Parodontologie 21.02.2011
Parodontalerkrankungen in Entwicklungsländern
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Parodontitis-Studien aus Ländern mit schwacher medizinischer Infrastruktur können interessante Hinweise auf den Verlauf der unbehandelten Erkrankung liefern. Ein Forschungsteam der Universität Witten/Herdecke unternahm eine Studie in Gambia und zeigt deren Relevanz für Westeuropa.
Die Epidemiologie parodontaler Erkrankungen in Industrienationen mit guter zahnmedizinischer Versorgung ist mittlerweile gut dokumentiert; sie beinhaltet jedoch immer ein Bias im Hinblick auf den natürlichen Erkrankungsverlauf, weil die klinische Parodontologie ein fester Bestandteil der zahnärztlichen Therapie geworden ist. Daher können Parodontitis-Studien aus Ländern mit schwacher medizinischer Infrastruktur wichtige Hinweise auf den unbehandelten Erkrankungsverlauf liefern.
Solche Informationen können hilfreich sein, Therapiekonzepte auf der Grundlage wertvoller, weil seltener wissenschaftlicher Daten zu überprüfen. Die Ergebnisse einer epidemiologischen Studie im westafrikanischen Staat Gambia werden im Folgenden auf ihre Relevanz für westliche Länder interpretiert.1 Dabei bestätigen sich erneut die Schlüsselerkenntnisse der modernen Parodontologie.
Epidemiologische Indizes zur Erkrankungscharakterisierung?
Während die Datenlage zur Zahnkaries in Gambia in den vergangenen Jahren aktualisiert wurde, liegen nur wenige Informationen zu Parodontalerkrankungen vor.2 Daher wurde in einer Querschnittsuntersuchung der parodontale Gesundheitszustand in ländlichen Regionen Gambias erfasst, um daraus einerseits Angaben zur Prävalenz und andererseits zum Behandlungs- sowie Personalbedarf abzuleiten.
Die Studie zeigte, dass mit zunehmendem Alter ein signifikant ansteigender Attachmentverlust beobachtet werden konnte. Kein Proband wurde in der Klassifikation des Community Periodontal Index (CPI) in den Grad 0 bzw. 1 eingeordnet, was auf einen hohen Bedarf an Mundhygieneaufklärung hinweist. Entsprechend der Verteilung des CPI wurden außerdem 85 % der Patienten in den Behandlungsbedarfsgrad TN II eingestuft, der eine prophylaktische Betreuung inklusive parodontalchirurgischer Maßnahmen (Scaling) erfordert. Die übrigen Probanden wiesen einen Bedarf für weiterführende diagnostische und therapeutische Maßnahmen auf. Mit zunehmendem Alter stieg der GPM/T-Index (bei dem Gingivitis, Parodontitis und fehlende Zähne betrachtet werden) kontinuierlich an. Der reine Gingivitisbefall ohne parodontalen Attachmentverlust verblieb über alle Altersgruppen annähernd unverändert und schwankte zwischen fünf und sieben Zähnen. Der Anteil der parodontitisfreien Zähne nahm hingegen stetig ab. Eine entsprechende Zunahme der an Parodontitis befallenen Zähne konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf flache Taschen mit einem Attachmentverlust bis zu 5,5 mm. Die Prävalenz tiefer Taschen war gering; auch im Bereich der moderaten Parodontitis war eine Zunahme um durchschnittlich einen erkrankten Zahn erst ab einem Lebensalter von 35 Jahren zu verzeichnen. Stattdessen stellte sich ein sprunghafter Anstieg fehlender Zähne auf das Doppelte ab einem Alter von 55 Jahren dar.
Die Betrachtung des individuellen Parodontalzustandes durch epidemiologische Indizes wie dem Community Periodontal Index (CPI) oder des Parodontalen Screening Index (PSI) scheint bei genauer Betrachtung regelmäßig zu einer Überschätzung des Behandlungsbedarfs auf der Ebene des Individuums zu führen. Diese Einschätzung wurde auch schon früher als Schwachstelle formuliert.3 Weil jeweils der höchste gefundene Wert eines Zahnes stellvertretend für einen gesamten Sextanten steht, entscheiden im Zweifelsfall sechs Zähne über die parodontale Erkrankungsschwere auf Patientenebene. In einem vollbezahnten Gebiss (ohne Weisheitszähne) sind dies 21 % aller Zähne. In der aktuellen Klassifikation parodontaler Erkrankungen4 werden zumindest 30 % Befallsrate gefordert, damit die Parodontitis als generalisiert eingestuft wird.
Auf individueller Ebene kann die Sensitivität dieses Verfahrens, als Maß für die richtig-positive Erkennung von Erkrankten, als nicht ausreichend bezeichnet werden. Es muss sich ein ausführlicher Parodontalstatus anschließen, um die tatsächliche Erkrankungsschwere zu bestimmen. Die Spezifität, als Maß für die richtig-negative Erkennung von Gesunden, dürfte hingegen die Anforderungen für solche Testverfahren von 80 % Trefferquote gut erfüllen. Bei einem unauffälligen Screeningergebnis erscheint also ein Parodontalstatus als verzichtbar.
„The dentition is intended to last a lifetime”
Ausgehend von der Evidenz, dass das Risiko von Parodontalerkrankungen mit dem Alter zunimmt5, fällt die Erkrankungsrate für chronische Verlaufsformen bei Jugendlichen deutlich geringer aus als bei Erwachsenen und Senioren. Bei den unter 15-Jährigen leiden in Deutschland 13 % an einer mittelschweren und 0,8 % an einer schweren Parodontitis, bei den Erwachsenen zwischen 35 und 44 Jahren kommt die mittelschwere Form bei 53 %, und bei 21 % eine schwere Form der Parodontitis vor.6
Bei der Betrachtung des parodontalen Gesundheitszustandes von Entwicklungsländern in Afrika anhand des CPITN fällt eine hohe Prävalenz von Zahnstein sowohl in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen als auch in der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen auf. In beiden Altersgruppen werden parodontal gesunde Verhältnisse entsprechend dem CPITN Code 0 sehr selten beobachtet. Flache Taschen zwischen 3,5 mm und 5,5 mm werden im Gegensatz zu tiefen Taschen in allen Altersgruppen deutlich häufiger angetroffen als in Regionen mit gutem (zahn-)medizinischen Versorgungsgrad. Andererseits zeigten Untersuchungen aus Tansania, Kamerun, Kenia, Guinea-Bissau, Nigeria und Uganda, dass die Anzahl der Zähne in der Mundhöhle in diesen Ländern deutlich über der Zahnzahl in den gleichen Altersgruppen von Industrieländern in Europa oder Nordamerika lag.7
Obwohl die Anzeichen parodontaler Erkrankungen in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrienationen deutlich verstärkt vorkommen, ist der Anteil erhaltener Zähne vergleichsweise hoch. Ein massiver Zahnverlust schon im frühen Lebensalter scheint also weniger ein Ausdruck des natürlichen Erkrankungsverlaufs zu sein als vielmehr eine Folge des zahnmedizinischen Versorgungsgrades. Die natürliche Exfoliation infolge Parodontalerkrankungen scheint also eher ein seltenes Ereignis zu sein.
Der deutliche Zusammenhang von sinkender Zahnzahl und zahnärztlicher Versorgungsdichte wurde bereits in einer Schlüsselliteratur „The dentition is intended to last a lifetime“ von Ainamo hervorgehoben8, mit allen Implikationen eines konservativen Therapieregimes und Mut zu einer besonnenen Diagnostik. Demnach sollten diese bereits Mitte der 1980er-Jahre formulierten Empfehlungen erneut im Rahmen der modernen parodontologischen Betreuung ins Gedächtnis gerufen werden, um der komplexen und vor allem chronisch verlaufenden Erkrankung der Parodontitis durch exakte Diagnostik und mit angemessener Geduld zu begegnen.
Eine ausführliche Literaturliste finden Sie hier.