Businessnews 21.02.2011
Gesundheitsmarkt: Die Größe zählt!?
Der Staat zieht sich immer mehr aus der Gesundheitsversorgung zurück. Weniger Staat und mehr Markt, das bedeutet mehr Wettbewerb mit neuen Spielregeln. Gleichzeitig erfolgt ein Umdenken in der Gesellschaft. Nicht Krankheit, sondern Gesundheit, Wellness und Beauty stehen im Mittelpunkt des neuen Zukunftsmarktes. Sind die klassischen Praxen diesen Veränderungen gewachsen – in einem Markt, der vor allem Größe belohnt?
Das Gesundheitssystem funktioniert immer stärker nach ökonomischen Mechanismen und folgt dabei zunehmend der Logik der Konsummärkte: Aus Patienten werden Kunden und Konsumenten.
Für den Gesundheitsmarkt ergibt sich daraus eine bisher nicht gekannte Marktdynamik, die für alle Akteure Chancen aber auch Risiken bedeutet. Keine Frage: Das Gesundheitssystem der nahen Zukunft wird Gewinner und Verlierer hervorbringen.
Zukunftsmarkt Gesundheit
Nach einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger besaß der "Zweite Gesundheitsmarkt" in Deutschland 2007 ein Volumen von rund 60 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Für weitere 16 Milliarden Euro existierte die Nachfrage, aber noch kein Angebot.
Der "Zweite Gesundheitsmarkt", das sind alle privat finanzierten Produkte und Gesundheitsdienstleistungen. Die Zahlungsbereitschaft der Bürger für das “Produkt Gesundheit“ wächst quer durch alle Bevölkerungsgruppen und unabhängig vom Einkommen. Verbunden damit ist oft der Wunsch nach einem schönen Ambiente, gutem Service und einem hohen Erlebniswert. Der "Zweite Gesundheitsmarkt" trägt entscheidend zur Wertschöpfung der Gesundheitswirtschaft bei und schafft damit Arbeitsplätze. Bis 2020, so die Prognose, wird sich das Marktvolumen verfünffachen. Der Gesundheitssektor wird so zu einem der wichtigsten Zukunftsmärkte in Deutschland.
Mehr Markt, mehr Wettbewerb
Parallel zu dieser Entwicklung schreitet die langfristig angelegte Neuordnung des Gesundheitssystems weiter voran. Der demographische Wandel, die Zunahme chronischer Erkrankungen und der medizinische Fortschritt stellen die Gesundheitsversorgung vor enorme finanzielle Herausforderungen und lassen dessen Grenzen erahnen.
Der Gesetzgeber hat mit einer Reihe von neuen Gesetzen und Gesetzesänderungen reagiert und in einer nachhaltigen Strukturreform den Kurs neu bestimmt. Die Ziele sind klar: mehr Wettbewerb und damit mehr Wirtschaftlichkeitsdruck bei hoher Qualität. Dabei zieht sich der Staat immer weiter zurück und überlässt den Akteuren im Gesundheitsmarkt mehr und mehr Freiheiten, um unternehmerisch handeln zu können. Drei Bereiche sind hier besonders wichtig: die Liberalisierung der Kommunikation, der Übergang vom Kollektivvertrag zu direkten Verträgen und die Liberalisierung der Kooperation.
Zahnärzte und Ärzte dürfen werben
In der Werbung und Öffentlichkeitsarbeit – im marktwirtschaftlichen Wettbewerb ein unternehmerisches Muss – wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen deutlich liberalisiert. Heute sind deshalb nahezu alle Formate der Werbung umsetzbar. Dabei kommt es nicht auf die Wahl des Werbemediums, sondern nur auf die Art der Werbung an. Das Praxisschild, die Praxiszeitung, die eigene Website oder Anzeigen, Rundfunk- oder Fernsehwerbung werden gleich behandelt und sind grundsätzlich zulässig. Werbeverbote werden nur dort als gerechtfertigt angesehen, wo sie dem Schutz von Gemeinwohlinteressen dienen. Für alle Akteure gilt neben dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) das Heilmittelwerbegesetz (HWG), wenn neben der Werbung für den Arzt oder Zahnarzt auch Mittel, Verfahren, Behandlungsmethoden oder Gegenstände beworben werden.
Der neue Rechtsrahmen ist enorm wichtig, weil der Gesundheitsmarkt schon heute – und in Zukunft immer mehr – der Logik der Konsummärkte folgt. Marken werden als zentraler Baustein modernen Marketings eine besondere Bedeutung erhalten. Den Ansprüchen der Kunden folgend differenziert sich die Gesundheit heute schon in zwei Pole: Discount-Leistungen und Premium-Segment. Marketing, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit werden für die Angehörigen aller Gesundheitsberufe deshalb zum Muss.
Aus kollektiv wird selektiv
Gesetzliche Krankenkassen – ebenso private Versicherer – haben die Möglichkeit zum Abschluss von Direktverträgen mit den Leistungserbringern. Die damit verbundene, sukzessive Umstellung von kollektiven zu selektiven Verträgen hat weitreichende Folgen für das Gesundheitssystem. Hier waren bisher allein die Kassenärztlichen Vereinigungen zuständig.
Zu den Direktverträgen zählen Rabattverträge, Capitation-, Bundling-, Mehrwert-, Risk Sharing- und Cost Sharing-Initiativen sowie Pay for Performance- und Pay for Cure- Verträge. Dabei stehen in Zukunft weniger die Einzelleistungen als vielmehr ganze Versorgungspakete im Mittelpunkt. Jetzt müssen Ärzte ihre eigenen Leistungen genau kalkulieren und sich auf das eigene Controlling verlassen können.
Liberalisierung der Kooperation
Praxisinhaber können Kollegen anstellen und so Wachstumschancen nutzen. Sie können Filialen gründen und an mehreren Orten tätig sein, auch außerhalb des eigenen K(Z)V Bezirks. Und: Zumindest für Zahnärzte ist die Zulassungsbeschränkung im vertragszahnärztlichen Bereich gefallen. Bei Humanmedizinern wird dies für 2011 erwartet. Praxisinhaber können sich außerdem in Berufsausübungsgemeinschaften, Organisationsgemeinschaften oder Praxisverbünden zusammenzuschließen. Bei der Wahl der Rechtsform kann zwischen der Partnerschaftsgesellschaft und der GbR genauso auch die GmbH und sogar die Aktiengesellschaft (AG) gewählt werden. Durch eine Kaskade von Entscheidungen wurde zudem bestätigt, dass (Zahn-)ärzte wie Dritte sich auch an komplementärmedizinischen Unternehmen, wie Dentallaboren oder Heil- und Hilfsmittelherstellern beteiligen dürfen.
Daneben steht die sozialrechtliche Gestaltungsform des MVZ. Das MVZ ist faktisch eine fachübergreifende Gemeinschaftspraxis. Die Besonderheit liegt in der Tatsache, dass sich auf der Gesellschafterebene all diejenigen beteiligen können, die an der Versorgung gesetzlich versicherter Patienten teilnehmen, also alle Leistungserbringer nach dem SGB V. Gegründet wurden bislang etwa 1.200 MVZs. Die meisten von ihnen befinden sich in ärztlicher Trägerschaft. Zahnärztliche MVZs sind eine Seltenheit. An fast der Hälfte der MVZs sind bereits Krankenhausträger beteiligt.
Im Ärztenetz (oft auch Gesundheitsnetz genannt) bleiben die beteiligten Praxen dagegen als unabhängige Unternehmen bestehen. Wobei die Gründe für den Zusammenschluss sehr unterschiedlich sein können. Entsprechend finden sich sowohl lose Zusammenschlüsse als auch perfekt organisierte Gesundheitsunternehmen, an dem die einzelnen Ärzte als Gesellschafter beteiligt sind. In den letzten Jahren haben sich bereits einige solcher Netzwerke gebildet.
Kooperieren oder untergehen?
Die wettbewerbliche Ausgestaltung des Gesundheitssystems stellt ohne Zweifel eine folgenreiche Veränderung dar. Sind die bevorstehenden Herausforderungen von einer klassischen Einzel- oder Gemeinschaftspraxis zu bewältigen? Die Diskussion über ihren Fortbestand hat bereits begonnen und ist berechtigt.
Im Fokus stehen zukünftig einerseits der Wettbewerb um die beste Versorgungs- und Behandlungsqualität mit nachweisbaren Resultaten. Andererseits rücken Wirtschaftlichkeitsaspekte stärker in den Blick. Die Logik der Konsummärkte wird in Zukunft den Gesundheitssektor zunehmend prägen. Marken erhalten eine besondere Bedeutung und professionelles Marketing wird zum wichtigen Erfolgsfaktor, um für den Konsumenten und damit dem Patienten relevant zu sein.
Es geht dabei nicht allein um den Umfang von Kosten und Arbeitszeit in der einzelnen Praxis. Erforderlich sind professionelle Managementstrukturen. Leistungen insbesondere im Marketing, für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit müssen eingekauft werden.
Größe wird belohnt
Kooperationen in Form von Ärztenetzwerken oder der Aufbau intelligenter MVZ-Strukturen helfen, Synergien zu nutzen, Kompetenzen zu bündeln und somit Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben. Sie bieten die Chance, die Qualität zu steigern und die Sicherheit für den Einzelnen zu erhöhen. Die Vorteile der Kooperation liegen insbesondere in den Bereichen der Leistungsinnovation und -pflege, der Kundenakquisition und -bindung und der Finanzierung zukunftsorientierter Projekte. Kooperationen erleichtern die notwendige Wachstumsdynamik insbesondere durch Größe und die wird belohnt, im Einkauf wie in der Werbung und bei der Kapitalisierung. Entsprechende Konzentrationsprozesse laufen bereits im stationären und nun auch im ambulanten Bereich, bei den Krankenkassen und durch Dachmarkenstrategien selbst bei den Apotheken. Wer keine Marktmacht darstellt, wird Partner zweiter Klasse. Das erfordert Umdenken und ein entsprechendes Handeln. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, um juristisch gestalten zu können, was unternehmerisch gewollt ist, sind vorhanden. Am Anfang steht allerdings immer das unternehmerische Konzept.
Ein gelungenes Beispiel für ein zukunftsorientiertes Modell ärztlich-zahnärztlicher Kooperation ist das Hamburger Zentrum für Implantologie und Parodontologie (HHZIP). Das HHZIP ist ein Netzwerk für Ärzte, Zahnärzte, Labore und anderen Institutionen des Gesundheitswesens. Speziell für die Implantologie und die Parodontologie fördert es die kollegiale Zusammenarbeit, verbindet hohe Qualität mit wissenschaftlichem Anspruch, bietet zur Qualitätssicherung verschiedene Trainings- und Schulungsmaßnahmen an und informiert Patienten gezielt und gründlich.
Die beiden Initiatoren, die Hamburger MKG-Chirurgen Dr. Marc Hannemüller und Dr. Thomas Pakusa, wollen eine möglichst genaue Voraussagbarkeit für eine erfolgreiche Patientenbehandlungen und höchste Qualität in der Implantologie und Parodontologie erreichen. Deutlich wurde dieser Anspruch beim ersten Projekt des HHZIP, dem 1. Hamburger Symposium für Implantologie und Parodontologie im Juni 2009 mit dem Schwerpunktthema Periimplantitis.
Die Initiative der beiden Hamburger MKG-Chirurgen hat einen konkreten Hintergrund: Bis zu 40 Prozent der Implantate werden heute noch in parodontal erkranktes Gewebe oder bei parodontalen Risikopatienten gesetzt. Bei bald einer Million Implantaten pro Jahr sind das bis zu 400.000 Fälle, und das damit verbundene Periimplantitis-Risiko ist völlig inakzeptabel. Die Fortschritte in der Implantologie und der Parodontologie in den letzten Jahren haben allerdings bisher weder zu belastbaren Therapierichtlinien noch zu genügend klinisch-wissenschaftlichen Untersuchungen geführt. Das HHZIP bietet innovativen Konzepten und ihren Vertretern eine Plattform, um die Diskussion zu fördern, und fungiert als Anlaufstelle für Periimplantitis-Fälle im Raum Hamburg. Für eine gemeinsame Hamburger Studie wird derzeit gezielt die Zusammenarbeit zwischen Universitätsklinik und niedergelassenem Bereich gesucht.
Ein weiterer Schwerpunkt des HHZIP, um gemeinsam die Qualität in der Implantologie und Parodontologie zu steigern, sind Fortbildungen aller Art: Fallbesprechungen, gemeinsame Sprechstunden mit den Patienten, Hospitationen und Supervision, für einzelne Behandler oder ganze Praxisteams. Das HHZIP setzt auf die intensive Zusammenarbeit und die offene Weitergabe von Wissen. Dahinter steht die Überzeugung, dass hohe Qualität in der Versorgung letztlich preiswerter ist als schlechte Qualität.
Das Fazit ist, für alle Akteure im Gesundheitssystem gilt es, die neue Situation für sich zu analysieren und die sich bietenden Chancen zu nutzen. Zahnärzte und Ärzte können und sollten den Trend in Verbünden und Netzen effektiv für sich nutzen und so eine aktive und starke Rolle bei der Gestaltung des Gesundheitssystems spielen.
Autoren:Dr. Jan Rosenlicht, Alexander Bechtler, Dr. Marc Hannemüller, Dr. Thomas Pakusa