Wissenschaft und Forschung 10.08.2023

Materialunverträglichkeit gewinnt in der Zahnmedizin an Bedeutung



Materialunverträglichkeit gewinnt in der Zahnmedizin an Bedeutung

Foto: Abdul – stock.adobe.com/Generiert mit KI

International erste S3-Leitlinie veröffentlicht

Die erste internationale Leitlinie zum Thema Materialunverträglichkeiten bei dentalen enossalen Implantaten, von der Deutschen Gesellschaft für Implantologie e.V. (DGI) initiiert, ist veröffentlicht. In diesem Interview beleuchtet Dr. Lena-Katharina Müller-Heupt Hintergründe und Empfehlungen dieser S3-Leitlinie. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Poliklinik für Parodontologie der Universitätsmedizin an der Johannes-GutenbergUniversität war sie als Mitglied der Leitliniengruppe an deren Ausarbeitung beteiligt und gibt interessante Einblicke in die Identifizierung und Behandlung möglicher Unverträglichkeiten im Zusammenhang mit Suprakonstruktionen und Implantaten.

Wie hat sich Ihre Mitarbeit an der Ausarbeitung der S3-Leitlinie zur Materialunverträglichkeit bei dentalen enossalen Implantaten ergeben?

Wir haben innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Leitlinie im Bereich der Materialunverträglichkeit erkannt und daraufhin beschlossen, eine S3-Leitlinie zu entwickeln. Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas hat als renommierter Experte auf diesem Gebiet die Koordination der Arbeitsgruppe übernommen. Er hat mich in diesem Zusammenhang aufgrund meiner Fachkenntnisse und Erfahrung gebeten, ihn bei der Erarbeitung dieser Leitlinie zu unterstützen, was ich mit großer Freude angenommen habe. Durch das Doppelstudium Human- und Zahnmedizin haben wir sowohl ein umfassendes Verständnis für die Humanmedizin als auch für die Zahnmedizin, einschließlich der immunologischen Aspekte, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind. Natürlich arbeiten wir auch eng mit anderen Experten auf diesem Gebiet zusammen, um ein fundiertes und praxisnahes Ergebnis zu erzielen.

Können Sie uns einen Einblick in die Erstellung von Leitlinien geben?

Die Erstellung von Leitlinien erfolgt in mehreren Schritten, beginnend mit einer systematischen Recherche der weltweiten Literatur zu einer definierten Fragestellung. Diese Vorgehensweise wird im Leitlinienreport dargelegt. Anschließend wird eine erste Rohversion erstellt und in der Leitliniengruppe diskutiert. Die Empfehlungen werden auf einer Konferenz abgestimmt. Nach weiteren Überarbeitungen und Abstimmungen wird die Leitlinie schließlich von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) publiziert. Die Stärken der Leitlinien werden durch eine Skala von S1 bis S3 definiert, wobei S3 für evidenzbasierte Leitlinien steht, die eine systematische Recherche beinhalten. Leitlinien können auch auf Meinungen basieren, wie beispielsweise S1-Leitlinien, wenn klinische Studien oder systematische Recherchen nicht möglich sind.

Therapieoptionen sind limitiert

Gemäß den Richtlinien können Zahnärzte bei Materialunverträglichkeiten auf Keramikimplantate zurückgreifen. Derzeit stehen für den Teil des Implantats, der in den Knochen eingesetzt wird, Titan und Keramik als Optionen zur Verfügung.

Welche Fragestellungen lagen für die neue S3-Leitlinie zugrunde und welche Zielsetzungen wurden verfolgt?

Unser vorrangiges Ziel bestand darin, einen therapeutischen Leitfaden für praktizierende Zahnärzte und Implantologen zu erstellen. Dabei haben wir klare Richtlinien für etabliertes Wissen festgelegt, während wir für Bereiche, in denen wir aufgrund unserer systematischen Recherchen noch keine ausreichenden Informationen finden konnten, offengeblieben sind. Dies ermöglichte es uns, das komplexe Thema der Materialunverträglichkeiten sowie verschiedene Testmöglichkeiten anhand evidenzbasierter Erkenntnisse zusammenzufassen. Unser Ziel bestand darin, diese umfangreichen Informationen zu konsolidieren. Darüber hinaus haben wir uns auch mit der Frage befasst, welche Tests für bestimmte Patientengruppen geeignet sind und welche Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten lassen.

Welche Rolle spielen Materialunverträglichkeiten bei dentalen Implantaten und welche Auswirkungen haben sie für den Organismus?

Die Auswirkungen von Materialunverträglichkeiten können vielfältig sein. Es gestaltet sich äußerst schwierig, eine eindeutige Kausalität bei Titan festzustellen. Das Material ist aus verschiedenen Gründen sehr gut geeignet und weist zudem eine hohe Überlebensrate auf. Dabei gibt es kein spezifisches Symptom, das eindeutig auf eine Titanunverträglichkeit hinweist. Stattdessen können sich Materialunverträglichkeiten diffus äußern. Die Fachliteratur berichtet von einer Vielzahl von Symptomen, darunter Rötungen der Schleimhaut, Einheilungsprobleme ähnlich einer Periimplantitis, Schwierigkeiten bei der Osseointegration sowie Schlafstörungen und Müdigkeit.

Die Frage, ob ein Patient möglicherweise auf Titan- oder Keramikimplantate allergisch reagiert, gewinnt an Bedeutung, insbesondere bei Patienten mit bereits bestehenden Allergien. Seit der Einführung von Keramikimplantaten sind solche Fragen sowohl für den Behandler als auch für den Patienten relevant. Zudem besteht im Bereich der Umwelt- bzw. Biologischen Zahnmedizin ein starkes Interesse an Materialien und Unverträglichkeiten. Daher war es wichtig, diese Thematik zu untersuchen und aufzuarbeiten. Eine präzise Antwort zu formulieren, ist hier äußerst schwierig, da das Spektrum der möglichen Auswirkungen weitreichend und es schwer ist, eine eindeutige kausale Beziehung zu einer spezifischen Implantatunverträglichkeit herzustellen.

Welche Handlungsempfehlungen gibt die neue S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bei klinischen Unverträglichkeitsreaktionen oder präimplantational vermuteten Unverträglichkeitsreaktionen?

Die Leitlinie legt Handlungsempfehlungen zur Testung von Patienten bei Unverträglichkeitsreaktionen vor und empfiehlt außerdem, bestimmte Tests – insbesondere Allergietests – nicht als Standardverfahren zur Testung von Implantaten einzusetzen. Solche Tests sind nicht aussagekräftig, um festzustellen, ob ein Implantat einheilt oder Probleme verursacht. Stattdessen wird empfohlen, Implantate wirklich erst als letzte Maßnahme zu entfernen. Vorher soll eine Periimplantitistherapie gemäß der Leitlinie durchgeführt werden. Um andere Materialunverträglichkeiten oder Allergien, beispielsweise durch Suprakonstruktionen, auszuschließen, soll, sofern möglich, ein Auslassversuch der Suprakonstruktion durchgeführt werden. Die Entfernung des Implantats ist nur dann erforderlich, wenn alle anderen Maßnahmen erschöpft sind und das Implantat aufgrund der Klinik nicht länger haltbar ist. Eine Entfernung basierend auf Verdacht einer Unverträglichkeit durch Tests wird also nicht empfohlen.

Gibt es demnach aktuelle diagnostische Tests, die zur Identifizierung von Materialunverträglichkeiten, vor allem im Zusammenhang mit individuellen Entzündungsreaktionen und genetischen Prädispositionen führen?

Die derzeit verfügbaren Tests zur Diagnostik von Unverträglichkeiten sind in Bezug auf Implantatverluste definitiv assoziiert und messen auch das, wofür sie entwickelt wurden: eine gesteigerte generelle Entzündungsreaktion und proinflammatorische Neigung. Personen, welche diese Merkmale aufweisen, haben ein höheres Risiko, ein Implantat zu verlieren. Allerdings lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit sagen, ob dies kausal bedingt ist. Es besteht eine Assoziation, aber der genaue Grund bleibt unklar. Aus den bisherigen Studien wissen wir, dass es einen Zusammenhang gibt. Es ist jedoch nicht möglich, vorab Tests durchzuführen und dann basierend auf den Ergebnissen zu entscheiden, ob jemand ein Implantat erhalten sollte oder nicht. Die Datenlage ist einfach nicht ausreichend, um festzustellen, ob diese Entzündungsreaktion kausal mit Implantatverlust verbunden ist. Darüber hinaus sind Allergietests, wie der Lymphozytentransformationstest (LTT) und der Epikutantest (ECT), nicht geeignet, da Titanunverträglichkeit keine klassische Allergie im Sinne einer Typ-IV-Allergie wie beispielsweise bei Nickel darstellt. Bei Titan handelt es sich vielmehr um eine Gewebeunverträglichkeit, die mit diesen Tests nicht zuverlässig diagnostiziert werden kann. 

Frau Dr. Müller-Heupt, vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Beitrag ist im Implantologie Journal erschienen.

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