Oralchirurgie 11.04.2011
Aktuelle Trends in der Oralchirurgie
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Die operative Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und die Implantologie stehen wie keine andere Disziplin im Fokus neuester Entwicklungen. Minimalinvasive, gewebeerhaltende oder ästhetische Oralchirurgie sind nur einige der Begriffe, die die aktuellen Trends in der zahnärztlichen Chirurgie kennzeichnen.
Die Entwicklung im Bereich der Knochenersatzmaterialien, die Angebote an neu entwickelten modernsten chirurgischen Instrumenten und Geräten, der Einsatz von OP-Mikroskopen und nicht zuletzt die Möglichkeiten der 3-D-Diagnostik durch Etablierung der digitalen Volumentomografie bestimmen maßgeblich die Fortschritte im Bereich der Oralchirurgie und Implantologie. Neben der Anwendung des DVT für Implantatplanung und -therapie ergeben sich eine Reihe von Indikationen für die 3-D-Diagnostik in der operativen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.
Der Einsatz des DVT ist zur Beurteilung der Lagebeziehung retinierter und verlagerter Zähne zu Nervstrukturen und zu den Wurzeln benachbarter Zähne indiziert. Die dreidimensionale Darstellung verlagerter oder überzähliger Zahnkeime erleichtert die Entscheidung, ob eine operative Entfernung oder eine kieferorthopädische Einstellung indiziert ist. Die Beurteilung von zystischen Prozessen oder die dreidimensionale Darstellung zur Beurteilung von Traumata im Kieferbereich sind weitere Indikationen zum Einsatz des DVT. In vielen weiteren Indikationen ist es möglich, eine sichere Diagnostik und damit eine bessere chirurgische Planung mittels DVT zu erreichen. Als Beispiele gewebeerhaltender operativer Maßnahmen seien u.a. die Kieferhöhlenrevision und der Erhalt der fazialen Knochenwand oder der Einsatz der Piezotechnologie in der Knochenchirurgie, z.B. bei Wurzelspitzenresektionen mit Erhalt eines vestibulären Knochendeckels, zu nennen.
Fortschritte und neue Entwicklungen in anderen Teilbereichen der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde haben Einfluss auf die Oralchirurgie. Die moderne Endodontie bietet verbesserte Möglichkeiten zum Zahnerhalt. Die Revision insuffizienter endodontischer Versorgungen erübrigt in vielen Fällen die Durchführung von Wurzelspitzenresektionen. So ist die Zahl der Eingriffe zur chirurgischen Zahnerhaltung insgesamt rückläufig. Zunehmend zeigt sich in der Implantologie die Tendenz, selbst komplexe Fälle mit ausgedehntem Hart- und Weichgewebedefizit minimalinvasiv durch Einsatz von Knochenersatzmaterialien zu therapieren. Der Wegfall der Morbidität des Entnahmebereichs ist immer noch ein wesentliches Argument für die Suche nach Alternativen zur herkömmlichen Knochenentnahme und -transplantation.
Wenn auch nach wie vor zur vertikalen Augmentation der Einsatz autologen Knochens als Erfolg versprechendste Methode bezeichnet werden kann, gibt es Ansätze, z.B.die Verwendung von Beckenkammknochen in Zukunft durch „Bone-marrow-Konzentrate“ (Harvest/BMAC) in Verbindung mit langzeitstabiler Trägermatrix (z.B. Bio-Oss) einzubringen. Durch „Tissue Engineering“ biologisch hergestellte Transplantate werden bei bestimmten Indikationen die Augmentation von Eigenknochen ersetzen.
Stammzellen zur Züchtung von Knochengewebe werden zukünftig die bisherigen Verfahren der Knochenregeneration und des Knochenersatzes ergänzen. Aktuell wurden bereits verschiedene experimentelle Strategien entwickelt und Ansätze verfolgt, Stammzellen in osteogene Zelllinien und dann in Prozesse des „in vitro“ Tissue Engineerings von Knochengewebe zu überführen. Erste Ansätze der Arbeiten mit „dental pulp stem cells“ lassen erkennen, dass sich damit auch osteogene Zellen und damit Gewebe zum Knochenersatz oder zur Knochenregeneration herstellen lassen. Bisher sind praktische Anwendungen der Stammzellenforschung noch nicht verfügbar; in den nächsten zehn Jahren könnte jedoch Tissue Engineering aus Stammzellen therapeutische Realität werden.
Ein wesentlicher Aspekt moderner Oralchirurgie ist auch der Erhalt von Hart- und Weichgewebe in Zusammenhang mit Extraktionen oder operativen Zahnentfernungen für eine spätere Implantation. Socket- und Ridge-Preservation gehören heute zu den Standardverfahren der Oralchirurgie und können nachweislich die Voraussetzungen für eine in funktioneller und ästhetischer Hinsicht optimale Implantatversorgung oder ästhetische konventionelle prothetische Versorgung verbessern.
Bedeutung des demografischen Trends für die Oralchirurgie
Die steigende Lebenserwartung und die damit einhergehende Multimorbidität unserer Patienten machen neue Konzepte zur Anästhesie und perioperativen Betreuung der Patienten bei zahnärztlich-chirurgischer Versorgung notwendig. Zunehmend wird der Oralchirurg in seiner Praxis mit der chirurgischen Versorgung älterer Risikopatienten konfrontiert werden. Behandlungen unter Sedierung und Monitoring, erweiterte postoperative Betreuung älterer Risikopatienten auch bei ambulanten Eingriffen durch entsprechende postoperative Versorgungskonzepte gehören zur oralchirurgischen Therapie dieser Patientengruppe.
Strukturelle Veränderungen
Durch die wissenschaftlich-fachlichen Veränderungen wird sich auch eine Änderung der oralchirurgischen Praxisstruktur ergeben. Die Einzelpraxis als Überweisungspraxis wird die Ausnahme werden, da die Bereitstellung moderner Techniken und kostenintensiver Einrichtungen wirtschaftlich nur noch in einem größeren Praxisverbund zu realisieren ist. Der Trend, hin zu lang dauernden z.B. operativen implantologischen Eingriffen über einige Stunden, erfordert eine Praxisorganisation, die die Versorgung von Notfällen und Akutpatienten durch weitere Kollegen des Teams sicherstellt. Immer weniger stationäre und immer mehr ambulante Eingriffe beschreiben den aktuellen Trend in allen chirurgischen Disziplinen. Lang dauernde stationäre Nachsorge auch bei umfangreichen chirurgischen Eingriffen wird heute nur noch bei Risikopatienten mit entsprechendem Betreuungs- und Überwachungsbedarf gesehen. Eine Veränderung des oralchirurgischen Therapiespektrums ergab sich in den letzten Jahrzehnten durch die Versorgung von Patienten mit Polytraumata in Schwerpunktkliniken. Routinemäßig werden Patienten mit Kopfverletzungen und Kieferfrakturen in Kliniken versorgt, die eine interdisziplinäre Versorgungsstruktur mit Neurochirurgie, HNO und Neuroradiologie verfügen. Die Anzahl der Traumata, die durch niedergelassene Oralchirurgen und Kieferchirurgen konsiliarisch oder in Belegtätigkeit versorgt werden, ist im gesamten Bundesgebiet auch dank der insgesamt rückläufigen Kopfverletzungen bei Verkehrsunfällen stark rückläufig.
Orale Chirurgie ist ein wichtiges Bindeglied der Zahnheilkunde zur Medizin. Orale Chirurgie ist auch orale Medizin. Die Bedeutung der „oralen Medizin“ in der Oralchirurgie wird zunehmen, Oralchirurgen werden in Zukunft mehr als in der Vergangenheit als Ansprechpartner bei Diagnose und Therapie von Erkrankungen, die Auswirkungen und Manifestation im oralen Bereich zeigen, eingebunden sein.
Veränderungen an Mundschleimhaut oder Parodont als Symptom internistischer, hämatologischer oder immunologischer Erkrankungen, die chirurgische Versorgung von Risikopatienten, Chirurgie bei Patienten unter Antikoagulantientherapie sind nur einige Beispiele für die wichtige Verbindung zahnärztlicher Chirurgie zur Allgemeinmedizin. Oralchirurgie und Implantologie in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit allen Teilbereichen der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und in enger Verbindung zur Medizin sind und bleiben Kernbereich moderner Zahnmedizin.