur wurde im Unterkiefer von 3-3 ein fixer Retainer geklebt. Die finalen intra- und extraoralen Aufnahmen sind in den Abbildungen 23a–c sowie 24a–c dargestellt. Die Abbildungen 25a–f zeigen die finalen Röntgenaufnahmen inklusive kephalometrischer Analyse, die Abbildungen 26a und b sowie 27a und b den Vorher-Nachher-Vergleich anhand FRS-Grafiken sowie intraoraler Bilder.

Diskussion

Auch bei diesem Patientenbeispiel konnte das angestrebte Therapieziel mithilfe eines passiv selbstligierenden Bracketsystems bei Anwendung verschiedener Torquewerte sowie mittels adäquater Behandlungsbögen sicher und problemlos erzielt werden. Kombiniert mit dem frühen Einsatz von Klasse III-Gummizügen ermöglicht dieses Behandlungskonzept eine leicht umsetzbare Korrektur skelettaler Klasse III-Malokklusionen (mandibuläre Prognathie).1,6,11

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Dieser Beitrag ist in KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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