Recht 21.04.2011
Die Kehrseite der Kulanz
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„Stuck Between a Rock and a Hard Place“: Manchmal bringt Rocklyrik Lebenssachverhalte am besten auf den Punkt. Zwar darf bezweifelt werden, dass den Rolling Stones die Rechtsfigur des „sonstigen Schadens“ im Vertragszahnarztrecht geläufig gewesen ist. Mit ihrer musikalischen Verewigung der genannten Redewendung1 (etwa: „in der Zwickmühle stecken“) erscheinen die Konsequenzen eines aktuellen Urteils des Sozialgerichts Marburg für den Zahnarzt jedoch zutreffend umschrieben.
Entfernt ein Vertragszahnarzt einen zuvor von ihm eingegliederten Zahnersatz und fertigt diesen neu an, ist hierin sein Anerkenntnis des Bestehens eines Regressanspruchs zugunsten der Krankenkasse zu sehen. Das hat das Sozialgericht Marburg mit Urteil vom 19. Januar 2011 entschieden (Gz. S 12 KA 318/10). Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.
Der Fall: „Could ya tell me the facts?“2
Der klagende Zahnarzt hatte am 29. April 2009 bei seiner Patientin eine Brücke im Bereich der Zähne 47 bis 45 eingegliedert. Am 4. Mai entfernte er den Zahnersatz wieder und gliederte daraufhin eine neu gefertigte prothetische Arbeit ein. Ein anschließend veranlasstes Mängelgutachten bestätigte zunächst die vertragsgerechte Versorgung. In einem auf Betreiben der Krankenkasse eingeholten Obergutachten bemängelte dieses jedoch eine Karies in frühem Stadium mesiolingual und einen insuffizienten Kronenrand an Zahn 47. Es führte weiter aus, dass der hierin zu sehende Mangel nur durch Erneuerung der Brücke behoben werden könnte. Daraufhin brach die Patientin ihre Behandlung beim Kläger ab und setzte sie bei einem anderen Zahnarzt fort. Ihre Krankenkasse forderte den Kassenanteil nebst Gutachterkosten als sog. sonstigen Schaden zurück. Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung setzte den entsprechenden Betrag mit Regressbescheid vom 11. November 2009 gegen den Zahnarzt fest; dessen hiergegen gerichteter Widerspruch sowie seine Klage blieben ohne Erfolg.
Die Entscheidung: „It’s a Hard Life“3
Das Sozialgericht Marburg hat die von dem Zahnarzt gegen den Regressbescheid erhobene Klage abgewiesen. Mit Entfernung des am 29. April 2009 eingegliederten Zahnersatzes habe der Kläger anerkannt, dass ein Regressanspruch zugunsten der Beigeladenen bestehe, argumentierte das Gericht. Dabei komme es nicht darauf an, ob es sich insoweit, wie der Zahnarzt geltend gemacht hatte, um eine „Kulanzleistung“ gehandelt habe und die Ersteingliederung des Zahnersatzes daher ohne Verletzung vertragszahnärztlicher Pflichten erfolgt sei. Weil jedenfalls die Neuanfertigung unbrauchbar gewesen sei, habe die Patientin die Behandlung abbrechen und anderswo fortsetzen dürfen. Ein weiteres Nachbesserungsrecht stehe dem Zahnarzt nicht zu. Dabei sei auch unerheblich, dass die zweite Nachbesserung noch nicht abgeschlossen gewesen sei, da der Kläger den Zahnersatz bis dahin nur provisorisch eingegliedert hatte.
Entscheidungsanalyse: „Land of Confusion“4
Stellt sich eine neuangefertigte prothetische Arbeit als unbrauchbar heraus, spricht viel dafür, dass eine Rückzahlungsverpflichtung hinsichtlich des Kassenanteils zu Recht besteht. Streng auf Grundlage der dem Fall zugrunde liegenden Fakten gesprochen, mag der Entscheidung des Sozialgerichts daher zuzustimmen sein. Es bleibt dennoch eine gewisse Verwunderung zurück. Da das Erstgutachten noch keine Mängel an der prothetischen Versorgung erkennen konnte, dürften Zweifel fortbestehen, ob die Prothetik wirklich, wie das Obergutachten rügt, mangelhaft gewesen ist. Um die alleinige Maßgeblichkeit dieses Gutachtens begründen zu können, betrieb das Gericht hohen argumentativen Aufwand. Ob das überzeugen kann, ist Ansichtssache.Aus Behandlerperspektive bleibt die unbefriedigende Erkenntnis, dass sich eine für den Patienten oftmals „wertvolle“ Neuanfertigung vertragszahnarztrechtlich unter Zugrundelegung der Entscheidung des Sozialgerichts Marburg nicht lohnt. Im Gegenteil: Wer „neu anfertigt“, wo auch eine „Nachbesserung“ ausgereicht hätte, wird für seine Kulanz ggf. bestraft. Denn gerade in der Neuanfertigung erblickt das Gericht die Anerkenntnis der Fehlerhaf-tigkeit der bisherigen Versorgung. Beschränkt sich der Zahnarzt demgegenüber auf Nachbesserungsmaßnahmen, setzt er sich dem Verdikt „Verletzung vertragszahnärztlicher Pflicht“ zwar nicht sogleich aus. Tut er aber „weniger“ für seine Patienten als er könnte, wird das sein Verhältnis zu ihnen wenigstens atmosphärisch belasten. Schlimmstenfalls also eine Zwickmühle: „Stuck Between a Rock and a Hard Place.“
Ratgebertelegramm: „Nachbesserungsrecht bei Zahnersatzleistungen“
Ungeachtet der Besonderheiten des Zahnarzt-Patienten-Verhältnisses gelten im Bereich der zahnprothetischen Behandlung die Grundsätze des „Nachbesserungsrechts”. Hiernach kann bei Problemen etwa im Nachgang des Überkronens von Zähnen bzw. der Anfertigung und dem Einsetzen von Zahnersatz nur im Ausnahmefall sofort Schadensersatz oder Schmerzensgeld verlangt werden. Gerade bei komplexeren Konstruktionen hat der Patient in den Grenzen der Zumutbarkeit zuvor grundsätzlich – ggf. mehrere – Nachbesserungsmaßnahmen des Zahnarztes zu dulden und hieran mitzuwirken. Was dabei als zumutbar gilt, ist eine Frage des Einzelfalls. Werden Nachbesserungsmaßnahmen abgelehnt, steht das der Geltendmachung von Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen in der Regel entgegen. Bereits aus Gründen der Haftungsprävention sollte der Zahnarzt Beschwerden des Patienten sorgfältig nachgehen und Nachbesserungsmaßnahmen umfangreich dokumentieren.
Im Zahnarztalltag wird in der Nachbesserungsfrage eine Gesamtabwägung auf Grundlage der bestmöglichen Patientenzufriedenheit erfolgen müssen, in die neben wirtschaftliche auch die genannten rechtlichen Aspekte einfließen werden.
Fazit: „Time Will Tell“5
Gegen das Urteil wurde Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt; ob der Spruch aus Marburg bestätigt wird, bleibt also abzuwarten.
1 Rolling Stones, Steel Wheels (1989), track no. 7.
2 Bob Dylan, Percy’s Song, Biograph (1985), track no. 10.
3 Queen, The Works (1984), track no. 3.
4 Genesis, Invisible Touch (1986), track no. 3
5 Bob Marley, Kaya (1978), track no. 10.