Patienten 08.05.2008
Die Problematik der frühkindlichen Karies
Die Karies ist bei Kleinkindern die häufigste chronische Erkrankung. Oft kommt sie in einer besonders schweren Form vor, der sog. „Nuckelflaschenkaries“. Als Folge sind die Zähne zerstört, Entzündungsherde entstehen und die Allgemeingesundheit ist stark beeinträchtigt. Trotz Aufklärung über die Ursachen liegt die Prävalenz bei Kleinkindern in der BRD unverändert zwischen 5 und 15 %. Es handelt sich somit um ein relevantes zahnmedizinisches sowie gesundheitsökonomisches Problem.
Für die früh auftretende kariöse Zerstörung der oberen Milchfrontzähne sind verschiedene Bezeichnungen gebräuchlich. In Deutschland favorisierte man bis 1996 als Termini: Nuckelflaschenkaries (NFK) und „Nursing bottle syndrom“(NBS). 1997 einigte man sich auf die Bezeichnung „Frühkindliche Karies“ bzw. „early childhood caries“ (ECC).
Ätiologie
Die Ätiopathogenese der frühkindlichen Karies stellt ein komplexes Geschehen dar, beruhend auf:
- den mikrostrukturellen Besonderheiten der Milchzähne,
- der frühzeitigen Keimbesiedelung (Primärinfektion durch Mutans-Streptokokken)
- und der unkontrollierten Substratzufuhr (Nuckelflasche mit süßen Getränken).
Für die Fehlernährung als dem gravierendsten ätiologischen Faktor spricht bei der Anamnese aller Kinder mit frühkindlicher Karies, dass diese ihren Flüssigkeitsbedarf vermehrt und weit über den 12. Lebensmonat hinaus durch die Kunststoff-Nuckelflasche stillen. Als Getränke werden gesüßte Tees, Säfte und auch Cola gereicht. Die Flaschengabe erfolgt oft nicht aufgrund von Durst/Hunger, sondern aus Langeweile/Unlust in Ermüdungsphasen, als Einschlafhilfe, in nächtlichen Wachphasen, zur Zwischenmahlzeit, d. h. häufig während physiologischer Ruhephasen der Speichelsekretion. Infolgedessen kommt es zu einer Langzeitbenetzung der Milchzähne mit zucker- und/oder säurehaltigen Getränken aus der Nuckelflasche. Der meist hohe Säuregehalt führt zu einer erosiven Vorschädigung an den Zähnen, der die „übliche“ kariöse Destruktion folgt. Beim Nuckeln aus der Flasche werden primär die Oberkieferfrontzähne und -molaren umspült. Die unteren Frontzähne widerstehen der Zerstörung am längsten, da sie von der über ihnen liegenden Zunge und vom sublingual sezernierten Speichel geschützt werden. Der gleiche Vorgang vollzieht sich bei der häufigen, über das erste Lebensjahr hinausgehenden Anwendung von Trinkgefäßen mit Schnabelaufsätzen. Auch exzessives, über Jahre anhaltendes Stillen, insbesondere nachts, können gleichartige Zahnschäden bewirken.
Abb. 1 Typ II - manifeste Glattflächenkaries ohne Pulpabeteiligung.
Abb. 2 Typ III - völlige Zerstörung der Kronen.
Klinischer Befund
Bei der frühkindlichen Karies handelt es sich um eine besondere Form der Glattflächenkaries mit schnell fortschreitenden Läsionen und frühzeitiger Beteiligung der Pulpa. Besonders betroffen sind die sonst selten an Karies erkrankenden Zähne und Zahnflächen, so die labialen und palatinalen Glattflächen der Oberkieferfrontzähne und der ersten Milchmolaren. Charakteristisch ist der Kariesbefall der Milchzähne entsprechend der Reihenfolge des Zahndurchbruchs:
- Stadium 1: Oberkieferfront
- Stadium 2: zusätzlich Oberkiefermolaren
- Stadium 3: zusätzlich Unterkiefermolaren
- Stadium 4: zusätzlich Unterkieferfrontzähne
Die Milchschneidezähne im Oberkiefer sind meist schon vor dem Durchbruch der 2. Milchmolaren zerstört. Nach dem Schweregrad unterscheidet man drei Typen:
- Typ I: mild to moderate (white spots)
- Typ II: moderate to severe (manifeste Glattflächenkaries, Abb. 1)
- Typ III: severe (völlige Zerstörung der Kronen, Abb. 2)
Die Initialläsionen werden oft nicht erkannt, da sie mit Plaque bedeckt sind. Die schweren Verlaufsformen führen häufig zur Fraktur der Zähne, zu rezidivierenden Fisteln und zu Abszessen mit eingeschränkter Kau- und Artikulationsfunktion sowie zu einem reduzierten Allgemeinbefinden (Schlaf- und Ess-Störungen, erhöhte Infektanfälligkeit).
Diagnose
Die Diagnose ist auf der Grundlage einer ausführlichen Anamnese, insbesondere der Ernährungsgewohnheiten und des klinischen Befundes, einfach zu stellen.
Charakteristisch für diese Kinder ist:
- viel Plaque (zunächst am Zahnfleischsaum, auch schon bei Säuglingen),
- häufig kohlenhydratreiche Zwischenmahlzeiten,
- häufig süße Getränke aus Babyflaschen (Kunststoff) sowie
- nächtliches Stillen im Kleinkindalter.
Differenzialdiagnostisch sind unfallbedingte Zahnfrakturen und Mineralisationsstörungen auszuschließen. Allerdings sind Schmelzbildungsstörungen im Milchgebiss sehr selten. Die häufig falsch gestellte Diagnose „Mineralisationsstörung“ führt dazu, dass die betroffenen Zähne nicht rechtzeitig therapiert oder nur mit Fluoridlack touchiert werden.
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Effiziente Therapie
Eine effiziente Therapie kann nur durch die Ausschaltung der kariogenen Noxen erfolgen. Prophylaxe- und Sanierungsmaßnahmen müssen parallel erfolgen. Das muss auch den Eltern der kleinen Patienten verdeutlicht werden. Sonst kommt es zu einem Wettlauf zwischen Therapieversuchen und neuen kariösen Läsionen. Die Beratung der Eltern ist ein wichtiger Parameter im Betreuungskonzept. Sie muss frei von Vorwürfen sein, um die Eltern zur Mitarbeit zu motivieren. Bei der anzustrebenden Ernährungsumstellung sollte man offen für Optionen sein. Kleinere schrittweise Veränderungen werden von Eltern und Kindern leichter akzeptiert und führen eher zu langfristigem Erfolg als die Forderung nach drastischen Änderungen im Ernährungsverhalten. Die Kontrolle der Verhaltensänderung muss jedoch kontinuierlich erfolgen.
Auf der Grundlage der Anamnese müssen die Eltern detaillierte Hinweise zu folgenden Schwerpunkten bekommen:
1. Ernährung:
- Abstellen des Flaschentrinkens
- Austausch zuckerhaltiger Getränke (Tee, Milch, Wasser)
- Einstellung der häufigen Kohlenhydratzufuhr
2. Mundhygiene:
- Information und Instruktion der Eltern über effektives Zähneputzen und die Notwendigkeit elterlichen Nachputzens
3. Fluoridierung:
- Tägliches Putzen mit fluoridhaltiger Kinderzahnpaste (500 ppm), alternativ: Lutschen von Fluoridtabletten
- Fluoridapplikation in der Zahnarztpraxis
So können bereits bestehende Defekte inaktiviert werden, was die anstehende Sanierung erleichtert.
Sanierungsmaßnahmen
Die Durchführung restaurativer Maßnahmen bei Kindern mit frühkindlicher Karies stellt den Zahnarzt vor eine schwierige Aufgabe. Seitens des zahnärztlichen Personals verlangt die Behandlung viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Die Entscheidung über die erforderlichen Therapiemaßnahmen hängen ab:
- vom Grad der Zerstörung der Zähne,
- dem Alter des Kindes,
- der Kooperationsbereitschaft des Kindes und seiner Eltern
- sowie der Fachkompetenz des zahnärztlichen Teams.
Bei sehr kleinen Kindern und multiplen Defekten kann die Narkosebehandlung unausweichlich werden. Da hier Planungsvorlauf notwendig ist, kann die Narkosebehandlung nicht zur Beseitigung akuter Schmerzen dienen. Bei den meisten kleinen Patienten kann die Behandlung jedoch ohne Narkose erfolgen. Das Aufschieben der Behandlung wegen des jungen Alters der betreffenden Kinder kann nicht akzeptiert werden, sondern ist als Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht zu werten. Bei Problemen sollten diese Kinder rechtzeitig an Spezialisten für Kinderzahnheilkunde überwiesen werden.
Abhängig vom Schweregrad des klinischen Bildes werden folgende Sanierungsmaßnahmen empfohlen:
Bei der frühen Form mit minimalem Verlust an Schmelz ist wöchentlich eine lokale Fluoridapplikation in der Zahnarztpraxis durchzuführen. Kombiniert mit der konsequenten Plaqueentfernung können so die Initialdefekte ohne großen Aufwand und psychologischer Belastung therapiert, d.h. inaktiviert werden.
Bei einer ausgedehnten Karies ohne Beteiligung der Pulpa ist die Füllungstherapie indiziert. Mit den heute zur Verfügung stehenden Füllungsmaterialien ist eine restaurative Versorgung durchaus Erfolg versprechend. Da bei multiplen Defekten die Sanierung nur schrittweise erfolgen kann, sollte zunächst ein zügiger provisorischer Verschluss mit einem Glasionomerzement erfolgen. Die temporäre Füllung erlaubt einen Aufschub, bis qualitativ bessere Füllungen möglich sind. Gleichzeitig werden plaqueretentive Nischen beseitigt, wodurch das mikrobiologische Milieu der Mundhöhle positiv beeinflusst wird. Zusätzliche regelmäßige Fluoridtouchierungen der Zähne bewirken, dass selbst fortgeschrittene Defekte inaktiviert werden. Die definitive Versorgung der Frontzähne erfolgt dann mit Kompositen und Schmelz-Ätz-Technik unter Zuhilfenahme von Milchzahn-Frasacokronen (Abb. 3). Für die definitive Kronenrestauration im Seitenzahngebiet sind Kompomere das bevorzugte Füllungsmaterial. Auf eine absolute Trockenlegung kann hier verzichtet werden.Bei starker kariöser Zerstörung der Zahnkronen im Seitenzahngebiet sowie nach endodontischer Behandlung sollte eine konfektionierte Stahlkrone eingegliedert werden.
Bei ausgedehnter Karies mit Beteiligung der Pulpa ist die Entscheidung zu treffen, ob eine endodontische Behandlung oder die Extraktion indiziert ist. Für die jeweilige Indikation sind neben dem Zahnbefund der Allgemeinbefund und die Compliance des Kindes sowie die gesamte Gebisssituation entscheidend. Die Extraktion sollte immer durchgeführt werden, wenn eine endodontische Behandlung kontraindiziert ist, keine Restaurationsmöglichkeit für die Krone besteht sowie im Rahmen der Abszessbehandlung.
Abb. 3 Definitive Versorgung der oberen Schneidezähne mit Komposit unter Verwendung von Milchzahn-Frasacokronen.
Abb. 4 Eingliederung einer OK-Kinderprothese nach Extraktions- und Füllungstherapie.
Die Trepanation von Milchzähnen darf nur eine Zwischenlösung sein, falls die Extraktion nicht sofort durchgeführt werden kann. Das Belassen trepanierter Milchzähne ist kontraindiziert. Durch sie wird das Infektionspotenzial in der kindlichen Mundhöhle auf hohem Niveau gehalten. Außerdem birgt das Belassen trepanierter Zähne neben der Beeinträchtigung des kindlichen Allgemeinbefindens und einer wieder aufflackernden entzündlichen Reaktion auch die Gefahr der Entstehung von Strukturanomalien an den permanenten Zahnkeimen durch die Exazerbation chronischer Entzündungen. Besteht die Indikation für die Extraktion aller Oberkiefer-Frontzähne, so kann diese in der Regel in einer Sitzung unter Lokalanästhesie erfolgen. Die nach multiplen Extraktionen auftretenden ästhetischen, kau- und sprachfunktionellen Probleme können durch die Eingliederung einer Kinderprothese bzw. eines Lückenhalters gemindert werden (Abb. 4). Die Akzeptanz prothetischer Versorgungen durch die Kinder ist im Allgemeinen sehr gut.
Nach abgeschlossener Sanierung sind die Patienten in einem engmaschigen Recall weiter zu betreuen. Dazu gehören das regelmäßige Anfärben der Beläge, Mundhygieneanleitungen, professionelle Zahnreinigung und Fluoridierungsmaßnahmen. Kinder, die nach erfolgter Sanierung bei uns in regelmäßiger Betreuung geblieben sind, erlebten so den Unterschied zwischen Prophylaxe und Therapie, wodurch ihre Einstellung zu ihrer zahnärztlichen Betreuung positiv beeinflusst wurde. Unsere langjährigen Betreuungsergebnisse zeigen, dass auch diese Kinder durchaus die Chance haben, mit naturgesunden permanenten Zähnen heranzuwachsen.
Autorin: Dr. Leonore Kleeberg