Branchenmeldungen 21.05.2013
Verkehrte Welt
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Alles, was in der zahnmedizinischen Funktionärswelt Rang und Namen hat, klagt über eine bodenlose Rückständigkeit des österreichischen Kassenversorgungssystems in der Zahnheilkunde. Die Honorarordnung sei seit über 30 Jahren von der Entwicklung in der Zahnmedizin völlig überrollt worden, die Leistungen seien falsch bewertet und völlig unzureichend dotiert, und jeder Zahnarzt, der sich heute noch um einen Kassenvertragssitz als Vertragsfacharzt für ZMK bemühe, gebe sich quasi als „Zahnarzt“ selbst auf. Das ist die eine Seite, die andere spiegelt Berichte in den Kammerzeitschriften wider, wie sehr Zahnärzte um Kassenverträge mit allen Mitteln kämpfen, denn meist sind mehrere Bewerber da.
Ist das nicht eine verkehrte Welt oder spiegelt es nur das Phänomen wider, dass die Versorgung der Patienten dem System folgt. So schreibt der bekannte Schweizer Professor Jean-François Roulet, der lange Jahre Professor an der Uni-Zahnklinik in Berlin, danach sicher über ein Jahrzehnt einer der führenden Wissenschafter und Forscher bei Ivoclar Vivadent war und heute als Lehrer nach Florida/USA „ausgewandert“ ist, im „prophylaxe impuls“, 17. Jahrgang, 5/2013, zum Thema Krankenversicherung: Segen oder Fluch?“. Er sei groß geworden in der Schweiz mit dem Präventionsgedanken und einem Sanierungskonzept, dass Erkrankungen zuerst kausal zu therapieren seien, „bevor man rekonstruieren durfte“, so Roulet. So war der Professor, als er 1984 aus der Schweiz nach Deutschland zog, einfach „geschockt“. Roulet: „Ich habe hier (gemeint Universitätszahnklinik Berlin) in wenigen Wochen mehr Karies gesehen als in meinem ganzen Berufsleben je zuvor. Ich sah aber noch mehr: Viele Kronen und Brückenarbeiten selbst bei jungen Patienten. Alles, so Roulet, eine Folge des Kassen-Leistungskataloges. Inzwischen habe sich nach Roulet auch in Deutschland vieles verändert.
Dies, weil sich die Zahnärzteschaft als Ganzes hinter die Prophylaxe gestellt habe und die Kassen sowohl in der Füllungstherapie wie bei Zahnersatz „Zuzahlungssysteme“ installiert hätten. „Den zweiten Kulturschock“, so Roulet, habe er 2012 nach Auswanderung nach Florida erlebt. Er sehe „orale Zustände, weit schlimmer als ich sie je gesehen habe (multiple Karies bis zur Gingiva, Parodontitis bis zum Apex usw.)“. Dies seien die Folgen von jahrelanger, jahrzehntelanger Abstinenz vom Zahnarztbesuch aus finanziellen Gründen. „Zudem steckt die Prophylaxe in den Kinderschuhen“, soweit die Roulet-Conclusio aus der Tatsache, dass in den USA für die Zahnmedizin kein Versicherungszwang bestehe. Heute würden im neuen staatlichen „Medicaid-System“ wenigstens Extraktionen und Vollprothesen bezahlt werden. Für Roulet ist der Status der jeweiligen zahnmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in den einzelnen Ländern jeweils „Solidarsystem-bedingt“.
So gilt es, die Weichen richtig zu stellen. Zahnärzte haben in die Systemdiskussion, die auch in Österreich in Bewegung gerät, neue, konstruktive Optionen einzubringen. Am besten aufbauend auf zwei verschieden funktionierenden Versicherungssäulen. Eine solidarisch finanzierte Säule soll einer abgesicherten Grundversorgung dienen. Dies, verbunden mit der Möglichkeit, als Patient über Zusatzversorgungen im Wege von Zuschusssystemen frei verhandeln und entscheiden zu können. Diese Zusatzleistungen sollten in einem dualen System auch privat versicherbar sein. Also eine flexible Handhabung zwischen garantierter Regelversorgung und Zuschüssen für individuell gewünschte höherwertige Leistungen, damit können Zahnärzte und Patienten bestens leben, toi, toi, toi, Ihr J. Pischel