Branchenmeldungen 30.09.2019
„Die Parodontologie ist die Königsdisziplin der Implantologie“
Knochenaugmentationen in der dentalen Implantologie sind längst keine Seltenheit mehr und in manchen klinischen Situationen die einzige Möglichkeit, um eine Langzeitstabilität von Implantaten zu gewährleisten. Dr. med. dent. Simone Esser, MOM, M.Sc., M.Sc. Fachzahnärztin für Oralchirurgie und Spezialistin für Implantologie sowie Parodontologie, geht im Interview auf die Herausforderungen bei Augmentationsmaßnahmen ein.
Frau Dr. Esser, welches Leistungsspektrum bieten Sie in Ihrer Praxisklinik an und welches sind Ihre Behandlungsschwerpunkte als Oralchirurgin?
In unserer Praxisklinik decken wir alle Bereiche der medizinischen Zahnheilkunde ab und bieten unseren Patienten umfassende Leistungen vom ästhetischen Bereich über die fachzahnärztliche Oralchirurgie, die Implantologie und die Parodontologie im Allgemeinen bis hin zur Transplantation von Eigen- und Fremdknochen – sowie die Insertion von Zygoma-Implantaten im Besonderen. Ich bin seit 22 Jahren im Beruf und habe seit der Assistentenzeit viele Erfahrungen in der augmentativen Kieferchirurgie und Parodontologie sammeln können. Meine Erfahrungen und mein Wissen gebe ich sehr gerne an Kolleginnen und Kollegen weiter. Das ist mir besonders wichtig. So ist unsere Praxisklinik auch eine Lehrpraxis des IMC Münster.
Warum liegt Ihnen das so sehr am Herzen?
Aus meiner Sicht wird in Deutschland im zahnmedizinischen Studium zu wenig Wissen von allgemeinmedizinischen Grundlagen vermittelt, welches für die Gesamteinschätzung einer Patientensituation vor allem hinsichtlich implantologischer und parodontologischer Vorhaben unabdingbar ist. Auch der Stellenwert einer Facharztausbildung rückt gegenüber der Bezeichnung „Implantologe“ in den Hintergrund. Die Implantologie ist ein Marketingfaktor geworden, was sich nicht zuletzt in der hohen Anzahl der auf dem Markt verfügbaren Implantat- und Knochenersatzmaterialien widerspiegelt.
Liegen Misserfolge nicht auch an der fehlenden Erfahrung bei Zahnärzten, die nur wenige Implantate im Jahr setzen?
Qualität hat nichts mit der Anzahl der gesetzten Implantate zu tun. Ich werde oft gefragt, wie viele Implantate ich setze. Aber es sagt nichts über den Langzeiterfolg meiner Arbeit aus. Die Frage muss also lauten: „Wie viele der 1.000 gesetzten Implantate sind denn nach zehn Jahren noch drin?“ Daher dokumentieren wir sehr akribisch alles, was wir tun. Für mich ist der ethische Aspekt vorrangig. Ich setze auf einen Langzeiterhalt von Implantaten und Augmentationen und damit auf eine Qualität der Implantationen, nicht aber auf die Quantität der inserierten Implantate pro Jahr.
Welches Konzept geben Sie an die Kollegen weiter?
Es ist in der Aus- und Fortbildung von Implantologen nicht genug damit getan, zu zeigen, wie es geht – das Fundament der Qualität ist das Wissen der Zusammenhänge von Innerer Medizin, Mikrobiologie, Parodontologie und Allgemeiner Zahnheilkunde sowie der Prothetik. Daher werde ich bei meinen Lectures auch von einem Mikrobiologen unterstützt. Misserfolge haben sehr oft etwas damit zu tun, dass zu wenig Fokus auf das Knochenangebot, die Knochenqualität und die Ursache für die Entstehung des Knochendefizits gelegt wird. Das Wissen um die Strukturen des Zahnbetts ist die Grundlage aller weiteren Schritte. Macht man hier schon Fehler, addiert sich das mit jedem weiteren Schritt und gefährdet den Langzeiterfolg des Implantats. Dies beginnt schon bei der Zahnentfernung – einem Zeitpunkt, an dem die Grundlage für die Entwicklung des entsprechenden Bereiches des Alveolarforsatzes gelegt wird. So ist es meist unvermeidbar, einen Schleimhautperiostlappen zu bilden, um die Geometrie der Restalveole zu erkennen und dementsprechend handeln zu können – Stichwort Socket Preservation bzw. GBR und GTR. Daher behandeln wir nach einem parodontologischen Prinzip oder wenn Sie so wollen, nach einem „Leitfadenkonzept Parodontologie“. Ich sehe die Parodontologie als absolute Grundlage für eine erfolgreiche Implantologie. Ich würde sie sogar als Königsklasse derselben bezeichnen.
Werden Behandlungskonzepte durch den technologischen Fortschritt nicht einfacher?
Es ist unbestritten, dass uns Technologien auch in der Implantologie helfen. Die dreidimensionale Bildgebung beispielsweise lässt uns Details sehen, lässt uns Abläufe planen und hilft bei der Eruierung der optimalen Implantatposition. Allerdings werden dadurch sehr komplexe Zusammenhänge auf einen Aspekt reduziert, und das vermittelt eine trügerische Sicherheit. Eine nachhaltige Positionierung des Implantats im Knochen ist von sehr vielen Faktoren abhängig. Vor allem die Qualität eines Knochens von Menschenhand zu spüren und einzuschätzen, lässt sich meiner Meinung nach nicht von einem Computer übernehmen. Insofern sind die Technologien Hilfsmittel, sollten aber ein Behandlungskonzept nicht bestimmen.
Haben Sie trotz Ihres umfassend interdisziplinären Ansatzes auch Misserfolge?
Natürlich habe ich Misserfolge. Das liegt aber daran, dass ich überwiegend hochatrophe Kiefer oder Patienten, die bereits einen Implantat- oder Augmentationsmisserfolg erlitten haben, therapiere bzw. rekonstruiere. Ich frage immer zuerst, warum der Patient die Zähne bzw. das Implantat verloren hat und welche Ursache der Knochendefekt hat, nicht zuletzt um die Compliance des Patienten einschätzen zu können.
Welche Kontraindikationen gibt es für einen Knochenaufbau und eine Implantation? Ich denke da an Raucher, Diabetiker etc.
Diese Beispiele werden meistens genannt. Ich sehe aber weder den Nikotinabusus noch Diabetes mellitus als generelle Kontraindikation. Ein Diabetiker, der stabil eingestellt ist, kann augmentiert und implantiert werden. Voraussetzung ist aber in jedem Patientenfall die Compliance des Patienten.
Sie behandeln ausgedehnte Knochendefekte. Welche Transplantate und Knochenersatzmaterialien verwenden Sie?
Ich entscheide das immer am Patienten, an der Quantität und der Qualität des noch vorhandenen Knochens. Bei einem 3D-Defekt nutze ich ausschließlich autologe und allogene Transplantate. Ich arbeite gerne nach dem Protokoll von Prof. Khoury hinsichtlich der autologen Augmentationstechnik. Ab einer Defektgröße von mehr als 2 cm Umfang verwende ich überwiegend individuelle allogene Knochenblöcke, um die erforderliche Quantität für die Defektversorgung aufbringen zu können.
Wie individuell sind diese Knochenblöcke?
Ich nutze z. B. PUROS-Blöcke von Zimmer Biomet. Dieses Allograft wird patientenindividuell hergestellt. Dazu nimmt man ein CT, alternativ auch ein DVT, und vermisst dann den Knochendefekt, indem die DICOM-Daten ausgewertet werden. Aus einem großen Knochenblock wird im CAD/CAM-Verfahren ein defektgetreues Allograft gefertigt. Meine klinischen Erfahrungen mit PUROS sind sehr gut und die individuellen Blöcke passen nahezu immer perfekt. Jedoch sollte der Aspekt der Weichgewebsdeckung nach solch umfangreichen Defektversorgungen nicht unterschätzt werden, womit sich wieder der Kreis um die Frage schließt, von wem solche Augmentationstechniken angewendet werden sollten.
Am Schluss würden wir gerne einen visionären Ausblick von Ihnen erfahren. An welcher Stelle sollte die Wissenschaft und Forschung Ihrer Meinung nach ansetzen, um die Oralchirurgie und Implantologie voranzubringen und Misserfolge zu minimieren?
Ich bin der Meinung, dass der Kieferknochen eine Art Gedächtnis hat. So habe ich mehrfach beobachtet, dass man eine höhere Misserfolgsrate hat, wenn man genau an den Stellen implantiert oder augmentiert, wo ein Knochendefekt vorlag. Es scheint so, als ob der Knochen wisse, dass er an dieser Stelle eine Schwachstelle hatte. Nicht zuletzt deswegen stehe ich Sofortimplantationen mittlerweile kritisch gegenüber. Vielleicht findet sich irgendwann eine Möglichkeit, auf zellulärer Ebene ein Konzept der indirekten oder direkten Rejuvenation des Alveolarknochens zu entwickeln.
Das Interview ist im Implantologie Journal erschienen.
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