Branchenmeldungen 10.12.2012

Gewinnmaschine OP-Saal: Mediziner warnen vor sich selbst

Gewinnmaschine OP-Saal: Mediziner warnen vor sich selbst

Foto: © Gennadiy Poznyakov - Fotolia.com

Soll man mit Rückenschmerzen zur Krankengymnastik oder zum Chirurgen? Immer mehr Patienten werden operiert - auch bei anderen Krankheiten wohl ohne Not. Nun mahnen selbst Mediziner zu mehr Zurückhaltung.

Neuerdings warnen Deutschlands Ärzte vor sich selbst. Erst schlugen die obersten Chirurgen des Landes Alarm: Es gebe zu viele Kliniken, zu viele Operationssäle, zu viel Angebot, so die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie am letzten Mittwoch. Jetzt geht die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie in die Offensive: Seit 2005 gibt es zum Beispiel mehr als doppelt soviel Wirbelsäulen-OPs. Mit der viel billigeren Physiotherapie könnte man vielen Patienten mit Rückenschmerzen eine Operation ersparen. Was läuft schief in den deutschen Krankenhäusern?

Der neue AOK-Krankenhausreport zeigt: Egal ob bei Operationen an Gelenken, Knochen und Skelett, ob bei Herz-OPs, ob bei Therapien der Harn-, der Atem- oder Verdauungsorgane - überall zeigen die Behandlungszahlen deutlich nach oben. So ergibt sich ein neuer Rekord von 18,3 Millionen Klinikbehandlungen. Häuser mit etwas über 100 Betten sind ebenso mit kräftigen Zuwächsen dabei wie die Giganten auf dem Markt.

Beispiel Wiedereinrichtung verschobener Wirbel: Allein bei diesem Rückeneingriff gab es einen Anstieg von 22 000 im Jahr 2005 auf 64 000 fünf Jahre später. 12 000 Euro kostet eine Operation. 30 Euro pro Quartal kostet die konservative Therapie. Praxisärzte können in der Regel aber nur Rezepte für sechs Physiotherapiestunden abrechnen - und Kliniken haben ein großes Interesse an vielen lukrativen OPs.

«Man kann Bandscheibenvorfälle sehr gut konservativ behandeln», sagt der Generalsekretär der Orthopäden-Gesellschaft Fritz Uwe Niethard. Doch wenn ein Patient Schmerzen hat und ein Arzt schnelle Abhilfe durch per OP verspricht, stimmen viele gerne zu.

Die Krankenhausbetreiber parieren die Vorwürfe: Das Gros des Anstiegs sei erklärbar durch zwei Faktoren, für die die Kliniken nichts könnten. Die Menschen würden älter - und die medizinischen Möglichkeiten besser.

Doch viele neue Techniken kommen wohl vorschnell zum Einsatz. Niethard sagt: «Uns besorgt, dass bestimmte Operationsverfahren aufblühen und in der Versenkung verschwinden ohne nachhaltige Begründung. Daran kann man erkennen, dass es ökonomische Fehlanreize gibt.» Maximal ein Drittel der hunderttausenden zusätzlichen Behandlungen pro Jahr seien durch das Älterwerden der Menschen zu erklären, meint der Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, Jürgen Klauber.

Nicht nur die Art der Krankheit entscheidet darüber, ob man eher operiert wird oder nicht - sondern auch der Wohnort. So gibt es in Bayern rund 500 Wirbelsäulen-OPs pro 100 000 Einwohner, in Sachsen sind es nur rund 300. In manchen Kreisen werden Herzpatienten soschnell kleine Defibrillatoren, also Stromstoßgeber, eingesetzt, dass es zu 1000 solcher Eingriffe pro eine Million Eingriffen kommt. In anderen sind es unter 100.

Niethard staunte, als seine Gesellschaft ermittelte: In einer baden-württembergischen Region greifen die Ärzte selten zum Messer, wenige Kilometer entfernt in Bayern tun sie es besonders oft. Eine Erklärung: Hier haben niedergelassene Ärzte viele Belegbetten in Krankenhäusern, die sie auch gern auslasten.

Und dann gibt es in jedem zweiten Vertrag von Klinik-Chefärzten umstrittene Klauseln: Bei vielen Behandlungen fließen Bonuszahlungen. Die Ärzteschaft wendet sich schon länger dagegen, dass ein Teil des Honorars der Mediziner so zustande kommt - bisher ohne Erfolg.

Als Patient muss man also gut aufpassen, sich um zweite Meinungen bemühen, Klinik-Qualitätsurteile im Internet suchen. Doch was lässt sich politisch tun? AOK-Vorstand Uwe Deh sieht die Länder gefordert. Sie sind dafür zuständig, wo welche Kliniken stehen. «In die Krankenhauspläne wird das aufgenommen, was da ist», bemängelt Deh. Reformen? Fehlanzeige. Dabei sollten sich Kliniken auf dem Land aus Kassensicht auf die Grundversorgung beschränken - in den Städten sollte es weniger Gedrängel von Kliniken mit vollem Programm geben.

Die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung wirft den Kassen Scheinheiligkeit vor. «Operationen, die keine medizinische Notwendigkeit haben, erfüllen der Tatbestand der Körperverletzung», sagt ihr Chef Eugen Brysch. «Aber was tun Kassen, wenn sie von solchen Fällen erfahren? Nichts.»

Quelle: dpa

Mehr News aus Branchenmeldungen

ePaper