Kieferorthopädie 15.04.2024

Ganzheitlicher Ansatz zur Behandlung des offenen Bisses



Ganzheitlicher Ansatz zur Behandlung des offenen Bisses

Foto: Dr. Andrea Freudenberg

Der Terminus „offener Biss“ beschreibt eine vertikale Abweichung, welche durch fehlenden Kontakt zwischen einzelnen Zähnen oder Zahngruppen in Schlussbissstellung gekennzeichnet ist.1–4 Es lässt sich hier zwischen einem negativen Overbite (klassischer offener Biss) und einem positiven vertikalen Overbite, aber mit fehlendem Frontzahnkontakt differenzieren (Abb. 1).

Die Behandlung des offenen Bisses gilt als eine der anspruchsvollsten Aufgaben im Bereich der Kieferorthopädie und stellt den Behandler nicht zuletzt wegen seiner hohen Rezidivrate vor besondere Herausforderungen.3, 5–8Unbehandelt kann ein offener Biss eine Reihe von Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden einer Person haben. Dazu gehören funktionelle Beeinträchtigungen, wie eine eingeschränkte Kaueffizienz, Sprachstörungen und Mundatmung. Auch Kiefergelenkbeschwerden aufgrund ungünstiger Belastung der Gelenkstrukturen sind möglich. Zusätzlich kann die Ästhetik durch inkompetenten Lippenschluss und ein sogenanntes „Long Face“ beeinträchtigt werden, was sich wiederum auf die psychische Verfassung auswirken kann.4, 9 In der Kieferorthopädie wird zwischen dem dental und dem skelettal offenen Biss unterschieden, wobei häufig Mischformen vorliegen, was die Unterteilung erschwert.4, 5, 8, 10

Die Ätiologie ist multifaktoriell. Neben genetischen Faktoren tragen häufig auch epigenetische und exogene Einflüsse zu dieser Fehlstellung bei.1–5, 8–14

Dem dental offenen Biss liegen oft orofaziale Dysfunktionen wie Lutschhabits, Zungenpressen, viszerales Schluckmuster, frontale Zungenlage oder Mundatmung zugrunde. Somit liegt die Ursache hier meist in einer Funktionsstörung begründet. Bereits im Jahr 1968 wies Moss auf den wechselseitigen Einfluss von Form und Funktion hin und stellte fest, dass 80 Prozent der Dysgnathien auch auf eine Fehlfunktion zurückzuführen seien.15

In der Regel liegt bezogen auf die vertikale Relation ein normognather Fernröntgenseitenbild-Befund vor, während die Alveolarfortsätze unterentwickelt sind. Bei dem skelettal offenen Biss steht eine allgemeine Wachstumsstörung im Vordergrund. Meist findet sich hier eine verstärkt vertikale Entwicklung des Gesichtsschädels mit dolichofazialem Wachstumsmuster wieder. Der Unterkiefer ist nach posterior kaudal und/oder der Oberkiefer nach anterior kranial geneigt.

Typische kephalometrische Charakteristiken sind ein vergrößerter Gonion-, y-Achsen- und Kieferbasen-Winkel sowie eine vergrößerte untere vordere Gesichtshöhe bei verkleinerter posteriorer Gesichtshöhe.1, 5

Die Therapie muss je nach Ursache der Dysgnathie und dem Alter des Patienten individuell angepasst werden.

Neben dem Abstellen von Habits und der Normalisierung der Funktion, was umso schwieriger ist, je länger die Fehlfunktion besteht, gibt es die Möglichkeit einer rein kieferorthopädischen Behandlung oder einer kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Intervention.4, 5, 7, 8, 10, 13, 14

Der Erfolg der Therapie ist abhängig von verschiedenen Faktoren, darunter dem Zeitpunkt des Behandlungsbeginns, der Ausprägung der Anomalie und dem Abstellen von dyskinetischen Einflüssen mit Automatisierung des neu erlernten physiologischen Funktionsmusters.4, 10, 11

Die folgenden Behandlungsbeispiele sollen zwei unterschiedliche Methoden zur Behandlung eines offenen Bisses im Erwachsenenalter nach abgeschlossenem Wachstum veranschaulichen. 

Fall 1

Die Patientin stellt sich erstmals im Alter von 21 Jahren und zehn Monaten in unserer kieferorthopädischen Praxis vor, mit dem Anliegen aufgrund ihres offenen Bisses nicht mehr Kauen und Abbeißen zu können. In ihrer Jugend unterzog sich die Patientin bereits alio loco einer kieferorthopädischen Behandlung, welche aber frühzeitig abgebrochen wurde. Allgemeinanamnestisch berichtete die Patientin, an Bruxismus, Kiefergelenkknacken und Schmerzen im Rücken-, Nacken- und Kopfbereich zu leiden. Die Anfangsdiagnostik und Planung fanden im Alter von 22 Jahren und zwei Monaten statt.

Extraoraler Ausgangsbefund (Abb. 2a–c)

Die Auswertung der Profil- und En-face-Aufnahmen ergibt ein nach hinten schiefes Rückgesicht mit retrusivem Lippenprofil. Man erkennt das Vorliegen eines langen Untergesichts („Long Face“), mit leicht zurückliegendem Oberkiefer. Ein Lippenschluss ist möglich, allerdings zeigt sich dabei eine Anspannung der perioralen Muskulatur.

Intraoraler allgemeinzahnärztlicher Ausgangsbefund

Intraoral zeigt sich ein parodontal gesundes, vollständiges permanentes Gebiss mit allen Weisheitszähnen.

Radiologischer Ausgangsbefund (Abb. 3 und 4)

Im Orthopantomogramm (OPG) vom Erstbefund zeigt sich wie bereits intraoral erkennbar, das Vorhandensein von allen bleibenden Zähnen inklusive der Weisheitszähne. Neben vereinzelten Füllungen (17, 16, 36, 46) weist 36 eine Wurzelfüllung auf. Radiologisch auffallend stellt sich die apikale Aufhellung an der mesialen Wurzelspitze des wurzelbehandelten Zahnes dar.

Die Analyse des Fernröntgenseitenbildes (FRS) zeigt eine Tendenz zur skelettalen Klasse III (WITs = –16°) bei leicht retrognather Maxilla (SNA 78,8°) mit vertikalem Wachstumsmuster. Neben einem extrem großen Basiswinkel (35,2°) und einer mesial-basalen Diskrepanz (ANB = –0,5°) liegt eine posteriore Neigung der Mandibula (ML NSL = 38,9°) und eine anteriore Neigung der Maxilla (NL NSL = 3,7°) vor. Zusätzlich zeigt sich ein ausgeprägtes knöchernes Kinn und ein hohes Untergesicht (vergrößerter Kieferbasenwinkel von 33,8°). Die Oberkieferfront weist stark anteinklinierte Inzisivi auf.

Kieferorthopädischer Ausgangsbefund (Abb. 5a–d)

Die vorliegende kieferorthopädische Indikationsgruppe lautet: KIG O5

Oberkiefer

  • Mesialrotation von 16 und 26
  • Transversale und sagittale Zahnbogenenge
  • Anteinklination der Front mit Engständen und Lückeneinengung für 12 
  • Rotation von 15, 13, 11, 21

Unterkiefer

  • Supraposition der Front mit Engständen
  • Ausgeprägte Speekurve
  • Rotation von 35, 33, 31, 42, 43, 45, 48

Okklusion und Bisslage

  • Neutralverzahnung rechts und Mesialokklu sion um 1/4 PB links
  • Zirkulär offener Biss 15 24 von 4,5 mm
  • Overjet: 3mm
  • Kreuzbiss von 48 mit 18 und 45 mit 15/14

Funktionskieferorthopädischer/myofunktio neller Aufgangsbefund: 

  • Kiefergelenk ohne Befund
  • Viszerales Schluckmuster
  • Habituell offene Mundhaltung

Behandlungsziele 

  • Korrektur des offenen Bisses durch kombiniert kieferorthopädischkieferchirurgische Therapie
  • Verbesserung der Myofunktion
  • Ausformung der Zahnbögen

Kieferorthopädischer Behandlungsplan und -durchführung

  • OK: chirurgisch unterstützte zahngetragene Gaumennahterweiterungsapparatur (GNE)
  • OK+UK: MultibandBracket Apparatur (MBA) + Transpalatinalbogen (TPA)
  • OK+UK: bimaxilläre Umstellungsosteotomie
  • myofunktionelle Therapie (MFT)
  • OK+UK: OP zur vollständigen Metallentfernung im OK und UK beidseits sowie operative Entfernung von 18, 28, 48 und 36 und Autotransplantation von 38 ad 036
  • Retentionsgeräte

Gesamtbehandlungszeit aktiv: 25 Monate

Inwieweit das Zungenpiercing die Entstehung des offenen Bisses begünstigt hat, ließ sich nicht nachvollziehen. Eine Entfernung wurde angeraten, aber abgelehnt. Nach Rücksprache und Abstimmung mit der Abteilung für Mund-­Kiefer-Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Heidelberg und dem Hauszahnarzt der Patientin (bezüglich Zahn 36) wurde die Therapie mit einer chirurgisch unterstützten zahngetrage­nen Gaumennahterweiterungsapparatur (GNE), mit Abstützung durch Bänder an den ersten Prämolaren und ersten Molaren im Oberkiefer, begonnen. Das Drehprotokoll zur schrittweisen transversalen Nachentwicklung der Maxilla sah in der ersten Woche zwei Drehungen pro Tag vor, gefolgt von einer 1 x täglichen Drehung ab Wo­che zwei. Die klinische Wirkung der Apparatur zeigte sich durch die Entstehung eines deutlichen Diastema mediale so­wie einer Verbreiterung des oberen Zahn­bogens. Nach sieben Wochen konnte die gewünschte Breite erreicht werden.

Der Patientin wurde empfohlen, im Rahmen unseres interdisziplinären Behandlungsprinzips mykie® eine begleitende myofunktionelle Therapie durchzuführen, mit dem Ziel, die Stabilität des finalen Ergebnisses zu erhöhen und das Risiko auf ein Rezidiv nach Abschluss der Behandlung zu verringern.

Nach der Entfernung der Gaumennahterweiterungsapparatur (GNE) wurde eine festsitzende Multiband-Bracket-Apparatur (MBA) zur Nivellierung der Zähne und ein Transpalatinalbogen (TPA) zum Halten der transversalen Breite eingegliedert. Durch regelmäßigen Bogenwechsel gelang eine rasche Ausformung der Zahnbögen. Wenige Wochen vor der geplanten Umstellungsosteotomie wurden im Unterkiefer die Brackets von 2-2 entfernt und lingual von 3-3 ein festsitzender Retainer geklebt, um eine Überkorrektur des Overbites post OP zu ermöglichen.

Aufgrund der damaligen Coronapandemie wurde die Operation der Patientin um ca. vier Monate nach hinten verlegt. In der Zwischenzeit erfolgten in unserer Praxis regelmäßige Kontrollen. Nach erfolgter bimaxillärer Umstellungsosteotomie zeigte sich eine beidseitige Neutralbisslage sowie ein physiologischer Overjet und Overbite.

Im Anschluss wurde die Feinjustierung der Zahnstellung mittels der Multiband-Bracket-Apparatur fortgesetzt und die Okklusion durch Einhängen von Elastics stabilisiert. Zusätzlich erfolgten zwei Termine myofunktioneller Therapie in der Praxis. Die Patientin erhielt die Anweisung, nachts den Mund zu tapen, um die Nasenatmung zu fördern, und betont mit den Schneidezähnen zu kauen, damit durch aktive Nutzung der Zähne der Bissschluss weiter angeregt wird.

Dreieinhalb Monate nach der Umstellungsosteo­tomie wurde die Multiband-Bracket-Apparatur vollständig entfernt. Zusätzlich zu dem bereits vorhandenen festsitzenden Retainer im Unterkiefer wurde ebenfalls ein festsitzender Retainer im Oberkiefer von 2-2 geklebt und die Patientin erhielt als Retentionsgeräte Schienen für den Ober- und Unterkiefer sowie einen Abschirmbionator mit Zungenrampe (Abb. 7) zur Umleitung der Zunge an den Gaumen. Zusätzlich war der Bionator für die vertikale Verlängerung der Frontzähne freigeschliffen.

Obwohl eine zusätzliche logopädische Behandlung unsererseits empfohlen wurde, lehnte die Patientin diese aus zeitlichen Gründen ab, versprach jedoch, zu Hause eigenständig weiter Übungen zur Rezidiv­prophylaxe durchzuführen.

Während der Retentionsphase wurden in einem weiteren Eingriff alle metallischen Komponenten entfernt. Zudem wurden die Zähne 18, 28, 36 und 48 operativ extrahiert und der Zahn 38 anstelle 036 autotransplantiert.

Der Schlussbefund zeigt die Patientin mit harmonisch ausgeformten Zahnbögen sowie einem physiologischen Overjet und Overbite mit Frontzahnkontakt (Abb. 8a–c und 9a–f).

Fall 2

Die Patientin wurde in unserer kieferorthopädischen Praxis vorstellig, da sie die Schiefstellung ihrer Unterkieferfrontzähne ästhetisch als auch haptisch mit der Zunge störte.

Zum Zeitpunkt der Anfangsdiagnostik und der Therapieplanung war die Patientin 39 Jahre und drei Monate alt. Im Jugendalter fand bereits eine abgeschlossene kieferorthopädische Behandlung alio loco statt.

Bis auf einen Sturz aufs Kinn ca. fünf Jahre vor Behandlungsbeginn, der aber bis auf eine Narbe keinerlei Auswirkungen hatte, gab es keine weiteren anamnestischen Auffälligkeiten.

Extraoraler Ausgangsbefund (Abb. 10a–c)

Die Analyse der Profil- und En-face-Aufnahmen der Patientin zeigt das Vorliegen eines nach hinten schiefen Rückgesichts mit retrusivem Lippenprofil. Die Lachlinie verläuft schief nach unten rechts, ein Lippenschluss ist möglich, jedoch nur mit Anspannung der perioralen Muskulatur.

Intraoraler allgemeinzahnärztlicher Ausgangsbefund

Es liegt ein parodontal gesundes, vollständiges bleibendes Gebiss vor. Lediglich ein paar Füllungen sind vorzufinden.

Radiologischer Ausgangsbefund (Abb. 11)

Im Anfangs-Orthopantomogramm zeigen sich alle permanenten Zähne bis auf die Weisheitszähne. Es lässt sich ein leichter horizontaler Knochenabbau erkennen. Vereinzelte Füllungen an 11, 21, 26, 27 und 36 sind vorhanden.

Kieferorthopädischer Ausgangbefund (Abb. 12a–f)

Oberkiefer:

  • Transversale Zahnbogenenge
  • Retroinklination und Infraposition von 14 12 und 22 mit Engstand
  • Rotation von 14, 12, 11
  • Hypoplasie 12 und 22

Unterkiefer:

  • Retroinklination der Front mit Engstand
  • Rotation von 31, 41, 42, 43, 44
  • Mittellinienverschiebung nach links um 1 mm

Okklusion und Bisslage:

  • Neutralbisslage beidseits
  • Frontaler Kopfbiss von 21 mit 31/32
  • Offener Biss 14-12 und 22 von –2,5 mm
  • Overjet: 1,2 mm

Funktionskieferorthopädischer/myofunktioneller Ausgangbefund:

  • Kiefergelenk ohne Befund
  • Frontale Zungenlage
  • Offene Mundhaltung (OMH)
  • Lippenschluss mit Anspannung des Musculus mentalis

Behandlungsziele

  • Korrektur des offenen Bisses durch Intrusion der Seitenzähne und Extrusion der Frontzähne
  • Verbesserung der Myofunktion
  • Ausformung der Zahnbögen

Kieferorthopädischer Behandlungsplan und -durchführung

  • OK+UK: Set 1 Aligner
  • Begleitende myofunktionelle Therapie mit individuell hergestelltem Trainer
  • OK+UK: Set 2 Aligner mit myofunktioneller Bissnahme nach Osteopathie

Gesamtbehandlungszeit aktiv: 13,5 Monate

Die Patientin wurde mithilfe von Alignern der Firma Invisalign® behandelt. Begleitend zum ersten Aligner-Set erfolgte im Rahmen unseres interdisziplinären Behandlungskonzepts mykie® (= myofunktionelle Kieferorthopädie) ein myofunktionelles Training (Abb. 13). Dieses Training zielte darauf ab, die Ruheweichteilbeziehungen des äußeren und inneren Muskelfunktionskreises zu verbessern und damit das Risiko für ein Rezidiv nach Abschluss der Behandlung zu minimieren. Hierbei wurden verschiedene Übungen zur Förderung der Nasenatmung, eines kompetenten Lippenschlusses und einer physiologischen Zungenlage am Gaumen durchgeführt. Zudem wurde während der gesamten Behandlung ein individuell für die Patientin hergestelltes Trainingsgerät aus Silikon (Abb. 14) nach Anweisung getragen. Dieses wurde in unserem Technikerlabor über das ausgedruckte Ziel-Set-up der Patientin hergestellt und enthielt eine Zungenrampe, um die Zunge an ihre physiologische Position am Gaumen umzuleiten. Um den Lippenschluss sowie die Umstellung von Mund- zur Nasenatmung zu unterstützen, wurde nachts zusätzlich ein Lippenhilfsband (Leukopor) verwendet.

Etwa nach neun Monaten erfolgte ein Scan für ein zweites Aligner-Set. Für dieses Set wurde eine myofunktionelle Bissnahme bei maximal entspannter Muskulatur (nach erfolgter osteopathischer Behandlung) genommen.Nach weiteren fünf Monaten mit Set 2 erzielten wir ein zufriedenstellendes Ergebnis, das durch einen guten Bissschluss und harmonische Zahnbögen mit physiologischem Overjet und Overbite gekennzeichnet war. Ein physiologischer Frontzahnkontakt wurde fast erreicht. Um die erreichte Situation weiter zu stabilisieren, wurden im Ober- und Unterkiefer festsitzende Retainer im Bereich 3-3 geklebt. Zusätzlich zu den Drahtretainern wurden Retentions-Aligner eingesetzt. Es wurde empfohlen, den individuellen Trainer über den Behandlungsabschluss hinaus weiter zu tragen, und ein logopädisches Rezept ausgestellt, um weiter an der Automatisierung der natürlichen Zungenruhelage und dem physiologischen Schluckvorgang zu arbeiten (Abb. 15a–c und 16a–f).

Diskussion

Der offene Biss stellt oft eine kieferorthopädische Herausforderung dar, und eine interdisziplinäre Abwägung der Behandlungsoptionen ist unumgänglich. Unter Berücksichtigung des Patientenalters, dem Ausprägungsgrad der Anomalie sowie der Ursache der Dysgnathie muss für jedes Individuum individuell ein optimaler Behandlungsplan ausgearbeitet werden.

Die dargestellten Beispiele verdeutlichen, dass nach abgeschlossenem Wachstum in vielen Fällen eine kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie erforderlich ist, es aber bei moderaten Fällen auch sinnvoll sein kann, eine konservative Behandlungsmethode anzuwenden und damit eine chirurgische Intervention zu vermeiden.

Neben Extraktionen im Seitenzahnbereich als nicht kieferchirurgischem Ansatz16 gibt es die Möglichkeit des aktiven Bissschlusses durch Intrusion der in Kontakt stehenden und/oder Elongation der nicht in Kontakt stehenden Zähne. Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, die Auswirkungen auf die Lachlinie des Patienten sorgfältig zu berücksichtigen, um ästhetische Probleme wie ein „Gummy Smile“ zu vermeiden.

Als Alternative zum aktiven Bissschluss gibt es auch passive bissschließende Maßnahmen, bei denen durch Belastung und Entlastung von Zähnen – beispielsweise mittels Aktivator nach Klammt oder Bionator nach Balters - der dental offene Biss geschlossen werden kann.17, 18

In unserem zweiten beschriebenen Fall wurde die Zahnbewegung mit Alignern durchgeführt. Durch präzise Planung der Aligner-Behandlung sowie gute Compliance vonseiten der Patientin konnte insgesamt ein gutes Ergebnis erzielt und der offene Biss geschlossen werden. Ein positiver Effekt der Schienentherapie beim Vorliegen eines frontal offenen Bisses liegt in der intrusiven Wirkung auf die Molaren, welche den frontalen Bissschluss unterstützt. Insbesondere dann, wenn die Schienen auch während des Essens getragen werden.

Weitere mögliche Alternativen für einen aktiven Bissschluss bestehen in der Anwendung eines High-Pull-Headgears vor allem bei Kindern oder der Verwendung von Mini-Implantaten zur Molarenintrusion bei älteren Patienten.7, 8, 12

Unabhängig von der gewählten Methode ist es von grundlegender Bedeutung, schädliche orale Habits zu eliminieren. Das Abgewöhnen von orofazialen Dyskinesien, das Erlernen einer korrekten Zungenruhelage am Gaumen mit Lippenschluss und eine Automatisierung der neuen Ruheweichteilbeziehung spielen die entscheidende Rolle für den Erfolg der Therapie und v.a. für die Stabilität des Ergebnisses. Die Persistenz von myofunktionellen Dysfunktionen oder deren Wiederaufnahme birgt ein hohes Risiko für die Entstehung eines Rezidivs.

Schlussfolgerung

Sowohl die konservative Behandlung als auch die Kombination aus Kieferorthopädie und Chirurgie stellen mögliche Ansätze für die Behandlung eines offenen Bisses dar. Die Wahl der Behandlungsmethode sollte sorgfältig getroffen werden. Es ist stets eine individuelle Abwägung erforderlich, ob der operative Eingriff mit seinen potenziellen Risiken notwendig ist oder ob ein zufriedenstellendes Ergebnis möglicherweise durch konservative Maßnahmen erzielt werden kann.

Die Gemeinsamkeit bei der Behandlung aller offener Bisse besteht in der Mitbehandlung der primären oder sekundären orofazialen Fehlfunktionen. Besonders im Erwachsenenalter gestaltet sich die Therapie aufgrund der längeren Zeitspanne bis zur Automatisierung neuer Funktionsmuster als sehr anspruchsvoll. Der Erfolg der Behandlung und die langfristige Stabilität des Endresultats hängen letztendlich von einer präzisen Diagnostik, einer sorgfältigen Planung und einem koordinierten interdisziplinären Behandlungsansatz mit Retention sowohl der neu erworbenen Zahnstellung als auch der neuen Ruheweichteilbeziehungen (Automatisierung) ab.

Unterstützen können hier auch die neu entwickelten Online-Trainings (www.mykie-trainings.de) für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Nach dem Erlernen des Lippenschlusses tags und nachts wird der Trainer als „Automatisierungs-Apparatur“ für die regelrechte Zungenruhelage v.a. für nachts eingewöhnt.

Weitere Informationen über den Behandlungsansatz myofunktionelle Kieferorthopädie = mykie® finden Sie auch unter www.mykie.de

Weitere Autorin: Dr. Lena Rass

Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.

Dieser Beitrag ist in den KN Kieferorthopädie Nachrichten erschienen.

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