Branchenmeldungen 03.03.2023
Craniomandibuläre Dysfunktion ganzheitlich betrachten
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Ein offener oder falsch stehender Biss kann schnell zu einer massiven Fehlstellung eines oder beider Kiefergelenke und schlussendlich zu einer schmerzhaften craniomandibulären Dysfunktion – kurz CMD – führen. Physiotherapeutin und Mitgründerin des Projekts Kieferwissen, Stefanie Kapp, hat mit Gesunder Kiefer – Gesunder Körper ein spannendes Nachschlagewerk verfasst, welches nicht nur über Folgen und Therapie einer CDM aufklären, sondern auch als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden soll. Die Autorin gibt im Interview Einblick in das Beschwerdebild CMD und Möglichkeiten der Abhilfe.
Frau Kapp, es gibt verschiedene Möglichkeiten für Mediziner und Therapeuten, um eine CMD festzustellen. Der Zahnarzt erkennt dies womöglich durch Zeichen, wie Abrieb durch Pressen, der Kieferorthopäde durch die Fehlstellung und ein Therapeut kann feststellen, welche Funktionsstörungen be stehen. Kann man eine CMD einwandfrei erkennen?
Eine Parodontitis, welche stark auf das Pressen hinweisen könnte, wird vom Zahnarzt entdeckt. Denn wenn jemand sehr presst, gerät das Zahnfleisch unter Kompression, dadurch wiederum entstehen Entzündungen. Dann kann der Zahnarzt diagnostizieren, dass Entzündungen des Zahnfleischs bestehen. Das wäre der erste Hinweis, dass etwas im gesamten System nicht stimmt und geändert werden muss. CMD benötigt jedoch eine ganzheitliche Betrachtung. Dazu braucht es immer ein interdisziplinäres Netzwerk, zu dem weitaus mehr gehören als nur der Zahnarzt. Dieser ist dafür da, die Zähne zu beurteilen. Den Biss beurteilt der Kieferorthopäde, welcher bei einer CMD noch interessanter ist als die Untersuchungen der Zähne durch den Zahnarzt. Das Thema wurde den Zahnärzten mehr aus Abrechnungsgründen zugeschoben. Die Kieferorthopäden durften Zahnschienen nicht abrechnen, der Zahnarzt aber schon. Das hat sich aber inzwischen geändert, denn Kieferorthopäden können die Zahnstellung sehr gut beurteilen. Trotzdem ist es wichtig, dass der Zahnarzt den Status der Zähne beurteilt, zum Beispiel ob es Störfelder durch Entzündungen oder Narben gibt. Er kann gleichfalls beurteilen, ob sich in der Funktionsanalyse des Kiefersystems Auffälligkeiten zeigen. Das heißt jedoch noch nicht, dass etwas, was auf einem bildgebenden Verfahren (MRT, Röntgen) auffällig ist, wie zum Beispiel eine Arthrose, dann auch mit Beschwerden einhergehen muss. Zum Beispiel bei der Untersuchung von Lendenwirbelsäulenschmerzen muss nicht zwangsläufig der Bandscheibenvorfall die Ursache sein. Es wurden für Studien die Lendenwirbelsäulen von gesunden Menschen im MRT betrachtet und man stellte einen Bandscheibenvorfall fest,1 obwohl bis dahin fühlbar keinerlei Probleme aufgetreten waren. Sprich, Bilder betrachten gibt keine Aussage zu den Beschwerden des Patienten. Im Umkehrfall gibt es Patienten, bei denen im MRT der Lendenwirbelsäule gar nichts auffällig war, die aber trotzdem Beschwerden hatten. Bedeutet, der Zahnarzt beurteilt die Zähne und den ganzen Zahnhalteapparat und erstellt daraufhin eine Funktionsanalyse, um zu schauen, welche Auffälligkeiten vorliegen. Aber das entspricht nur einem Teil des gesamten Organismus. Es braucht bei einer CMD-Untersuchung und Behandlung mehr Spezialisten als nur den Zahnarzt.
Mir fällt ein Ausdruck in Bezug auf CMD immer wieder auf: die normgerechte Kieferstellung. Was genau ist diese Norm?
Aus meiner Sicht, als Physiotherapeut, setze ich immer auf die Körperhaltung – also wie steht jemand da? Aber auch hier wieder: Was ist die Norm? Früher wurde gesagt, die Haltung, die Soldaten einnehmen, entspräche der Norm. Aber dies sollte man ernsthaft hinterfragen. Wer hat eine dauerhafte Haltung wie ein Soldat, der ja darauf getrimmt ist, in einer bestimmten Position – die auch nicht seine Norm ist – zu stehen? Daran wurde die Norm jedoch ausgerichtet. Das ist für mich sehr fragwürdig. Was man aber ganz klar sagen kann, ist: Kein Mensch ist gerade. Und es gibt keinen Menschen, der zu hundert Prozent dieser Norm entspricht. Zudem kommt es immer darauf an, wie der Einzelne kompensieren kann und ob die Abweichungen von der Norm extrem sind.
Zum Beispiel kann ein Zahn eine Fehlstellung aufweisen, welche in keiner Weise den Körper beeinflusst – diese Abweichung von der Norm wird nicht zum Problem im System. Daher muss dies untersucht werden. Die Untersuchung beim Zahnarzt ist wichtig. Aber nicht nur. Eine Schienenbehandlung ist für einzelne Menschen empfehlenswert, aber gibt es noch Alternativen? Nicht alle CMD-Patienten profitieren von einer Schienenbehandlung. Es gibt ja auch nicht nur einen Schuh für alle Menschen, weil jeder Fuß individuell ist. Und so muss man es hier auch betrachten. Hat die Abweichung, die vorliegt, wirklich etwas mit meinen Schmerzen und meiner Schonhaltung zu tun? Das gilt es individuell zu prüfen.
Würden Sie sagen, dass zwischen Zahnmedizinern und Physiotherapeuten eine gute Zusammenarbeit besteht oder sollte dieses Netzwerk ausgebaut werden?
Tatsächlich sind Zahnärzte die affinsten Ärzte, die man für eine Zusammenarbeit gewinnen kann. Da muss ich eine Lanze für die Zahnärzte brechen, denn sie sind wirklich offen für Heilpraktiker, Osteopathen oder Physiotherapie. Und diese wissen auch genau, dass man allein mit der Schienentherapie noch nichts gewonnen hat. Dieses Networking funktioniert – natürlich mit einzelnen Ausnahmen – sehr gut. Aber wichtig finde ich auch, dass in manchen Fällen nicht nur der Physiotherapeut hinzugezogen wird, gerade bei chronischen Schmerzpatienten, sondern z. B. auch ein Verhaltens- oder Psychotherapeut, die Logopädie oder auch ein Nährstoffexperte zu Rate gezogen werden sollte. Es braucht manchmal wirklich ein ganzes Netzwerk – vor allem, bei chronifizierten CMD-Patienten.
Wenn allgemein bekannt wäre, dass ein Physiotherapeut z. B. über eine Lymphdrainage Schwellungen reduzieren kann, könnte eventuell auf starke Medikamentengabe im Anschluss an einen kieferchirurgischen Eingriff verzichtet werden?
Ja, natürlich. Schmerzen kann man dadurch nachweislich effektiv reduzieren, den Heilungsprozess verbessern und beschleunigen und somit auch die Medikamentengabe zumindest reduzieren. Zudem müssten Patienten keine drei Monate, sondern vielleicht nur vier Wochen krankgeschrieben werden. Das ganze Gesundheitssystem würde profitieren. Und was mir bei der Betreuung vieler Patienten z.B. nach einer Bimax-Operation aufgefallen ist, war, dass die komplette Vorbehandlung fehlte. Die Kieferchirurgie setzt leider den Fokus vorwiegend auf den handwerklichen Eingriff. Jedoch benötigt der Patient eine umfassende Aufklärung – in Bezug auf Muskeln und Gelenke, Faszien –, aber auch über Folgen, Umstände und die entsprechende Nachbehandlung.
Haben Sie abschließend einen Tipp zur Lockerung des Kiefers?
Sicher! Den Kiefer kann man aktiv sehr gut locker bekommen. Es gibt eine sehr schöne Technik. Sie umgreifen ihr Kinn mit einer Hand und lassen den Kiefer locker fallen. Jetzt bewegt die Hand den Kiefer durch Hin- und Herschieben. Nicht der Kiefer arbeitet, sondern nur die Hand bewegt. Wenn Sie viel pressen und knirschen wird Ihnen das schwerfallen, den Kiefer locker zu lassen. Durch wiederkehrende Übung verbessert sich dies. In meinem Buch Gesunder Kiefer – Gesunder Körper verweise ich auf weitere Techniken, mit denen man den Kiefer aktiv trainieren kann.
Frau Kapp, vielen Dank für das Gespräch.
1 Brinjikji, W., et al. “Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations.” American Journal of Neuroradiology 36.4 (2015):811–816.
Dieser Beitrag ist im Prophylaxe Journal erschienen.