Kieferorthopädie 14.05.2024

Genetische Polymorphismen mit mandibulärer Retrognathie



Genetische Polymorphismen mit mandibulärer Retrognathie

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In der Kieferorthopädie bieten personalisierte Diagnostik- und Therapieansätze das Potenzial einer hochwirksamen und von weniger Nebenwirkungen begleiteten Behandlung. Zur präzisen und frühzeitigen Identifikation einer mandibulären Retrognathie sind Genotypisierungen im Rahmen einer personalisierten Diagnostik vielversprechend im Vergleich zu klassischen Ansätzen, welche beispielsweise mittels Kephalometrie und klinischer Befundung den zum Untersuchungszeitpunkt vorliegenden Phänotyp bestimmen.

Ein Großteil der Kinder in Deutschland weist einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf, was im Rahmen der DMS • 6 aktuell belegt wurde.5 Aus der Studie ging hervor, dass 88,9 Prozent der untersuchen Acht- bis Neunjährigen eine vergrößerte sagittale Frontzahnstufe, welche häufig mit einer Distalokklusion und skelettalen Klasse II einhergeht, aufwiesen. Eine Metaanalyse, welche eine internationale Prävalenz der Angle Klasse II von 29 Prozent im Wechselgebiss berichtete, verdeutlichte ebenfalls die Relevanz dieses Phänotyps für die Kieferorthopädie.9 Der Phänotyp beschreibt die Ausprägung eines bestimmten Merkmals, beispielsweise den Prognathiegrad des Unterkiefers, und wird durch den Genotyp sowie durch Umwelteinflüsse bestimmt. Obwohl die sagittale und vertikale Relation verschiedener kraniofazialer Strukturen letztendlich die skelettale Klasse beeinflussen,13 geht die distobasal-sagittale Kieferrelation häufig mit einer Retrognathie des Unterkiefers einher.

Die therapeutischen Ansätze zur Korrektur von Malokklusionen und Dysgnathien variieren zwischen Einheitsbehandlungen für alle Patienten mit einem bestimmten klinischen Befund und personalisierten Methoden. Während Erstere das Risiko ernsthafter Nebenwirkungen und einer geringen Wirksamkeit bergen, gehen Letztere mit einer hohen Effektivität und einem geringen Risiko an unerwünschten Begleiterscheinungen einher. Diese personalisierten Ansätze erfordern eine präzise Differenzialdiagnostik, welche beispielsweise mithilfe von genetischen Biomarkern den genetischen Hintergrund identifiziert oder durch multidimensionale individualisierte Techniken in der Bildgebung und deren Analyse den vorliegenden Genotyp bzw. Phänotyp charakterisiert.

Im Rahmen der Routinediagnostik wird, neben dem klinischen Erscheinungsbild mit Aussagen über die Okklusion im Front- und Seitenzahnbereich, häufig ein Fernröntgenseitenbild (FRS) angefertigt, dessen Messungen größtenteils empirischen Normwerten gegenübergestellt werden. Aufgrund der Komplexität der Relationen innerhalb des Gesichtsschädels14 und der Tatsache, dass es sich um eine Momentaufnahme handelt, welche noch ausstehendes Wachstum insbesondere im Ausmaß, jedoch auch in der Richtung, nicht präzise diagnostizieren lässt, besteht das Risiko einer fehlerhaften Diagnosestellung.Eine Möglichkeit der personalisierten Diagnostik hingegen bieten genetische Ansätze, welche Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) involvieren. Dabei handelt es sich um Variationen eines Gens durch Veränderungen der DNA-Abfolge, welche sich auf die Expression und Funktion der betroffenen Gene auswirken und somit zur Entstehung eines unterschiedlichen Genotyps, der sich letztlich auf den Phänotyp auswirkt, beitragen können. In der Literatur sind bereits einige SNPs im zahnmedizinischen Kontext, beispielsweise im Zusammenhang mit der Entstehung von Dysgnathien1 oder der Persistenz von Milchzähnen,7 beschrieben worden. Im Vergleich zu den bisherigen diagnostischen Techniken, wie dem FRS oder der klinischen Beurteilung, könnten solche Methoden im Rahmen von Screening-Tests durch die Identifikation des Genotyps nicht nur eine frühzeitige, sondern auch eine präzise Differenzialdiagnostik ermöglichen und schließlich in besseren Therapieergebnisse resultieren. Im Zusammenhang mit kraniofazialem Wachstum sind unter anderem der epidermale Wachstumsfaktor (EGF) und dessen Rezeptor (EGFR) von Bedeutung, da diese Proteine als Signalmoleküle während der Proliferation und Differenzierung von Zellen fungieren und somit auch das skelettale Wachstum beeinflussen.11 Daher bestand das Ziel dieser Fall-Kontroll-Studie darin, eine mögliche Assoziation zwischen Einzelnukleotid-Polymorphismen bei Genen, welche für den epidermalen Wachstumsfaktor und dessen Rezeptor kodieren, und einem retrognathen Unterkiefer in deutschen Jugendlichen zu untersuchen.

Material und Methoden

Diese Fall-Kontroll-Studie wurde an 119 deutschen kieferorthopädischen Patienten im Alter von zehn bis 18 Jahren, welche zwischen 2020 und 2021 eine prätherapeutische Diagnostik mit FRS erhielten, durchgeführt. Eingeschlossen wurden nur Patienten mit mitteleuropäischer Herkunft sowie nur ein Mitglied pro Familie, um genetischen Bias zu verhindern. Die Ausschlusskriterien umfassten Syndrome und Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Nichtanlagen permanenter Zähne mit Ausnahme der Weisheitszähne, kraniofaziale Traumata und einen prognathen Unterkiefer. Im Anschluss an die Rekrutierung wurden die Patienten retrospektiv in zwei Gruppen aufgeteilt: ein retrognather Unterkiefer (SNB < 78°) führte zur Zuordnung in die Fall-Gruppe, ein orthognather Unterkiefer (SNB 78–82°) hingegen zur Einteilung in die Kontroll-Gruppe.

Die an Segner und Hasund14, 15 angelehnte FRS-Analyse erfolgte digital mit der Software ivoris® analyze pro (Version 8.2.15.110, Computer konkret AG, Falkenstein) durch zwei zuvor mittels Interrater- und Intrarater-Reliabilität kalibrierte Kieferorthopäden. Von Interesse war insbesondere der SNB-Winkel zur Einteilung in die Patientengruppen (Abb. 1).

Die genetische Analyse fokussierte vier SNPs der Gene EGF und EGFR, deren Details in Tabelle 1 dargestellt sind. Die Auswahl dieser SNPs erfolgte aufgrund deren Funktion, deren Häufigkeit der Minor-Allele in Europa (> 20 %) und den Erkenntnissen aus publizierten Studien, welche deren klinische Relevanz berichteten (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/snp/). Zur Analyse der EGF- und EGFR-Genotypen wurde DNA mittels Cytobürsten von den bukko-epithelialen Zellen extrahiert und anschließend mittels Spektrophotometrie quantifiziert. Dann erfolgte die Genotypisierung mittels quantitativer Echtzeit-PCR (RT-qPCR) mit der TaqMan-Technologie. Abschließend wurden unter anderem die Genotypen zwischen beiden Patientengruppen (retrognather und orthognather Unterkiefer) verglichen.

Ergebnisse

Von den final 119 eingeschlossenen Patienten wiesen 74 einen retrognathen (Gruppe 1) und 45 einen orthognathen Unterkiefer (Gruppe 2) auf. Die Geschlechterverteilung des Gesamtkollektivs war annähernd homogen (57 Jungen, 62 Mädchen) und das Durchschnittsalter betrug 12,3 Jahre. Die Ergebnisse der Genotypisierung sind in Tabelle 2 dargestellt.

Für den ersten untersuchten SNP des EGF-Gens, rs4444903, wird ersichtlich, dass die Genotypen AG und GG ein geringeres Risiko für die Entwicklung eines retrognathen Unterkiefers zeigten. Im Falle des SNP rs2237051 des EGF-Gens waren hingegen die Genotypen GA und AA signifikant mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines retrognathen Unterkiefers assoziiert. Von den zwei analysierten SNPs des EGFR-Gens wies nur rs2227983 einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen auf: Patienten mit den Genotypen GA und AA wiesen weniger häufig eine mandibuläre Retrognathie auf.

Diskussion

Diese Fall-Kontroll-Studie untersuchte jugendliche kieferorthopädische Patienten in Deutschland mitteleuropäischer Abstammung hinsichtlich einer Assoziation zwischen bestimmten SNPs bei Genen, die für den EGF und EGFR kodieren, und einem retrognathen Unterkiefer. Unsere Ergebnisse konnten zeigen, dass insgesamt drei der vier analysierten SNPs der für EGF und EGFR kodierenden Gene signifikant mit der Entwicklung einer mandibulären Retrognathie assoziiert sind. Somit konnten diese SNPs als ätiologische Faktoren eines retrognathen Unterkiefers im untersuchten Kollektiv identifiziert werden.

Die Retrognathie des Unterkiefers ist mit mehreren Symptomen und Krankheitsbildern vergesellschaftet, weshalb Erkenntnisse zur Entstehung, Diagnostik und Therapie eine große klinische Relevanz haben. Neben dem bereits erwähnten Zusammenhang zur skelettalen Klasse II10 konnte ein solcher unter anderem auch für das obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) nachgewiesen werden.4 Da insbesondere eine frühzeitige und korrekte Diagnose einer solchen Dysgnathie sich positiv auf die Therapie und deren langfristige Stabilität auswirkt, könnten unsere Erkenntnisse im Rahmen von genetischen Screening-Tests Anwendung finden und zur kausalen Korrektur beitragen. In unserer Studie wurden vier SNPs der Gene, welche für den EGF und EGFR kodieren, analysiert, da diese Signalmoleküle in skelettalen Wachstumsprozessen (des Gesichtsschädels) involviert sind.2, 11 In anderen Studien wurden bereits einige andere SNPs in Genen identifiziert, die mit einer Rücklage des Unterkiefers einhergehen, wie zum Beispiel in Genen, die für MYO1H1 und BMP28 kodieren. Kirschneck et al. fanden im Rahmen einer Untersuchung desselben Studienkollektivs eine Assoziation zwischen einem SNP im Gen, welches für TGFBR2 kodiert, und mandibulärer Retrognathie.6 Anhand dieser Beispiele wird die Komplexität der mandibulären Retrognathie und die Vielzahl der involvierten Gene und SNPs ersichtlich. Unsere Ergebnisse belegen, dass das G-Allel im SNP rs4444903 des EGF signifikant seltener mit einem retrognathen als mit einem orthognathen Unterkiefer einherging. In den SNPs rs2237051 des EGF und rs2227983 des EGFR hingegen war das A-Allel signifikant weniger häufig mit einem retrognathen Unterkiefer assoziiert. Tanabe et al. konnten bereits nachweisen, dass ein bestimmter SNP des EGF-Gens (Position 61, Basenaustausch: A→G, SNP rs444903) zu Veränderungen der EGF-Level führt und dass der GG-Genotyp mit einer höheren Genexpression einherging als der AA-Genotyp.16 Diese Erkenntnis könnte erklären, warum in unserer Studie Patienten mit dem AA-Genotyp im SNP rs4444903 des EGF häufiger einen retrognath entwickelten Unterkiefer zeigten. Der SNP rs2237051 des EGF-Gens wurde bisher nicht im Zusammenhang mit skelettalem Wachstum des Gesichtsschädels untersucht. Es konnte allerdings eine Assoziation mit aggressiver generalisierter Parodontitis17 und Periimplantitis3 belegt werden. Der SNP rs2227983 des EGFR-Gens, welcher unseren Erkenntnissen nach mit der mandibulären Retrognathie assoziiert ist, wurde in der Literatur noch nicht im Kontext der zahnmedizinischen Forschung beschrieben, sodass hier weitere Studien unsere Ergebnisse verifizieren sollten.

Schlussfolgerung

SNPs bei Genen, welche für EGF und EGFR kodieren, sind in der Ätiologie der mandibulären Retrognathie involviert und könnten im Rahmen von genetischen Screening-Tests als genetische Biomarker zu einer präzisen und frühzeitigen Diagnose beitragen und somit nicht nur die Identifikation, sondern auch die Therapie(stabilität) verbessern. Des Weiteren könnten solche SNPs als prognostische Faktoren dienen. Im Rahmen von weiteren Studien sollten unsere Erkenntnisse in unterschiedlichen Populationen analysiert und verifiziert werden. Diese Arbeit wurde mit dem Arnold-Biber-Preis 2023 (Dentaurum/DGKFO) ausgezeichnet und im Journal of Orofacial Orthopedics erstveröffentlicht: Paddenberg-Schubert, E., Küchler, E., Bitencourt Reis, C.L. et al. New insights into the genetics of mandibular retrognathism: novel candidate genes. J Orofac Orthop (2024).  https://doi.org/ 10.1007/s00056-023-00512-z 12

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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