Endodontologie 02.06.2023

Management eines permanenten ersten Unterkiefermolaren vom Vertucci-Typ 2



Management eines permanenten ersten Unterkiefermolaren vom Vertucci-Typ 2

Foto: Dr. Jost Mihrmeister

Vereinigen sich zwei separate Kanäle vor dem Apex zu einem Kanal, so steigert sich durch die komplexe Wurzelkanalanatomie nicht ganz unerheblich der Schwierigkeitsgrad der Behandlung. Der folgende Behandlungsfall beschreibt die endodontische Behandlung eines Unterkiefermolaren (Typ 2 gem. Vertucci-Klassifizierung) unter Verwendung von Feilen der jüngsten Generation und unter Aktivierung einer desinfizierenden Spülflüssigkeit.

Das Ziel einer endodontischen Therapie stellt die Verhinderung oder die Ausheilung einer apikalen oder lateralen Läsion dar. Je nach Zahnanatomie – hierbei sind die Molaren sicherlich hervorzuheben – kann das endodontische Management sehr schwierig werden und stellt den Behandler nicht selten vor extreme Herausforderungen. Einen der wichtigsten Schritte der endodontischen Behandlung stellt die adäquate chemomechanische Desinfektion dar. Dabei sind hohe Anforderungen an die Wurzelkanalpräparation zu stellen.1, 2 Die vollständige Entfernung von infiziertem Material aus dem Endodont3 unter Berücksichtigung der individuellen Zahnanatomie und eine an die Obturationstechnik angepasste Formgebung spielen zudem eine entscheidende Rolle.

Starke Wurzelkrümmungen und konfluierende Kanalsysteme wie im folgend dargestellten Fallbeispiel begünstigen Präparationsfehler, da die eingesetzten Instrumente das Bestreben besitzen, sich in gekrümmten Kanalabschnitten gerade aufzurichten. Somit kommt es leicht zur Stufenbildung und zu einem asymmetrischen Kanalabtrag. Dies schwächt zum einen irreversibel die Zahnwurzel4, 5, zum anderen steht es einer Instrumentierung des entsprechenden Wurzelkanals bis auf Arbeitslänge entgegen. Bei einer Persistenz eines bakteriellen Biofilms, der mit der Proliferation von Bakterien und der anschließenden inflammatorischen Reaktion verbunden ist, führt dies unweigerlich zum endodontischen Misserfolg.

Anamnese/Falldarstellung

Der 41-jährige Patient, ohne bekannte Vorerkrankungen, stellte sich im Juli 2020 mit stetig zunehmenden Beschwerden im Unterkiefer rechts vor. Einen Nachtschmerz verneinte der Patient, beschrieb aber eine kurze, recht intensive Wärme- und Kälteempfindlichkeit im Unterkiefer rechts. Das Zubeißen empfand er als zunehmend unangenehm.

Klinischer und radiologischer Befund

Zähne 45–47 waren konservierend versorgt. An Zahn 47 bestand mesial der Verdacht auf Sekundärkaries. Klinisch zeigten sich ein vestibulärer Fistelgang und bukkal eine dezente, druckdolente Schwellung. Eine Fraktur des Zahns konnte durch zirkuläres Sondieren ausgeschlossen werden. Zudem war der Zahn bei negativem Sensibilitätstest mittels Kältespray deutlich perkussionsempfindlich. An Zahn 47 bestand mesial der Verdacht auf eine insuffiziente Kompo-sitrestauration mit Sekundärkaries. An Zahn 46 wurde die periradikuläre Aufhellung an der mesialen und distalen Wurzel deutlich. Die Diagnose lautete daher: akute Exazerbation einer chronischen apikalen Parodontitis, ausgehend von einer infizierten Pulpanekrose an Zahn 46.

Klinik/Therapie

Schmerzbehandlung

Beginnend mit einem Aufklärungsgespräch wurde die initiale Schmerzbehandlung am 15.  Juli  2020 durchgeführt. Nach mündlicher Einwilligung des Patienten erfolgte die Leitungsanästhesie, eine absolute Trockenlegung mittels Kofferdam und zirkumferent erneute Abdichtung (OpalDam™, Ultradent Products). Mit der Trepanation fand die Behandlung vollumfänglich unter dem Operationsmikroskop (OPM) statt (OPMI Pro Magis, Zeiss). Nach Eröffnung des Pulpakavums erfolgte eine erste chemische Bakterienreduktion durch Flutung der Pulpakammer mit 3%igem Natriumhypochlorit (NaOCl). Anschließend wurden die Kanaleingänge mit einem Micro-Opener (Dentsply Sirona) sondiert, die Dentinüberhänge sorgfältig mit einem hochtourigen Rosenbohrer (Munce Discovery Burs weiß, HanChaDent) abgetragen und ein geradliniger Zugang zu den Kanaleingängen hergestellt. Mithilfe eines Gates-Glidden-Bohrers der Größe 2 (VDW) erfolgte in abstreifenden Bewegungen nach lateral eine Erweiterung und Aufrichtung der Kanaleingänge. Ein Gleitpfad auf Sicherheitslänge wurde mit einer maschinellen Gleitpfadfeile etabliert (R-PILOT™, 12,5/.04, VDW) und anschließend mit einer reziprokierenden Feile auf Sicherheitslänge minus 1 mm erweitert (RECIPROC® blue, 25/.08, VDW).

Die mechanische Aufbereitung fand unter intermittierender Spülung mit 3%igem Natriumhypochlorit statt. Eine zusätzliche abschließende Reduktion des Biofilms erfolgte mithilfe einer schallaktivierten Spülspitze aus Polyamid (EDDY®, VDW). Anschließend wurde eine Einlage mit einer Tetrazyklin/Kortikosteroid-Kombination eingebracht (Ledermix, Riemser) und für einen bakteriendichten koronalen Verschluss der Zugangskavität gesorgt. Dieser bestand aus einem Schaumstoffpellet (Cavit™, 3M) und einem fließfähigen Komposit (Tetric® Flow, Ivoclar Vivadent).

Abschluss derendodontischen Behandlung

Bei Wiedervorstellung des Patienten circa vier Wochen später (14. August 2020) war dieser bereits beschwerdefrei und der Fistelgang vollständig abgeheilt. Wie schon oben beschrieben, wurde nach Leitungsanästhesie Kofferdam gelegt, der Zahn unter OPM trepaniert und die medikamentöse Einlage unter Verwendung von schallaktiviertem (EDDY, VDW) 3%igem NaOCl vollständig aus dem Kanalsystem entfernt.

Anschließend erfolgte die endometrische Längenbestimmung (Raypex® 6, VDW) mit einer Gleitpfadfeile (VDW STERILE C-PILOT, ISO 10, VDW) in allen vier Kanälen (zwei mesiale und zwei distale Kanäle). Die Arbeitslänge wurde streng nach dem Patency-Konzept bestimmt. Nachdem ein maschineller Gleitpfad in allen Kanälen etabliert war (R-PILOT, VDW), wurden sie unter ständigem NaOCl-Austausch sukzessive mit einer reziprokierend arbeitenden Feile auf Arbeitslänge erweitert (RECIPROC blue, 25/.08, VDW) und mit einer Gleitpfadfeile rekapituliert (C-PILOT, ISO 10, VDW). Nach visuellem Gauging wurden die distalen Kanäle im apikalen Drittel mit einer reziprokierend arbeitenden Feile instrumentiert (RECIPROC blue, 40/.06, VDW). Mittels Handaufbereitung wurde das apikale Drittel im mesiolin-gualen Kanal in Step-back-Technik erweitert. Der mesiale Isthmus konnte mit sehr feinen Munce-Bohrern (Munce Discovery bur rosa, HanChaDent) im koronalen Bereich abgetragen werden. Distal wurde der Isthmus mit flexiblen, vorgebogenen Ultraschallfeilen (U Files, NSK) unter Einsatz von 3%igem NaOCl fein präpariert. Bereits hier war durch simultan verlaufende Flüssigkeitssäulen zu erkennen, dass sowohl die mesialen als auch die distalen Kanäle apikal konfluierten. Genauer: Es lagen jeweils zwei separate Kanäle vor, die sich kurz vor dem Apex zu einem Kanal vereinigten (Typ 2 gemäß Vertucci-Klassifizierung). Die Masterpoint-Aufnahme zeigte die Konfluenz der Wurzelkanäle jeweils im unteren Wurzeldrittel.

Anschließend wurde ein Desinfektionsprotokoll inkl. Schall- und Ultraschallaktivierung ausgeführt: Je Kanal kamen nacheinander 17%iges EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure) für eine Minute zur Entfernung des Smearlayers und 10 ml 3%iges NaOCl zur Anwendung. Die Trocknung wurde durch eine anschließende Spülung mit Alkohol und durch Papierspitzen unterstützt. Um eine möglichst dichte homogene Wurzelfüllung zu gewährleisten, wurde in den mesiolingualen Kanal erneut der angepasste Masterpoint eingelassen. In den mesiobukkalen, recht stark gekrümmten Kanal wurde durch Impression einer K-Feile in den Masterpoint geprüft, auf welcher Höhe die beiden Kanäle konfluieren. Alle Kanalwände wurden dünn mit Sealer (AH Plus, Dentsply Sirona) benetzt. Der Masterpoint im mesiolingualen Kanal wurde auf Tug-back geprüft und auf Konfluenzhöhe +2 mm mit einem Heat Plugger abgeschmolzen (BeeFill 2in1, VDW). Der mesiobukkale Kanal wurde mittels Guttapercha (RECIPROC® blue Guttapercha, VDW) in warm-vertikaler Kompaktion im apikalen Drittel obturiert. Auch die distalen Kanäle wurden warm-vertikal im apikalen Drittel abgefüllt. Nach vollständiger Obturation des Kanalsystems mittels warm-vertikaler Kompaktion folgte der adhäsive Verschluss der Zugangskavität. Alle Oberflächen der Zugangskavität wurden sehr vorsichtig mit einem Munce-Bohrer (Munce Discovery bur weiss, HanChaDent) angefrischt und die Guttapercha bis auf Höhe des Limbus alveolaris abgetrennt. Ein Sandstrahlen der Kavität mit Aluminiumoxid und eine selektive Schmelzätzung mit 37%iger Phosphorsäure (IBond Total Etch, Kulzer) unterstützten den Haftverbund. Unter Anwendung eines dualhärtenden Bondingsystems mit selbstkonditionierendem Primer (Clearfil Liner Bond 2 V, Kuraray) erfolgte der stufenweise adhäsive bakteriendichte Verschluss mit einem Bulk-Fill-Komposit (SDR flow+, Dentsply Sirona) sowie einem Komposit für Aufbaufüllungen und Stiftaufbauten (Luxacore, DMG). Die Röntgenkontrolle nach 16 Monaten zeigte vollständig ausgeheilte apikale Verhältnisse bei klinischer Symptomfreiheit (PAI 1).

Diskussion

Eine formgerechte Präparation des Wurzelkanals und eine adäquate chemische Desinfektion gehören zu den maßgeblichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche endodontische Behandlung.6 Mit der Einführung des ersten reziprokierend arbeitenden Feilensystems wurde die Grundlage für eine schnelle, effiziente und anwenderfreundliche Wurzelkanalaufbereitung gelegt.7 Durch die reziproke Bewegung wird ein Verklemmen der Feile im Kanal verhindert, dies führt zu einer deutlichen Verringerung von Torsionsfrakturen im Vergleich zu vollrotierend arbeitenden Feilensystemen.8

Im oben beschriebenen Fallbericht (lange Kanäle, s-förmig gekrümmter mesiobukkaler Kanal mit Konfluenz) fiel die Wahl auf ein System von Feilen (RECIPROC blue, VDW) aus einer sog. Shape-Memory-Legierung, einer Weiterentwicklung der pseudoelastischen Legierungen (z. B. M-Wire, Dentsply Sirona). Die Instrumente werden im Zuge des Herstellungsprozesses einer speziellen thermischen Behandlung unterzogen. Hierdurch kommt es zur Ausbildung einer blauen Oxidschicht, daher die Benennung der Legierung (Blue Wire). Sie zeichnet sich durch Veränderung in der Kristallgitterstruktur aus, die thermisch und mechanisch durch Belastung induzierbar ist.9 Das Resultat ist eine signifikant höhere Flexibilität der Instrumente und eine geringere Anfälligkeit gegenüber zyklischer Biegeermüdung.10–12 Feilen aus einer Blue-Wire-Legierung eignen sich besonders für eine formgerechte Präparation stark gekrümmter Wurzelkanäle.13–15

Bestehen bleibt trotz allem die geringe Gefahr der Feilenfraktur. Bereits die Etablierung eines Gleitpfades (mindestens ISO 10) führt zu einer deutlichen Reduzierung des Torsionsstresses16, zu geringerer Debrisextrusion und somit zu einer Verringerung der postendodontischen Beschwerden. Auch das Auftreten von Präparationsfehlern wie Kanaltransportationen wird reduziert.17, 18

Neben der Kanalaufbereitung kommt der chemischen Desinfektion des Wurzelkanalsystems zunehmend Bedeutung zu. Studien zeigen, dass eine vollständige mechanische Bearbeitung des Wurzelkanalsystems nur auf 50 bis maximal 70 Prozent der Oberfläche möglich ist.6, 19 Eine effektive Wirkung der Spülflüssigkeit wird dann erreicht, wenn diese mit der gesamten Fläche des Wurzelkanals in Kontakt tritt. Eine Bewegung der Spülflüssigkeit ist somit unumgänglich. Eine aktuelle Option stellt eine flexible Polyamidspitze der Größe 25/.04 dar (EDDY, VDW), die mit einem Airscaler schallaktiviert wird. Diese schwingt frei in der Spüllösung und löst ähnliche Mikroströmungen aus wie Ultraschall.20 Das Ergebnis der schallaktivierten Desinfektion spiegelt sich in den sichtbar abgefüllten Seitenkanälchen im oben beschriebenen Fallbeispiel wider. Letzten Endes ist und bleibt die endodontische Therapie immer eine Herausforderung, deren Erfolgsprognose maßgeblich mit der Erfahrung des Behandlers, aber auch mit einem zuverlässigen, sicheren und einfachen Instrumentarium steigt.

Tab. 1: Daten zur Aufbereitung der Wurzelkanäle. © Dr. JostMihrmeister, M.Sc.

Schlussfolgerung

Endodontische Feilen der aktuellen Generation punkten physikalisch mit einer geringeren zyklischen Ermüdung. Klinisch bedeutet die jüngste Weiterentwicklung zu den sog. Blue Wire-Legierungen eine schnellere und sicherere Instrumentierung. Dies wurde im vorliegenden Fall am Beispiel eines Unterkiefermolaren mit Vertucci-Typ-2-Anatomie demonstriert. Das Vorgehen ist generell auf komplexe Wurzelkanalanatomien zu übertragen. Die chemische Desinfektion lässt sich wirkungsvoll durch die Verwendung einer schallaktivierten Polyamidspitze unterstützen. Diese Details gehören zu herausfordernden endodontischen Behandlungen auf dem Stand der Technik ebenso dazu wie das OPM.

Eine Literaturliste steht hier zum Download für Sie bereit.

Dieser Beitrag ist in dem EJ Endodontie Journal erschienen.

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