Kieferorthopädie 11.03.2024
Neuer Konsensus zur Prävention von Primärkaries während der KFO-Therapie
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Demineralisierte Schmelzläsionen, auf Englisch „White Spot Lesions“ (kurz: WSL) genannt, sind eine ebenso häufige wie gefürchtete Begleiterscheinung kieferorthopädischer Therapie (Lovroc, Hertrich and Hirschfelder 2007). Trotz ausgiebiger Nachforschungen über die Genese der „weißen Flecke“ stellen sie Kliniker weiterhin vor große Herausforderungen. Diese vorwiegend an den vestibulären Glattflächen auftretenden Schmelzläsionen können ohne Therapie zu Karies progredieren und stellen eine ästhetische Einschränkung dar.
Besonders festsitzende kieferorthopädische Apparaturen, welche die häusliche Mundhygiene nachweislich erschweren, bergen ein hohes Risiko für das Auftreten von WSL (Øgaard 1989). Neben der Art der kieferorthopädischen Therapie spielen ätiologische Faktoren wie ein hoher Plaqueindex, Änderungen des oralen Mikrobioms, das Alter, das Geschlecht, bereits bestehende WSL sowie die Dauer der Therapie eine entscheidende Rolle (Gorelick, Geiger, and Gwinnett 1982; Øgaard, Rølla, and Arends 1988; Tufekci et al. 2011). Laut Literatur ist die Prävalenz für WSL im Zusammenhang mit kieferorthopädischer Therapie mit einer Spannweite von 26 bis 97 Prozent ebenso breit gefächert (Lovrov, Hertrich, and Hirschfelder 2007; Boersma et al. 2004).
Aufgrund dieser multifaktoriellen Einflüsse ist die Prävention von WSL komplex. Eine individuelle und patientenzentrierte Therapie scheint daher unvermeidbar. Obwohl über die Jahre mehrere systematische Literaturrecherchen zu diesem Thema durchgeführt wurden, die wichtige Erkenntnisse zur Genese und Therapie von WSL sammelten (Sardana et al. 2022; Sonesson and Twetman 2023), fehlte bisher ein konsensusbasierter Leitfaden zu deren Prävention.
Ein kürzlich publiziertes Konsensuspapier (Sardana et al. 2023) hat das Potenzial, als Handbuch zur State-of-the-Art-Prävention von WSL während kieferorthopädischer Therapie zu dienen. Die Autorengruppe stellte auf Grundlage einer systematischen Literaturrecherche 21 Empfehlungen zusammen, die durch eine unabhängige Expertenkommission (20 praktizierende Zahnärzte und klinische Wissenschaftler) validiert wurden.
Ihre Empfehlungen reichen von der Planung über das Management bis hin zur posttherapeutischen Nachsorge.
Da fixe kieferorthopädeische Apparaturen und Clear Aligner den Anteil an kariogenen Bakterien wie Streptococcus mutans und Lactobacilli nachweislich im Speichel erhöhen (Lombardo et al. 2021; Richter et al. 2011), wird neben der allgemeinen Beurteilung der systemischen und oralen Gesundheit eine ausführliche Ermittlung des Kariesrisikos empfohlen. Dazu gehören die Karieserfahrung, die momentane Mundhygiene, die Fluoridzufuhr und die Zufuhr an fermentierbarem Zucker (Ogaard et al. 1988).
Patient/-innen mit festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen sollten zudem einem höheren Kariesrisiko zugeordnet werden, da ihre Mundhygiene nachweislich erschwert und ihr Plaqueindex erhöht ist (Gorelick, Geiger, and Gwinnett 1982; Boersma et al. 2004).
Auf Grundlage dessen kommen Sardana et al. zu dem Schluss, dass bereits bei der Planung der kieferorthopädischen Therapie neben der Art der Apparatur und Dauer der Anwendung auch Faktoren wie Ernährung und Karieserfahrung in die Planung miteinbezogen werden sollten. Kurz gesagt: „Die kieferorthopädische Behandlung sollte nach den Grundsätzen des Kariesmanagements ausgewählt und durchgeführt werden“ (Sardana et al. 2023).
Zum einen beruhen die vorgeschlagenen Maßnahmen auf einer effektiven häuslichen Plaquekontrolle unter Anwendung von frei erwerblicher fluoridhaltiger Zahnpasta (1.350 – 1.500 ppm) sowie häusliche Fluoridierungsmaßnahmen (in Form von Gelee oder verschreibungspflichtiger Zahnpasta) bei Hochrisikopatienten. Digitale Erinnerungsstützen für die tägliche Mundhygiene wurden von den Experten ebenfalls als hilfreich eingestuft und sollen die Remotivation der Patient/-innen fördern.
Zum anderen wird die präventive Wirkung von zahnmedizinischen/kieferorthopädischen Therapeutika unterstrichen. So können bereits bei der Befestigung von Brackets oder anderen Verankerungen durch die Entfernung überschüssigen Bondingmaterials Prädilektionsstellen für WSL vermieden werden. Professionelle mechanische und chemische Plaquekontrollen sowie lokale Fluoridierungsmaßnahmen, wie sie in Deutschland im Rahmen der professionellen Zahnreinigung erfolgen, sollten in individuellen Intervallen stattfinden.
Hingegen wurde keine explizite Empfehlung für Fluorid-freigebende Materialien oder Produkte mit Casein-Phosphopeptid-haltigen, amorphen Calciumphosphat-Nanokomplexen (CPP-ACP) ausgesprochen. Ihr therapeutischer Effekt ist umstritten (Sardana et al. 2022) und sie sollten keinesfalls als alleinige Methoden zur WSL-Prävention herangezogen werden (Sardana et al. 2023).
Im Vergleich dazu sprechen sich die Autoren für den Einsatz von sog. „Versieglern“ bei Hochrisikopatient/-innen aus. Diese Materialien bieten eine physikalische Diffusionsbarriere um das Bracket und können so einer Plaque-induzierten Demineralisation vorbeugen (Sardana et al. 2019).
Als Unterstützung zur regelmäßigen visuell-taktilen Untersuchung der ungeschützten Zahnoberflächen bietet sich eine standardisierte Fotodokumentation an. Hierdurch wird ein Vergleich über den gesamten Therapiezeitraum möglich. Posttherapeutisch sollte ein Re-Assessment des Zahn- und Parodontalstatus durchgeführt werden, damit die Überweisung an den Generalisten zusammen mit einer Einschätzung der dentalen Gesamtgesundheit erfolgt.
Zusammenfassend beruht ein erfolgreiches Management von WSL neben einer guten Patientencompliance auch auf einer adäquaten Einstufung des individuellen Risikos für WSL vor Beginn der kieferorthopädischen Intervention. Auf Grundlage dieser Einschätzung sollten die Art und Dauer der Therapie gewählt und Präventionsmaßnahmen eingeleitet werden.
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Noch Fragen? Stellen Sie hier Ihre Fragen zum Artikel und lesen Sie die Antworten in einer der kommenden Ausgaben!
Dieser Beitag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.