Kieferorthopädie 16.10.2012
Neue Generation herausnehmbarer Apparaturen
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Inwieweit können wir durch Verbesserung von Qualität und Wirksamkeit funktioneller KFO-Geräte die Compliance des Patienten erhöhen? Dieser Frage widmete sich Dr. Elie Callabe bei der Entwicklung des PUL-Konzepts (Propulseur Universel Light). In folgendem Beitrag stellt er nun die jüngste Generation dieser Apparatur vor, den PUL 2 – einen vierdimensionalen Harmonizer, der seine Wirkung funktional, sagittal, transversal und vertikal entfalten kann.
Das Propulseur Universel Light-Konzept, kurz PUL, stellt eine neue Generation vielseitiger herausnehmbarer KFO-Behandlungsapparaturen dar. Es ist für alle Klasse II-Fälle und sämtliche Gesichtstypologien geeignet und somit universell einsetzbar. Mit dem PUL 2 ist nun die jüngste Gerätegeneration erhältlich. Diese verbessert die Compliance des Patienten insofern, dass aufgrund des lasergeschweißten Rahmens, verkleinerten mandibulären Vorverlagerungssystems und der Verwendung von TMA-Drähten das Gerät deutlich kleiner ist als bisher. Der lasergeschweißte Rahmen der Apparatur erlaubt verschiedene, gleichzeitig ablaufende Vorgänge und trägt so dazu bei, die Behandlungsdauer zu reduzieren. Dank integrierter Spiralfedern (TMJ-Stoßdämpfer) wird eine schonende Propulsion gewährleistet. Komfortabel, leicht und ästhetisch ermöglicht das Gerät zudem eine gute Aussprache und kann somit auch problemlos in der Schule getragen werden (Abb. 1).
Impressionen
Klinische Effekte
Der PUL 2 harmonisiert Okklusionsstörungen vierdimensional – sagittal, transversal, vertikal und funktional. Bei jungen Patienten mit hyperdivergentem (dolichofazialem) Wachstum und multiplen Dysfunktionen (Mundatmung, Schluckstörungen und Kaustörungen [Hypotonie]) unterstützt die mandibuläre Propulsion den bilabialen Kontakt und vergrößert den pharyngalen Raum, sodass die Nasenatmung verbessert wird. Der posteriore okklusale Kontakt resultiert in einer propriozeptiven Stimulation und Kontraktion der Muskelfasern von M. masseter und M. temporalis und verbessert somit die Kaufunktion. Die Lingualfunktion (Position und Schlucken) wird verbessert und es erfolgt eine natürliche Korrektur des offenen Bisses. Die Faktoren führen zu einer Änderung der Wachstumsrichtung von dolichofazial nach mesofazial (Abb. 4a, b). Bei Patienten mit hypodivergentem (brachyfazialiem) Wachstum führen die mandibuläre Propulsion und posteriore Nonokklusion zu einer Richtungsänderung und Neutralisierung von Temporal- und Massetermuskel sowie der Unterdrückung der okklusalen Kräfte. Dadurch wird die Klasse II-Korrektur deutlich beschleunigt, indem die oberen lateralen Zähne distalisiert werden (mandibuläre Verankerung, Abb. 5). Die Korrektur eines Überbisses erfolgt durch die natürliche Extrusion der posterioren Zähne.
Behandlungsprotokoll
Das Behandlungsprotokoll umfasst drei Phasen. Die PUL-4-D-Harmonierung der Okklusionsstörung: sagittal (Klasse II), transversal (Expansion), vertikal (tiefer oder offener Biss) sowie funktional (Nasalatmung, Schlucken, Kaumuskulatur) mit einer Dauer von sechs bis zwölf Monaten. Einsatz festsitzender Apparaturen mit wenigen oder gar keinen Gummizügen bei
geringer Friktion, Dauer: zwölf Monate. Und als dritte Phase die 4-D-Stabilisierung durch den PUL-Retainer, welcher nachts getragen wird.
Klinische Fälle
Klasse II-Malokklusionen
Klasse II-Fälle repräsentieren mehr als 75% aller Malokklusionen, die von Kieferorthopäden behandelt werden. Etwa 30% dieser Patienten weisen ein hyperdivergentes faziales Wachstum auf. Wie bei jeder anderen medizinischen Behandlung begann der Kieferorthopäde im vorliegenden Fall mit der Diagnose. Die Zielstellung hierbei war es, die Gründe der Malokklusion vor oder gleichzeitig mit ihren Symptomen zu behandeln. Fast alle Malokklusionen entstehen aufgrund funktionaler Dysfunktionen, wie beispielsweise Mundatmung, Daumenlutschen, hypotonische Muskulatur oder atypisches Schlucken.
Fall 1: Klasse II/Division 1 (Abb. 8 bis 21)
Die zwölfjährige Amandine litt unter verlagerten oberen Eckzähnen und einem Engstand im Unterkiefer.
• Funktionale Diagnose: Mundatmung, Schnarchen (Schlafapnoe), Daumenlutschen in der Vergangenheit, labiale Inokklusion, „Gummy Smile“ und eine verkürzte Oberlippe (Abb. 8, 9).
• Dentomaxilläre Diagnose: Volle Klasse II, Engstand, mandibuläre Retrognathie und ein hyperdivergentes faziales Wachstum (Abb. 10a–e).
• Die Behandlungsziele sind die Vermeidung einer Extraktion sowie der Stopp des hyperdivergenten Wachstums durch Verbesserung der Funktionalität und mandibuläres Wachstum.
Behandlungsplan
1. PUL-4-D-Harmonisierung: funktional, sagittal, transversal und vertikal. PUL-Mehrfacheinsatz mit Expansionsschrauben, Tragedauer: 22 Stunden pro Tag über neun Monate (Abb. 11–15).
2. Ausrichtung durch selbstligierende Multibracket-Apparatur mit geringer Friktion. Dauer: 13 Monate (Abb. 16–20).
3. 4-D-Stabilisierung durch antirezidive PUL-Retainer, die nachts getragen werden. Dauer: zwölf Monate und weniger (Abb. 21).
Diskussion:
„Funktionsänderung zur Formänderung“, Linder-Arronson
Der Nutzen der Kombination dieser drei Phasen liegt in der deutlich reduzierten Behandlungszeit sowie in der Verbesserung von Komfort und Compliance des Patienten aufgrund der Leichtigkeit der PUL-Apparatur. Die Vorteile für den Patienten liegen damit auf der Hand: Gesichtsästhetik und eine kurze Behandlung ohne Extraktion.
Fall 2: Klasse II/Subdivision (Abb. 22 bis 35)
Der 14-jährige Teenager Louis wies einen Engstand der oberen Schneidezähne auf.
• Diagnose: Klasse II/Subdivision, hypodivergentes Wachstum, Tiefbiss. Volle Klasse II auf der rechten Seite aufgrund einer mandibulären Distoposition (Abb. 22–24).
Behandlungsplan
Nachdem dem Patienten und dessen Verwandten die verschiedenen Optionen erläutert wurden, entschieden wir uns für eine dreiphasige Behandlung:
1. PUL-4-D-Harmonisierung mit einer maxillären TMA-Drahtschlaufe für ein leichteres Gewicht. Aufgrund der guten Patienten-Compliance betrug die Behandlungszeit nur neun Monate (Abb. 25–27).
2. Ausrichtung mit selbstligierenden Brackets mit geringer Friktion, Dauer: zwölf Monate (Abb. 28–33).
3. 4-D-Stabilisierung mit antirezidivem PUL-W-Retainer (Abb. 34).
Diskussion
Klasse II/Subdivisionen bei Teenagern zählen zu den schwieri-geren Fällen. Grund dafür ist das Risiko einer Non-Compliance mit klassischen funktionalen Apparaturen. Der Vorteil der PUL-Apparatur ist deren Leichtigkeit sowie hohe Ästhetik, die sich in einer verbesserten Patienten-Compliance auswirkt und damit die Behandlungszeit reduziert.
Ein weiteres Problem solcher Okklusionsstörungen stellt das Relapsrisiko dar. Diesem kann vorgebeugt werden, indem bei den Patienten ein antirezidiver PUL-W-Retainer eingesetzt wird, der leicht und angenehm zu tragen ist. Am wichtigsten für eine langfristige Stabilität ist das Bewusstsein des Patienten für den hohen Anspruch seiner individuellen Behandlung sowie das Risiko eines Relapses.
* Am 7.12.2012 findet ein 1-Tages-Kurs mit Dr. Callabe in Hamburg statt (Tel.: 089 85896976).