Kieferorthopädie 28.02.2011
Die Königsteiner Hybrid-Technik
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Welche Vorteile und Möglichkeiten sich für den Behandler bei Kombination von lingualem (UK) und bukkalem Bracketsystem (OK) eröffnen, erläutern die Dres. Maresa Tegtmeyer und Thomas Banach aus Königstein/Taunus.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff Königsteiner Hybrid-Technik?
Der Ausdruck „Hybrid“ hat die Bedeutung von etwas Gebündeltem, Gekreuztem oder Gemischtem. Allgemein versteht man in der Technik unter „Hybrid“ ein System, das zwei Technologien miteinander kombiniert. Die Besonderheit liegt darin, dass durch das Zusammenbringen der unterschiedlichen Elemente neue gewünschte Eigenschaften entstehen. In unserem Fall wird ein linguales Bracketsystem im Unterkiefer mit einem bukkalen Bracketsystem im Oberkiefer kombiniert.
Welche Herausforderungen stehen einer effizienten Behandlung mit einer bukkalen Multibracketapparatur entgegen?
Die meisten unserer Patienten weisen eine distale Bisslage oft mit einem verstärkten vertikalen Frontzahnüberbiss auf.1 Die wichtigste Behandlungsaufgabe ist deshalb die Überführung in eine neutrale Bisslage (Angle Klasse I) verbunden mit der Bisshebung. Die bukkale Multibracketapparatur steht diesen Behandlungszielen oftmals im Wege. Ursächlich hierfür ist die Interferenz der bukkalen Unterkieferbrackets mit der antagonistischen Zahnreihe. Diese führt einerseits zu einem späteren Behandlungsbeginn der unteren Zahnbogenausformung, wenn zunächst die Nivellierung des Oberkiefers abgewartet wird. Andererseits ist man auf zusätzliche festsitzende oder herausnehmbare bissöffnende Apparaturen wie Biteturbos, Biteplanes oder Aufbisse angewiesen, um gleichzeitig in beiden Kiefern mit der Behandlung beginnen zu können.
Hauptnachteil aller Aufbisse ist die bissöffnende Komponente mit dem Verlust der Interkuspidation der Seitenzahnreihen. Dadurch wird die im Vorfeld oft aufwendig mittels herausnehmbarer oder festsitzender funktionskieferorthopädischer Geräte oder Distalisierungsapparaturen eingestellte Angle-Klasse-I-Verzahnung wieder aufgehoben (Abb. 1). Zudem ist der Komfort des Patienten durch die insuffiziente Mastikation deutlich eingeschränkt. Auch können bei Patienten mit Bruxis-mus durch Aufbauten – je nach Härte des verwendeten Aufbaumaterials – Abrasionen an den Antagonisten entstehen.
Was sind die Vorteile der Königsteiner Hybrid-Technik?
Die Königsteiner Hybrid-Technik bietet dem Behandler viele Vorteile und Möglichkeiten, die im Folgenden aufgeführt und näher erläutert werden sollen:
1. Die Brackets können auf der Lingualfläche im Unterkiefer ideal, kompromisslos und interferenzfrei geklebt werden, ohne dass zusätzlich bissöffnende Apparaturen gebraucht werden (Abb. 2).
2. Die Lingualapparatur im Unterkiefer erlaubt eine weit inzisale Bracketpositionierung im Frontzahnbereich. Sie ermöglicht deshalb eine sehr schnelle und effektive Nivellierung der Spee-Kurve mit entsprechender Bisshebung. Das heißt, dass bereits ein völlig planer Drahtbogen ein intrusives Moment auf die Frontzähne ausübt. Auf eine Nivellierung der Zahnreihen in der Vertikalen durch „Sweep“-Bögen kann verzichtet werden.
3. Eine Intrusion der Unterkieferfront mit einer bukkalen Multibracketapparatur hat aufgrund der großen Distanz zum Widerstandszentrum immer ein hohes protrusives Moment als unerwünschte Nebenwirkung. Durch die unmittelbare Nähe des Kraftansatzpunktes zum Widerstandszentrum im Fall der Lingualapparatur entstehen kaum protrusive Momente bei anliegender intrusiver Kraft (Abb. 3). Eine unerwünschte Protrusion findet somit nicht statt.2
4. Ein physiologisch korrekter Overbite kann mit einer stabilen frontalen Abstützung am Wende-/Basispunkt eingestellt werden.3
5. Die im Vorfeld der Behandlung mit herausnehmbaren/ festsitzenden funktionskieferorthopädischen Geräten oder Distalisierungsapparaturen eingestellte Klasse I-Verzahnung bleibt während der gesamten Multibracketbehandlung mit vollem okklusalen Kontakt erhalten (Klasse I-Plattform). Dies bedeutet, dass die vorherige Einstellung einer Angle-Klasse-I-Verzahnung als Phase des Verankerungsaufbaues angesehen werden kann. Die stabile Verzahnung und die Okklusalflächen sind uns in der Multibracketbehandlung als Verankerungsgewinn von Nutzen und können als Retentionsbooster in vollem Umfang ausgenutzt werden.
6. Die Behandlung kann sofort bialveolär begonnen werden, ohne dass eine vorherige Nivellierungsphase des Oberkiefers abgewartet werden muss. Somit wird die Gesamtbehandlungsdauer bzw. das Behandlungsintervall mit einer Multibracketapparatur so kurz wie möglich gehalten.
7. Durch die bukkale Platzierung der Oberkieferbrackets kann auch hier kompromisslos nach rein funktionellen Erwägungen geklebt werden. Des Weiteren scheint klinisch die Torquekontrolle im Oberkiefer besonders entscheidend zu sein. Insbesondere die Stellung der oberen Inzisivi erfordert präzise Torquierung, z.B. bei der Klasse II/2.4
Welche Bracketsysteme eignen sich für die Königsteiner Hybrid-Technik?
Im Oberkiefer kann prinzipiell jedes auf dem Markt erhältliche bukkale Bracketsystem verwendet werden. Im Unterkiefer benutzen wir ausschließlich das 2D®-Lingual-Bracketsystem*. Wir arbeiten gern mit diesem System, da es selbstligierend und im praxisinternen Handling unkompliziert ist. Zur Optimierung dieses Systems haben wir für die Front die sogenannten MiniAnts** entwickelt. Sie zeichnen sich durch eine deutlich reduzierte Basisbreite bei Beibehaltung der Twin-Form aus.
In der Lingualtechnik können gerade in der Unterkieferfront zusätzliche Finishing-Maßnahmen zur Optimierung des Behandlungsergebnisses notwendig sein. Für unerwünschte Rotationen wird hierzu ein Tucker oder ein Guide auf den 0.0140 australischen Bogen angesetzt und eine Rotationsbewegung des Instrumentes durchgeführt, um eine Biegung 1. oder 2. Ordnung zu erhalten.
Die klassische 2-D-Apparatur hat den designbedingten Nachteil der geringen Interbracketdistanz, wodurch der Tucker keinen Platz findet. Somit waren Finish-Biegungen bislang nur extraoral durchführbar, was ein zeitaufwendiges Aus- und Einligieren des Bogens und eine gewisse Ungenauigkeit zur Folge hatte. MiniAnts bieten dem Behandler folgende Vorteile:
• frühzeitige Bracketplatzierung auch bei ausgeprägten Engständen
• verbesserte Rotationskontrolle in der Unterkieferfront durch Doppelflügel
• für das Finishing erforder-liche Ausgleichsbiegungen sind immer intraoral, d.h. einfach und effizient durchführbar
• verminderte Kraftapplikation durch vergrößerte Interbracketdistanz.
Wie ist die Königsteiner Hybrid-Technik abschließend zu beurteilen?
Festzuhalten ist, dass bei der Königsteiner Hybrid-Technik die Lingualapparatur aus rein funktionellen Gründen verwendet wird. Bislang wurden linguale Apparaturen vorwiegend aus ästhetischen Gründen benutzt. Die interferenzfreie Bracketplatzierung ermöglicht eine sehr effiziente, dreidimensionale Ausformung der Zahnbögen. Die Okklusalflächen dienen in der gesamten Zeit der Multibracketbehandlung als sogenannte Retentionsbooster. Vorher verwendete funktionskieferorthopädische Apparaturen (Herbst/FMA) oder Distalisierungsapparaturen werden somit effektiv unterstützt. Der Erhalt der Klasse I-Verzahnung steht im Vordergrund unserer Therapie. Die Behandlungszeit verkürzt sich.
Um die Königsteiner Hybrid-Technik in der Praxis zu verwenden, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass individualisierende Biegungen vom Behandler beherrscht werden müssen. Dazu gehören die Off-Sets distal der Eckzähne, um die labiolinguale Differenz zwischen Eckzähnen und Prämolaren auszugleichen, sowie die oben beschriebenen Finishing-Biegungen für eine genaue Einstellung der unteren Frontzähne.5
Nicht geeignet ist die Königsteiner Hybrid-Technik bei Patienten, die eine genaue Torquekontrolle im Unterkiefer benötigen, z.B. bei den meisten Klasse III-Fällen.
Zusammenfassend sprechen die in unserer Praxis gemachten Erfahrungen dafür, dass in vielen Fällen die Königsteiner Hybrid-Technik aus den genannten Vorzügen einer konventionellen Behandlungsmethodik vorzuziehen ist.
Fallbeispiele/Kasuistik
Diagnose
Die Fallstudie zeigt einen 12-jährigen männlichen Patienten, der im Rahmen einer 1,5-jährigen Frühbehandlung mit einer Gaumennahterweiterungsapparatur, aktiven Platten und einem Twin-Block vorbehandelt wurde. Der klinische kieferorthopädische Anfangsbefund zeigte eine Angle-Klasse I-Verzahnung, eine dentale Mittellinien-Verschiebung im Oberkiefer nach rechts, einen moderaten Platzverlust für 13 und 23 sowie Einzelzahnfehlstellungen (Abb. 4–8).
Behandlungsziele
Erhalt der Angle-Klasse I-Okklusion, Ausformen der Zahnbögen, Einordnung von 13 und 23, Beseitigung der Einzelzahnfehlstellungen.
Behandlungsschritte
1. 2by4-Apparatur im Oberkiefer für eine Lückenöffnung Regio 13 und 23 mit Druckfedern, Einstellen der Oberkiefer-Mittellinie.
2. Königsteiner Hybrid-Technik mit In-Ovation® C-Brackets*** im Ober- und 2D®-Lingual-Brackets im Unterkiefer (Abb. 9–13).
3. Retention mit Positioner.
Ergebnis
Die aktive Behandlungszeit betrug 16 Monate. Die Behandlungsziele wurden erreicht (Abb. 14–18).
*/** (Anm. d. Red.) Fa. FORESTADENT Bernhard Förster GmbH, www.forestadent.de
*** (Anm. d. Red.) Fa. DENTSPLY GAC Deutschland, www. gac-ortho.de