Branchenmeldungen 09.02.2015

Eine spannende Frauenbiografie: Die erste Zahnärztin Deutschlands

Eine spannende Frauenbiografie: Die erste Zahnärztin Deutschlands

Foto: © Travelmanagement Sylt

Henriette Hirschfeld-Tiburtius – Die erste deutsche Zahnärztin stammte von der Insel Sylt

Als im Jahre 1834 in Westerland auf Sylt ein kleines Mädchen von ihrem Vater auf den Namen Henriette getauft wird, kann noch niemand voraussehen, dass diese Insel 100 Jahre später zu den Sehnsuchtsorten Deutschlands gehören wird und dem kleinen Mädchen eine besondere Karriere bevorsteht. Beides jedoch unabhängig voneinander …

Genauso wenig kann man ahnen, wie sehr sich die politischen Verhältnisse in Norddeutschland ändern werden, das damals noch zum dänischen Königreich gehört. Und die Vorstellung, es könnte ein Deutsches Reich entstehen, mit Berlin als Hauptstadt und zudem größte Stadt Europas, ist damals reine Utopie.

Die Jugendjahre Henriettes werden von den erwachenden Freiheitsträumen der Menschen Europas geprägt. Ihr liberaler Vater trägt die neuen Ideen ins Haus und in die Kirchengemeinde. Das hat schon bald Konsequenzen, denn er wird in Anbetracht dieser kritischen Gedanken kurzerhand versetzt und dann sogar entlassen, als Henriette 18 Jahre alt ist. Geistige Emanzipation ist im 19. Jahrhundert in Dänemark nicht gern gesehen …

Aber Henriette hat von seiner fortschrittlichen Gesinnung sehr profitieren dürfen, denn sie wird wie die Brüder umfassend von ihm unterrichtet. Zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit für ein Mädchen, dessen Lebensweg als Hausfrau und Mutter vorbestimmt ist. Und erfreulicherweise sind seine Bildungsanstrengungen bei seiner Tochter auf fruchtbaren Boden gefallen, sie ist ein aufgewecktes, kluges Kind, dem das Lernen Freude macht.

Vermutlich weil die finanzielle Situation durch die Suspendierung des Vaters ausgesprochen schwierig ist, heiratet sie mit 19 Jahren den zwölf Jahre älteren Christian Conrad Hirschfeld, den sie kaum kennt. Später wird sich herausstellen, dass ihre Schwiegereltern sich von der resoluten Henriette erhoffen, dass diese das Leben ihres Sohnes, der alkoholabhängig und unselbstständig ist, in geordnete Bahnen lenkt. Diese Hoffnung muss scheitern, die ahnungslose Henriette erlebt eine Ehe, die durch Sucht, Frustration, Geldsorgen, Erniedrigung und später auch Gewalt geprägt ist. Da Hirschfeld sich einer Trennung verweigert, flieht Henriette zu ihrer Familie.

Als sie endlich geschieden wird, ist sie 30 Jahre alt, finanziell praktisch mittellos und ohne Berufsausbildung. Und ihr gesellschaftlicher Stand als geschiedene Frau ist mehr als schwierig.

Henriette beschließt, in die boomende Stadt Berlin zu ziehen. Als alleinstehende Frau auf Arbeitssuche teilt sie das Schicksal von schätzungsweise 700.000 unvermählten Frauen und Mädchen der damaligen Zeit. Die Industrialisierung Deutschlands und die damit einhergehende Umwälzung der gesellschaftlichen Strukturen wie die Auflösung der gewachsenen Familienverbände produziert nicht nur ein reiches Bürgertum, von dem Henriette später noch profitieren wird, sondern auch ein großes Proletariat und zahllose entwurzelte und arbeitsuchende Menschen, die als Landflüchtlinge in die wachsenden Städte drängen.

Doch ihre Hoffnungen auf Arbeit erfüllen sich nicht. Ihr Bildungsstand, aber mehr noch ihr unabhängiger Geist lassen sie auch als Gesellschafterin scheitern. Trotz zahlreicher Misserfolge scheint Henriette ihre Kraft, Energie und ihren Lebenswillen nicht zu verlieren. Offensichtlich ist sie ausgesprochen kommunikativ, neugierig und unerschrocken, denn als sie 1866 einen Artikel über die ersten beiden deutschen Frauen liest, die in Amerika Medizin studiert haben, reift in ihr ein bemerkenswerter Entschluss. Henriette, von frühester Kindheit an mit problematischen Zähnen gesegnet, entschließt sich zu einem Zahnmedizinstudium in Übersee.

Wie wahnwitzig ihre Idee ist, wird besser verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Frauen 1866 praktisch kaum Rechte hatten. Henriette ist zudem eine geschiedene Frau, sie kann kein Wort Englisch und sie hat weder Geld noch einen Schulabschluss. Und die Ausbildung in Amerika wird in Preußen nicht anerkannt.

All das scheint sie nicht zu entmutigen. Mit beispielloser Hartnäckigkeit setzt sie sich mit den Behörden auseinander, um nach ihrer Rückkehr überhaupt in Preußen praktizieren zu dürfen.

Das Geld für die Reise erhält sie von ihrer Familie und Wilhelm Adolf Lette, mit dem sie befreundet ist. Spannend ist, dass Lette 1866 den „Verein zu Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts“ gründet, und dieser Verein bis heute als Stiftung öffentlichen Rechts unter dem Namen „Lette-Verein“ in Berlin, wo er ein Berufsausbildungszentrum betreibt, existiert.

Henriette tritt die strapaziöse Schiffsreise in der Überzeugung an, dass Frauen in den USA studieren dürfen. Diese Annahme stellt sich als folgenschwerer Irrtum heraus. Auch wenn das weibliche Geschlecht in Amerika einen höheren gesellschaftlichen Status hat, Frauen sind regulär nicht an Universitäten zugelassen. So wird ihre erste Bewerbung kurzerhand abgelehnt.

Dass Henriette in dieser Situation nicht verzweifelt, ist erstaunlich. Mit der Entschlossenheit einer Person, die nichts mehr zu verlieren hat, sucht sie die verantwortlichen Professoren auf, um sie für ihr Vorhaben zu gewinnen. Alles in einer Sprache, derer sie nur eingeschränkt mächtig ist. Dabei hat sie das Glück, dem Zahnarzt James Truman zu begegnen. Er ist Quäker und durch seine Frau überzeugter Anhänger der Frauenbewegung. Er macht ihr zwar wenig Hoffnung, aber er nimmt sie in seinem Hause auf, was ihre gesellschaftliche Stellung verbessert und sie vor dem finanziellen Zusammenbruch rettet. James Trumans Fürsprache hat Henriette zu verdanken, dass einer „versuchsweisen“ Aufnahme der Deutschen an der Bildungsstätte zugestimmt wird. Was wohl eher dazu dienen soll, ein Scheitern Henriettes, von dem man ausgeht, als Beweis zu führen, dass Frauen gar nicht in der Lage sind, ein Medizinstudium zu absolvieren.

Ihre ersten Stunden an der Universität wird Henriette nie vergessen haben. Wenn sie den Vorlesungsraum betritt, wird sie abwechselnd von eisigem Schweigen oder lauten Unmutsäußerungen begrüßt. Ihre ausnahmslos männlichen Kommilitonen grenzen die deutsche Studentin aus. Doch die mittlerweile 34-Jährige lernt nicht nur schnell die neue Sprache und den Lernstoff perfekt, sie gewinnt in kürzester Zeit die Sympathien aller und wird zur „little mother of the class“. Überflüssig zu erwähnen, dass Henriette nach zwei Jahren ihr Studium 1869 mit Bravour abschließt.

Als Henriette nach Berlin zurückkehrt, gehört sie zu den wenigen Zahnmedizinern Deutschlands, die die beste aller möglichen Ausbildungen haben. Dabei ist die ärztliche Versorgung im Deutschen Reich aus heutiger Sicht völlig unzureichend – auf 100.000 Einwohner kommt ein Zahnarzt, dabei haben 99 Prozent der Bevölkerung Karies.

In der Behrenstraße, eine Parallelstraße zu der Straße „Unter den Linden“, eröffnet Henriette ihr „Atelier“ als erster weiblicher „Doctor of Dental Surgery“ (D.D.S.) Deutschlands. Aus Gründen der Moral darf sie nur Frauen und Kinder behandeln. Henriettes Praxis ist eine Sensation in Berlin. Und in kürzester Zeit haben sich ihre Fähigkeiten herumgesprochen.

Schon nach wenigen Wochen behandelt sie die Gattin des Kronprinzen, Tochter der englischen Königin Victoria, mit ihren Kindern und hat damit als Hofärztin den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht.

Zeitzeugen beschreiben Henriette, die mit einem kämpferischen Selbstbewusstsein und einem frauenrechtlichen Bewusstsein aus Amerika zurückgekehrt ist, als graziös und elegant, sie ist intelligent und schlagfertig und legt dabei eine ausdauernde Arbeitskraft an den Tag. Henriette erkennt, dass sie eine Vorbildfunktion hat und will andere Frauen zum Studium motivieren. Bereits 1881 sind von den 23 Frauen weltweit (!), die sich D.D.S. nennen dürfen, 14 aus Deutschland. Henriette verkehrt in den liberalen Salons der Stadt, was ihr viele Kontakte verschafft, die sie klug zu nutzen weiß, wenn es um frauenrechtliches Engagement geht.

Mit ihrer Hilfe entstehen zahlreiche karitative Projekte in Berlin, die alle zum Ziel haben, bedürftigen Frauen eine möglichst gute und kostengünstige medizinische Versorgung zu ermöglichen. Deshalb wird sie 1893, Henriette steht im 60. Lebensjahr, zur Weltausstellung nach Chicago als Repräsentantin der wohltätigen Frauenvereine Deutschlands eingeladen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die erste von Frauen geleitete Poliklinik gegründet, den „Verein zur Rettung minorenner Mädchen“ sowie das „Heimathaus für stellungsuchende Mädchen“ und ein „Versorgungshaus für gefallene Mädchen und Frauen“. Was für ein Einsatz!

Nach einem vom Engagement geprägten Leben stirbt Henriette Hirschfeld-Tiburtius geb. Pagelsen 1911 im Alter von 77 Jahren in Berlin-Marienfelde.

Sie, die sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland stark für frauenrechtliche Fragen einsetzte, würde sich wohl am meisten über die Tatsache freuen, dass im Jahre 2006 – 140 Jahre nach ihrem Studium – erstmals die Hälfte aller Promotionen in der Zahnmedizin an Frauen ging.

Autorin: Silke v. Bremen, www.guideaufsylt.de

Mit freundlicher Unterstützung von www.imwe-berlin.de, Prof. Dr. Hans Behrbohm, Privat-Institut für med. Weiterbildung und Entwicklung auf dem Gebiet der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde e.V.

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