Endodontologie 02.06.2023
Leitlinie Wurzelspitzenresektion – was nun?
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Seit Juli 2020 ist die S2k-Leitlinie „Wurzelspitzenresektion“1,2 auf dem aktuellen Stand und soll nach Vorgaben der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften weiterhin systematisch entwickelte Hilfen zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen für Ärzte bzw. Zahnärzte geben. Seitdem sind bereits viele Kommentierungen seitens der unterschiedlichen Interessengruppen und Vertreter der jeweiligen Fachgesellschaften veröffentlicht worden.
Gerade vor dem Hintergrund einiger Besonderheiten bei der Entwicklung und Abstimmung/Konsensfindung2 der neuen Leitlinie im Vergleich zur alten von 20073, sehr unterschiedlicher Auslegung von Studienergebnissen und deren Erfolgsbeurteilungen,2 der flächendeckend nicht deutlich verbesserten Qualität der Therapieergebnisse4 und schließlich der teilweise erheblich hiervon abweichenden juristischen Bewertungen, wird es für den Generalisten umso wichtiger, für seine Interpretationen und Entscheidungen im Praxisalltag weitere Informationen, die über den jeweiligen Tellerrand des Chirurgen, des Endodontologen und des Juristen reichen, zu bekommen.
Statistik
Die Quote für Wurzelspitzenresektionen lag im Jahr 2021 in Deutschland mit insgesamt 563.500 über den der gesetzlichen Krankenkassen abgerechneten resezierten Wurzeln 7,4 Prozent der durch eine Wurzelkanalinstrumentierung behandelten Wurzelkanäle bzw. 9,1 Prozent der Kanäle, die mit einer abschließenden Obturation versorgt worden sind.4 Diese Zahlen sind einerseits seit über 20 Jahren nahezu stabil registriert (9,2 bis 10,2 Prozent) und andererseits ein Beleg dafür, dass die fachliche Auseinandersetzung mit dieser Therapieform trotz erheblicher Verbesserung der Erkenntnisse, sowohl der fachlichen als auch der instrumentellen Möglichkeiten bei der endodontischen Erstbehandlung auch heute noch sehr wichtig erscheint.
Leitlinienreport und Konsensusfindung
In Bezug auf die Definition der Wurzelspitzenresektion (WSR) ist im Vergleich zur bisherigen Leitlinie von 20073, die eine eindeutige Erklärung enthielt, dass die WSR nicht eine sorgfältig durchgeführte, konservative endodontische Therapie ersetzt, bei der neuen Leitlinie von 20201,2 hierzu kein Hinweis mehr vermerkt. Dies ist anzumerken, da wiederum ein einstimmiges Statement mit starkem Konsens unter Empfehlung 12a zu „Therapieoptionen bei einem Misserfolg einer WSR“ von allen Mandatsträgern der Fachgesellschaften, Verbände und Arbeitskreise eine orthograde Revisionsbehandlung nach missglückter Resektion „diskutiert“ wurde.2
Während die Indikationen einer WSR unter den Empfehlungen 7a bis 7d im Vergleich zur „alten“ Leitlinie fachlich vernünftig präzisiert sind, ist es jedoch bei der Ausarbeitung und Abstimmung der sehr wichtigen Empfehlung zur technischen Durchführung (Empfehlung 9) trotz guter wissenschaftlicher Datenlage zu einerseits einem sog. Sondervotum seitens der DGMKG, der DGI, des AKOPOM, BDO, DAZ, FVDZ, der BZÄK und KZBV und andererseits zu einer Ablehnung durch die AGOKi, DGMKG und des BDO gekommen,2 sodass die Graduierung der Empfehlung deutlich abgeschwächt wurde und somit eine Reduktion der Therapiequalität im Alltag resultiert. Mit dem Ergebnis dieser Voten bleibt die Leitlinie an dieser relevanten Stelle sogar hinter der bereits seit über zehn Jahren bestehenden Lehrmeinung der einschlägigen Lehrbuchliteratur zurück.5– 7
Es fällt außerdem sehr auf, dass die „Einteilung bei der Ermittlung der Erfolgsrate nach endodontischen Revisionsbehandlungen“ erheblich präziser im Vergleich zu den entsprechend aufgeführten Kriterien für einen WSR-Behandlungserfolg erarbeitet wurde.1,2 Die bereits in den 1970er-Jahren vorgeschlagene Klassifikation zur „Bewertung des Erfolgs der endodontischen Chirurgie“8 ist bis heute nicht erweitert worden und findet so Einzug in die aktuelle Fachliteratur.9 Durch Nichtbeachtung der neueren radiologischen Kriterien und der zeitlichen Betrachtungsweise, die bei der Revisionsbehandlung zurate gezogen werden,2 kommt es häufig zu einer subjektiven Bewertung der Erfolgsrate einer WSR und kann nicht unerheblich die Therapieentscheidungsfindung negativ beeinflussen.
Wurzelspitzenresektion im Praxisalltag
Bereits im Jahr 2003 haben Sedgley und Wagner im Rahmen ihrer Arbeit zu nichtchirurgischen endodontischen Revisionsbehandlungen festgestellt, dass in der Regel bei einem Misserfolg der endodontischen Erstbehandlung einerseits nicht an einen Endodontiespezialisten zur Revision, sondern eher an Oralchirurgen/MKG-Chirurgen überwiesen wurde, andererseits sehr häufig eine Resektion mit Obturation der Kanalstrukturen lediglich mit nichtthermisch bearbeiteter Guttapercha erfolgte und außerdem sehr häufig keine retrograde Füllung durchgeführt wurde (no retreatment by endodontist, first visit oral surgeon, apicoectomy with cold burnish gutta percha, no root end filling; vgl. Abb. 1).10
Dieses Bild in Bezug zur Wurzelspitzenresektion spiegelt auch die aktuellen Verhältnisse im Alltag wider, weshalb es bei der Abstimmung zur technischen Durchführung einer WSR (Empfehlung 9, siehe oben) auch so vehement Widerstand u.a. durch die chirurgischen Fachgesellschaften und Verbände gegeben hat.2
Die Folge kann – vielfach bestätigt – leider auch sein, dass die Qualität der endodontischen Erstbehandlung bereits häufig niedrig ist bzw. sogar weiter sinkt, was zumindest die Interpretationen der Statistiken und die Zunahme der Behandlungsmängel, die letztlich auch vermehrt zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen, nicht nur empirisch zeigen.
So werden immer noch viel zu viele mangelhafte Erstbehandlungsergebnisse völlig unkritisch zur chirurgischen Weiterbehandlung überwiesen, statt – wenn nicht selbst durchführbar – für eine nichtchirurgische Revisionsbehandlung einem hierfür spezialisierten Endodontologen zuzuführen, um dem Patienten das vom therapeutischen Risikolevel erheblich sicherere Verfahren ggf. zunächst zu ermöglichen (Abb. 2 und 3).
In dem Zusammenhang müssen selbstverständlich auch kritisch die auf allen chirurgischen Tagungen und Versammlungen zitierten Studienergebnisse hinsichtlich der Erfolgsrate bei Wurzelspitzenresektionen aufgrund des Studiendesigns hinterfragt werden.11 Denn in der Regel werden hierfür häufig Kuzzeitstudien vorgestellt, die von absoluten Spezialisten mit High-End-Instrumentarium und Materialien durchgeführt wurden, sodass Erfolgsraten von bis zu 97 Prozent beziffert werden, die in der breiten Masse der chirurgischen Behandlungen in Deutschland nicht realistisch sind.12 Zumal, wenn man auch noch postoperativ die entscheidenden objektiven Behandlungserfolgskriterien zur Anwendung bringt (vgl. Abb. 4–9).2,8
Juristische Bewertungen
Dieser Einschätzung folgen mittlerweile seit Jahren immer ausgeprägter auch die Gerichte im Land. Wohlgemerkt nicht nur im Bereich der niedrigen Instanzen, sondern immer mehr auch auf höheren Oberlandesgerichtebenen. So hat exem-plarisch das OLG Koblenz (AZ 1 U 1295/98 vom 04.04.2000) entschieden, dass „… es keinen Unterschied des zahnmedizinischen Standards zwischen gesetzlich und privat versicherten Patienten gibt … so hat er vor einer WSR über die Möglichkeit einer Revision … als Primärbehandlung … konkrete und echte Behandlungsalternative mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen Risiken aufzuklären …“.
Das LG Düsseldorf hat in einem Fall (AZ 3 O 285/11 vom 20.3.2014) sogar die überweisende Zahnärztin und den die WSR durchgeführten MKG-Chirurgen mit den Worten „… der pflichtwidrige Verursachungsanteil wirkt fort … ein möglicherweise gegebenes weiteres Fehlverhalten eines anderen Arztes … vermag den in Gang gesetzten Kausalverlauf nicht zu unterbrechen …“ zu einer Zahlung eines hohen Schmerzensgeldes verurteilt.
Das nächste zitierte Gerichtsurteil vermag die bundesweite Tendenz der Gerichte widerzuspiegeln. So hat das LG Dessau (AZ 4 O 662/11 vom 8.10.2013) einen Oralchirurgen zu einem Schadenersatz mit der Formulierung „… er hätte über die Möglichkeiten in einer spezialisierten Praxis aufklären müssen … aufgrund des Fehlens eines solchen Hinweises ist die Behandlung mangels ordnungsgemäßer Aufklärung in allen haftungsrechtlichen Folgen als rechtswidrig zu qualifizieren …“ verurteilt.
Jedoch wird auch insgesamt die juristische Einschätzung von endodontischen Behandlungsergebnissen immer kritischer, was u. a. das Berufungsurteil vom 27. Mai 2014 (OLG Stuttgart, AZ 1 U 89/13) zeigt. So hat das Gericht festgestellt: „Schadenersatzpflichtig hat sich der Beklagte durch eine fehlerhafte Wurzelbehandlung des Zahns 14 gemacht. Die durch den Beklagten erfolgte Wurzelbehandlung war fehlerhaft, weil er einen Wurzelkanal übersehen und daher nicht gefüllt hat … und zudem die beiden weiteren Wurzelkanäle nur unvollständig verfüllt wurden …“.
Fazit
Bei Betrachtung aller Aspekte, sowohl aus Sicht der heutigen chirurgischen als auch der endodontischen Behandlungsmöglichkeiten (instrumentell, materiell, operator skills), erscheint die neuere Version der im Juli 2020 veröffentlichten S2k-Leitlinie „Wurzelspitzenresektion“1,2 an entscheidender Stelle eher ein schlechter Kompromiss zu sein, zumal die einschlägige Fachliteratur,5–7 die wissenschaftliche Datenlage13–17 und auch die Gerichte bereits viel weiter sind. Eine gegebenenfalls von einzelnen Interessenvertretern gewünschte „Fluchtmöglichkeit“ des Generalisten nach mangelhafter endodontischer Erstbehandlung in eine WSR-Überweisung zum Chirurgen oder aber die veraltete, softe Bewertung des WSR-Erfolgs mit kompromissbehaftetem Empfehlungsszenario, das mittlerweile von den in der Praxis bewährten Verfahren und Erkenntnissen sehr weit entfernt ist, wird sowohl aus medizinisch-fachlicher als auch juristischer Sicht immer schwieriger.
So sollten sich alle, Generalisten, Chirurgen und auch Endodontologen, mit den modernen Erkenntnissen und Techniken rund um das Thema Wurzelspitzenresektion und nichtchirurgische Revision zukünftig noch intensiver auseinandersetzen (vgl. Abb. 10–12).
Eine Literaturliste steht hier zum Download für Sie bereit.
Dieser Beitrag ist im EJ Endodontie Journal erschienen.