Patienten 21.09.2015

Die zahnmedizinische Situation in stationären Pflegeeinrichtungen



Die zahnmedizinische Situation in stationären Pflegeeinrichtungen

Foto: © Robert Kneschke – Fotolia

Der Pflegereport 2014 der BARMER GEK hat wieder gezeigt, was hinlänglich bekannt ist: Pflegebedürftige sind zahnmedizinisch unterversorgt. Da die zahnmedizinische Versorgung von pflegebedürftigen Menschen eine besondere Herausforderung an den behandelnden Zahnarzt stellt, gibt es leider nur eine kleine Gruppe von Zahnärzten, die sich für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen engagiert.1,2 

Die Gründe für das geringe Engagement sind vielschichtig. So werden oft die unzureichende Ausbildung des Praxisteams, die Belastung in der eigenen Praxis, die Konfrontation mit Behinderungen und Alter, mangelnde Compliance, eingeschränkte technische Möglichkeiten, unzureichende Honorierung, erhöhter Organisationsaufwand und die rechtliche Unsicherheit als Beweggründe angeführt. Politik (SGBV §22a) und Selbstverwaltung (Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztliche Vereinigung) haben das Problem erkannt und erste Schritte unternommen, um dem steigenden Bedarf an zahnmedizinischer Betreuung dieser Patientengruppe gerecht zu werden. Trotz der Unterstützung von Politik und Selbstverwaltung muss jeder Kollege sein individuelles, schlüssiges Betreuungskonzept planen und erarbeiten. Dieser Artikel soll zeigen, wie die Autoren ihr Konzept geplant und umgesetzt haben. Darüber hinaus will der Beitrag allen Kollegen Mut machen, ein Konzept der zahnärztlichen Betreuung von pflegebedürftigen Menschen in Angriff zu nehmen. Das Motto muss sein: „Erkennen wir Zahnärzte die Chancen, die die Behandlung von Pflegebedürftigen für die Zukunft der Zahnheilkunde und unserer gesellschaftlichen Verpflichtung bedeuten!“

Problemstellung

Die Erfolge der Prophylaxe in den letzten 40 Jahren haben den Mundgesundheitszustand großer Teile der Bevölkerung verbessert und zu einer Steigerung der mundbezogenen Lebensqualität beigetragen. Diese Erfolge treffen für die Gruppe der Pflegebedürftigen nur bedingt zu. Aktuelle Befunde zeigen, dass pflegebedürftige Menschen eine unbefriedigende Mundgesundheit haben. So zeigten Untersuchungen an 131 Pflegebedürftigen in drei Pflegeeinrichtungen in Frankfurt am Main, dass zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zahnärztlich behandlungs- und pflegebedürftig waren.3 Es ist folglich nicht verwunderlich, dass eine Verlaufsbeobachtung in fünf Senioreneinrichtungen im Raum Heidelberg deutlich machte, dass innerhalb von 14 Monaten eine deutliche Verschlechterung der parodontalen Parameter festgestellt wurde.4 Neben den oben aufgeführten Gründen vonseiten der Zahnärzte ist die nicht ausreichende Verankerung der zahnärztlichen Problematik in der Ausbildung der Pflegekräfte (circa sechs Stunden in drei Jahren Ausbildung) ein weiterer Grund für die schlechte Mundgesundheit bei Pflegebedürftigen.5 Andererseits offenbaren Studien, dass durch konsequente Schulungen der Pflegekräfte und durch kompetente zahnärztliche Betreuung vor Ort eine nachhaltige Verbesserung der Mundgesundheit zu erwarten ist.3,6

Unser Konzept 

A. Zielsetzung:

Vor dem Start unseres Engagements für die zahnärztliche Behandlung in Alters- und Pflegeheimen haben wir unsere Ziele definiert:

1. Schulung der Zahnärzte.

2. Kontaktaufnahme zur Leitung der Wilhelmshilfe e.V.

3. Die Wilhelmshilfe e.V. ist der größte Altenhilfeträger im Kreis Göppingen.

4. Schulung der Pflegekräfte:

– Alle Pflegekräfte der Wilhelmshilfe e.V. wurden in kleinen Gruppen in zwei Folgeseminaren unterrichtet.

– Individuelle theoretische und praktische Schulung am Patienten.

5. Aufbau einer einfach organisierten Infrastruktur zur zahnärztlichen Behandlung und Prophylaxe der Pflegebedürftigen.

B. Chronologie:

1. Die Autoren vereinbarten einen Termin mit der Leitung der Wilhelmshilfe e.V., um ihr Konzept für die zahnärztliche Betreuung vorzustellen.

2. Besichtigung des Pflegeheimes in Bartenbach. Erfassung der Struktur des Pflegeheimes (circa 90 Heimbewohner).

3. Vorstellung des Konzeptes bei der Heimleitung des Pflegeheimes in Bartenbach.

4. Vereinbarung von Terminen für die Fortbildungen.

5. Vereinbarung der individuellen theoretischen und praktischen Schulungen am Patienten.

Zu Punkt 4:

Allgemeine Schulung des gesamten Pflegepersonals der Wilhelmshilfe e.V. Im Seminar A ging es um die häufigsten Zahnerkrankungen, wie man sie vermeiden und behandeln kann. Das Seminar B befasste sich mit Zahnheilkunde und Prophylaxe im Pflegeheim und enthielt auch praktische Übungen. Der von der Landeszahnärztekammer zur Verfügung stehende Koffer war dabei eine große Hilfe.

Zu Punkt 5:

Zusätzlich wurden und werden individuelle Schulungen zur häuslichen Mundhygiene der von uns betreuten Heimbewohner durchgeführt. Wir unterscheiden dabei in Anlehnung an die „Zahnpflege-Ampel“ der AKA BeBW drei Patientengruppen7:

– Grüne Ampel: Patienten, die die häusliche Mundhygiene weitgehend allein durchführen können.

– Gelbe Ampel: Patienten mit reduzierten Mundhygienefähigkeiten, die Unterstützung durch das Pflegepersonal benötigen.

– Rote Ampel: Patienten, die zur selbstständigen Mundhygiene nicht mehr in der Lage sind.

6. Allgemein organisatorisch stellt die Vielzahl von rechtlichen Fragen, die Rechtsunsicherheit und die damit verbundene Anzahl an Formularen (zahnärztlicher Aufnahmebogen für Bewohner in Pflegeeinrichtungen, Mundpflege und zahnärztliche Betreuung, die Kurzcharakteristik der Pflegeeinrichtung, Zusatzanamnesebogen für Patienten mit Behinderungen, zahnärztlicher Überleitungsbogen, Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Einwilligungserklärung, Geschäftsfähigkeit usw.) ein großes Hindernis dar.

C. Zahnärztliche Organisationsstruktur:

Wir führen im Pflegeheim nur Behandlungen stationär durch, die ohne Risiko möglich sind. Alle weitergehenden Behandlungen müssen in der Praxis getätigt werden. Weit über 90 Prozent aller Behandlungen betreffen zahnärztliche Maßnahmen an und mit Prothesen, Mundschleimhautentzündungen und einfache prophylaktische Therapien (Zahnstein- und Biofilmentfernung mit einem EMS Piezon Gerät, Handinstrumentierung und Polituren mit MIDWEST RDH Freedom). Mithilfe der Firma EMS, München, haben wir einen Rollkoffer für die ambulante Behandlung entwickelt. Nach der zweijährigen Bewährungsprobe unseres Konzeptes für das Pflegeheim in Bartenbach ist das Angebot der zahnärztlichen Betreuung durch unsere Praxis auf alle sieben Pflegeeinrichtungen der Wilhelmshilfe e.V. ausgeweitet. Wir betreuen seit Juli 2014 circa 520 Heimbewohner.

Quintessenz

Die zahnärztliche Behandlung einschließlich der Prophylaxe in Pflegeheimen ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für alle Zahnärzte und deren Organisationen. Die Zahnärzte müssen sich den sich verändernden Herausforderungen durch den demografischen Wandel stellen und Strukturen zur kompetenten zahnärztlichen Betreuung Pflegebedürftiger entwickeln. Wir haben uns dieser Herausforderung gestellt und können unseren Heimpatienten heute eine einfache, gut organisierte, kurative, prophylaktische und prothetische Versorgung bieten. Wir stehen nach drei Jahren erst am Anfang einer erfolgreichen zahnärztlichen Tätigkeit in Alten- und Pflegeheimen und es bleibt noch viel zu tun. Unser persönliches Fazit lautet: Wir haben sämtliche Berührungsängste vor Alten- und Pflegeheimen bzw. deren Bewohnern verloren und gehen einer wunderbaren Aufgabe nach, die wir gerne machen. Unsere Empfehlung für die Kollegen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, lautet: „Fangen Sie an, Sie werden überrascht sein, wie man mit wenig Ausstattung viel helfen kann und noch mehr Dankbarkeit erfährt!“ 

Die Literaturliste finden Sie hier.

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