Kieferorthopädie 10.11.2016

Klinische und biomechanische 
Aspekte rund um TADs



Klinische und biomechanische 
Aspekte rund um TADs

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Der Einsatz temporärer  Verankerungsapparaturen wird zunehmend beliebter. 
Werden im Rahmen einer Behandlung mithilfe von TADs jedoch biomechanische Faktoren unzureichend berücksichtigt, können unerwünschte Nebeneffekte die Folge sein. Prof. Dr. Jae Hyun Park präsentiert im folgenden KN-Interview verschiedenste Lösungen für den erfolgreichen Einsatz von TADs sowie neuartiger Gerätevarianten.

Was sollte ein Kieferorthopäde bei der Behandlungsplanung einer bimaxillären Protrusion mithilfe von temporären Verankerungsapparaturen berücksichtigen? 

Bei Fällen mit starker Protrusion sieht die typische kieferorthopädische Therapie die Extraktion der vier ersten Prämolaren sowie eine Retraktion der Frontzähne vor, jedoch könnte dies nicht ausreichend sein, um das Gesichtsprofil des Patienten zu verbessern. Es wurde berichtet, dass durch Extraktion beider Prämolaren im gleichen Quadranten genügend Platz geschaffen werden kann, um einen ausgeprägten Engstand zu verringern und eine Retraktion der Schneidezähne zu ermöglichen, um eine bimaxilläre Protrusion durchzuführen sowie einen Kontaktpunkt zwischen Eckzahn und erstem Molaren zu realisieren.1 Allerdings könnte dieser Ansatz zum Verlust der Prämolarenfunktion führen und parodontale Probleme sowie Okklusionsstörungen verursachen. Daher könnte eine Distalisation des kompletten Zahnbogens erforderlich sein, um die Extraktionsbehandlung bei solchen Patienten zu ergänzen, die eine chirurgische Option zur Verbesserung ihres Profils ablehnen. Die anatomischen Elemente, welche bei der Durchführung einer Distalisation des kompletten Zahnbogens berücksichtigt werden sollten, sind der Status des dritten Molaren, Tuber maxillae, lingualer Kortex des Unterkieferkörpers, das Alveolarknochengehäuse der Frontzähne, die Anatomie der Oberkieferhöhle, der Nervus alveolaris inferior sowie die Dicke des Alveolarknochens. Zur Distalisation und Kontrolle vertikaler Bewegungen kann eine modifizierte palatinale Verankerungsplatte (Modified Palatal Anchorage Plate, MPAP) eingesetzt werden. Der in Abbildung 1 dargestellte Fall wurde mittels Extraktion von vier Prämolaren behandelt. Um die protrusiven Lippen der Patientin sowie deren ausgeprägte bimaxilläre Protrusion zu verbessern, wurde der gesamte Zahnbogen bei maximaler Verankerung durch temporäre Verankerungsapparaturen (Temporary Anchorage Devices, TADs) distalisiert.2

Ist eine Retraktion der Frontzähne auch im Rahmen einer Lingualbehandlung möglich? 

 Ja, das ist sie. Und zwar kann hierfür, wenn die Zähne sich in der Ausrichtung befinden und die posteriore Okklusion soweit zufriedenstellend ist, ein modifizierter Lingualretraktor eingesetzt werden (Abb. 2).3 Sofern eine volle Bebänderung erforderlich ist, kann eine En-Masse-Retraktion auch mithilfe von TADs und lingualen Apparaturen realisiert werden, bei Anwendung der gleichen Retraktionsmethode (siehe Abb. 3).4 Der dargestellte Fall zeigt eine 32-jährige Patientin, deren Hauptbeschwerde in ihren protrusiven Lippen bestand. Um hier ein optimales Ergebnis zu erreichen, sah die Behandlung die Extraktion aller vier ersten Prämolaren vor. Bei einer En-Masse-Retraktion werden die aus einem .028" Edelstahlbogen gefertigten Hebelarme an den Lingualbogen gelötet. Die Länge der Arme sowie die Positionierung der TADs wurden so gewählt, dass ein maximaler Translationseffekt erreicht werden konnte. Wenn eine skelettale Verankerung und ein Hebelarm verwendet werden, kann die um das Widerstandszentrum herum wirkende Kraft modifiziert werden, um die Translation optimieren, das Kippen reduzieren und die vertikalen Komponenten besser kontrollieren zu können (Abb. 4). Das in Abbildung 5 dargestellte Endergebnis zeigt eine stabile Klasse I-Okklusion mit Auflösung der Lippenprotrusion.

Wie können obere Molaren am effektivsten distalisiert werden?

Der erste Schritt ist hierbei immer die Umsetzung einer korrekten Diagnose in allen drei Ebenen der Okklusion. Die Distalisationsmechanik muss die erforderliche vertikale Kontrolle berücksichtigen und Rotationseffekten muss entgegengewirkt werden. Den Fakt berücksichtigend, dass die normale Höchstgrenze bei der Distalisation oberer Molaren ca. 3 mm beträgt, kann eine Distalisation die Therapie der Wahl darstellen, wenn weniger als 3 mm an Molarendistalisation erforderlich sind. Bei herkömmlichen Distalisationsapparaturen, wie z. B. Pendex, kommt es zu Nebenwirkungen sowohl im Molaren- als auch im Schneidezahnbereich. Sofern eine Distalisation des kompletten Zahnbogens in Betracht kommt, sollte das Widerstandszentrum der gesamten Zahngruppe berücksichtigt werden (Abb. 6). Yu et al.5 veröffentlichten 2011 einen Artikel, der die Effektivität bukkal und palatinal platzierter Implantate im Rahmen der Molarendistalisation miteinander verglich. Werden Minischrauben auf der bukkalen Seite inseriert, verursacht dies ein distales Kippen des ersten Molaren. Zudem wird der Molar extrudiert, während die Schneidezähne sich labial auffächern und intrudiert werden. Im Gegensatz dazu zeigten die Ergebnisse beim palatinalen Ansatz kein inzisales Auffächern. Die Molaren wiesen zudem eine mehr körperliche Bewegung und Intrusion um das Widerstandszentrum herum bei Anwendung eines 10-mm-Hebelarms auf. Ausgehend von dieser Studie, war eine Gaumenplatte bei der Distalisation den auf der bukkalen Seite platzierten Minischrauben überlegen. Es zeigte sich eine gute körperliche Bewegung der Molaren und lediglich eine unwesentliche Verlagerung der Schneidezähne (Abb. 7).                  

Ist es möglich, eine Klasse III effektiv mithilfe von  TADs zu behandeln?

Bei Patienten, bei denen eine Molarendistalisation durchgeführt wurde, stellt die Stabilität nach erfolgter Behandlung einen wichtigen Faktor dar. Sugawara et al.6 berichteten, dass der Kurzzeit-Relapse bei distalisierten unteren Molaren gegenüber dem erreichten Grad der Distalisation gering war (im Durchschnitt 0,3 mm Relapse bei durchschnittlich 3,5 mm Distalisation [Kronenniveau]). Dagegen zeigt eine andere Studie einen erheblichen Relapse, sofern die Molarendistalisation vorrangig durch Kippen erreicht wurde und ein mangelndes funktionales Kauen sowie ein unzureichendes Tragen des Retainers zu verzeichnen waren.7 Die Minischrauben können bei einer Distalisation des unteren Zahnbogens entweder zwischen dem unteren ersten und zweiten Molaren oder zwischen dem unteren zweiten Prämolaren und ersten Molaren platziert werden.7, 8 Die Dicke des kortikalen Knochens zwischen dem ersten und zweiten Molaren ist ausreichend, um eine Primärstabilität zu erreichen,9, 10 jedoch wird diese Seite im Vergleich zur mesialen Fläche des unteren ersten Molaren aufgrund von Gewebeirritationen während der Ausübung der Kaufunktion nicht bevorzugt.11 Von daher scheint sich der interdentale Knochen zwischen dem zweiten Prämolaren und dem ersten Molaren als ein guter Bereich hinsichtlich Patientenkomfort und Stabilität zu erweisen. Beträgt die geplante distale Bewegung jedoch mehr als 3 mm, ist ein Umsetzen der Minischrauben erforderlich, um die zusätzlich benötigte distale Bewegung zu ermöglichen.12 Der retromolare Bereich stellt ebenfalls eine vorteilhafte Seite dar, jedoch ist hierbei zu beachten, dass das bewegliche Weichgewebe Irritationen verursachen und das Einbringen von Kräften schwierig gestalten kann. Der in Abbildung 8 dargestellte Patientenfall wurde mittels Distalisation des Unterkiefers bei Anwendung eines Minischraubenverankerten Sliding Jigs behandelt.13 Die unteren dritten Molaren wurden extrahiert und zwei Minischrauben platziert: eine (Ø 1,6 mm; Länge 8,0 mm) im interradikulären Knochen zwischen dem unteren rechten zweiten Pämolaren und ersten Molaren; die andere (Ø 1,6 mm; Länge 8,0 mm) im interradikulären Knochen zwischen dem unteren linken ersten und zweiten Molaren. Um den unteren rechten Quadranten noch weiter zu distalisieren, wurde eine der Minischrauben versetzt und zwischen dem unteren rechten ersten und zweiten Molaren platziert und ein Sliding Jig eingesetzt. Eine andere Möglichkeit stellt die Platzierung der Minischrauben im Bereich oberhalb der Linea obliqua externa im hinteren 
Bereich der Mandibula (buccal shelf) dar, um eine Interaktion mit den Wurzeln der zu distalisierenden Zähne zu minimieren. Chang et al.14 berichten von einer geringeren Notwendigkeit der Umsetzung von Minischrauben durch deren Platzierung im buccal shelf. Die Autoren schlagen vor, 12 mm lange Edelstahlminischrauben von 2 mm Durchmesser 
zwischen dem unteren ersten und zweiten Molaren zu platzieren, sodass der Schraubenkopf ca. 5 mm über dem Weichgewebe liegt. Die Minischrauben können dabei direkt belastet werden (Abb. 9).

Was stellt aktuell die effektivste TAD-Mechanik bei der 
Behandlung offener Bisse dar?

Miniplatten sind insbesondere bei der Korrektur ausgeprägter offener Bisse sinnvoll, da sie die Applikation von Kräften bis zu 500 g pro Seite ermöglichen,15 ohne die Notwendigkeit einer Neuinstallation oder die Risiken, welche mit einem chirurgischen Eingriff verbunden sind.16, 17 Zudem ist die Platzierung weniger abhängig von der Anatomie des mukogingivalen Gewebes und die Knochenqualität sollte ausreichend sein. Die Nachteile von Minischrauben umfassen die Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffs, eine postoperative Schwellung sowie Gingivairritationen. Auch wenn Minischrauben im Vergleich zu Miniplatten einfacher zu platzieren und zu entfernen sind, bergen sie das Risiko von Verletzungen angrenzender Strukturen, wie z. B. Wurzelperforationen, mukosale Irritationen sowie Lockerungen. Da sich bei dem in Abbildung 10 dargestellten Patientenfall die Inzisalkanten der oberen mittleren Schneidezähne in Ruhelage in der korrekten vertikalen Position befanden, fokussierten wir unsere Mechanik mehr auf die Intrusion der posterioren Zähne als auf die Extrusion der Frontzähne. Nach sechs Monaten Behandlung implantierten wir y-förmige Verankerungsplatten in den zygomatischen Pfeilern (Jochbogen) und t-förmige Verankerungsplatten im unteren bukkalen Knochen auf beiden Seiten bei Einsatz monokortikaler Schrauben. Für die skelettal verankerte Intrusion der posterioren Zähne16 wurden Extensionsarme an den Transpalatinalbogen gelötet, um Elastomerketten an den lingualen Knöpfen der Prämolaren einbringen zu können. Dieses System bewirkt die körperliche Intrusion, während gleichzeitig ein bukkales Kippen der oberen posterioren Dentition verhindert wird.18

Wie kann ein kompletter Zahnbogen distalisiert werden, ohne die Minischrauben repositionieren zu müssen?

Eine Gaumenplatte ermöglicht die Distalisierung des kompletten oberen Zahnbogens ohne die Notwendigkeit einer Repositionierung. Die geeignetste Stelle für die Insertion von Gaumenplatten zur Distalisation von Molaren ist zwischen dem zweiten Prämolaren (oder primären zweiten Molaren) und dem ersten Molaren. Ungefähr 2 mm Abstand sind dabei zwischen der Gaumenplatte und dem Gaumengewebe erforderlich (Abb. 11). Im Unterkiefer würde eine Ramal-Platte eine Distalisation des kompletten Zahnbogens ohne eine Repositionierung ermöglichen.19 Die Ramal-Platte wird in der retromolaren Fossa zwischen der anterioren Grenze des mandibulären Ramus und des temporal crest platziert. Nach Realisierung des Zugangs (Hautlappen) im retromolaren Bereich, wird die L-Platte auf der Knochenoberfläche angepasst. Im Rahmen dieser Prozedur werden gleich die dritten Molaren extrahiert. Das anteriore Loch 
der Platte, welches in die Mundhöhle hineinreicht, wird horizontal so platziert, dass es sich 3 mm lateral zur bukkalen Oberfläche des zweiten Molaren befindet, und anteroposterior zwischen der bukkalen Höckerfurche des zweiten Molaren und dessen distaler Oberfläche. Die Platte wird mithilfe zweier Minischrauben gesichert (mit Pilotbohrung), welche jeweils einen Durchmesser von 2 mm sowie eine Länge von 5 mm aufweisen. Der Hauptlappen wird über der Platte vernäht (normalerweise mit zwei Nähten), wobei der Haken über die Mukosa hinaus verlängert ist und sich vertikal auf dem Niveau des zweiten Molarentubes sowie horizontal zwischen 3 und 6 mm lateral zur bukkalen Oberfläche des zweiten Molaren befindet. Ist alles richtig platziert, wirken die Kraftvektoren parallel zur Okklusionsebene, was eine effektive Molarendistalisation zur Folge hat (Abb. 12). Ein Vergleich der Kraftvektoren ist in Abbildung 13 dargestellt: Punkte zeigen die Positionen der Minischraubenköpfe sowie des Hakens der Ramal-Platte an: interradikuläre Minischraube (a), im buccal shelf platzierte Minischraube (b) und Haken der Ramal-Platte (c).

Die Literaturliste kann hier heruntergeladen werden.

„Aufmerksames Beobachten ist eine vernünftigere Strategie“
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