Kieferorthopädie 01.02.2012
Tragezeitdokumentation von KFO-Apparaturen
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Dr. Timm Cornelius Schott und Dr. Björn Ludwig ermittelten und dokumentierten bei rund 300 Patienten die Tragezeit herausnehmbarer kieferorthopädischer Behandlungsgeräte mithilfe des integrierten temperatursensitiven Mikrosensors TheraMon®. In folgendem Beitrag zeigen sie mögliche Auswirkungen der gemessenen Compliance auf die Therapie auf und regen zur Diskussion an.
Die Compliance der Patienten und Möglichkeiten zu deren Optimierung ist bekanntlich ein seit Jahrzehnten zentrales Thema in der Kieferorthopädie. Dies zeigt sich sehr deutlich daran, dass bei einer „Google“-Suche im Dezember 2011 unter dem Suchbegriff „Compliance in der Kieferorthopädie“ 171.000 Ergebnisse summiert sind, sodass hier auf Literaturzitate verzichtet wurde. In unmittelbarster und „aktivster“ Weise trägt die Patienten-Compliance zum Behandlungserfolg bei der Therapie mit herausnehmbaren Apparaturen bei.2–5,9 Für die Therapie stehen dem Kieferorthopäden bis heute nur empirische, aber keine wissenschaftlich begründeten und experimentell belegten Tragezeitverordnungen zur Verfügung. Bei stagnierenden Behandlungsverläufen und unbefriedigenden Behandlungsergebnissen kann der Behandler nicht eindeutig beurteilen, welcher Anteil daran der Compliance, den biologischen Faktoren, Fehlern an der Zahnspange oder am Behandlungsplan zuzuordnen ist.
In Anbetracht dessen, dass nach Einschätzung verschiedener Autoren 30–80% der Patienten ihre Behandlungsvorschriften nicht einhalten, wäre es sicherlich für Patienten und Behandler hilfreich, wenn Tragezeiten objektiv dokumentiert werden könnten. Mithilfe einer objektiven Tragezeitdokumentation könnte der Behandler zusammen mit dem Patienten an den jeweiligen Kontrollterminen den zurückliegenden Therapieverlauf bezüglich der Compliance bewerten. Für den weiteren Therapieverlauf kann der Arzt, falls erforderlich, den Patienten Konsequenzen bei einer ungenügenden Compliance aufzeigen, geeignete Maßnahmen erörtern und ihn entsprechend motivieren. Bei einer guten Compliance sollte er auch nicht versäumen, den Patienten zu loben.
Erste Messsysteme, mit denen Anfang der 90er-Jahre vor allem in den Pionierarbeiten von Sahm erstmals dokumentiert wurde, wann der Patient seine Apparaturen getragen hat, konnten damals nur bei wenigen orientierenden Forschungsprojekten verwendet werden.6 Ein breiterer Einsatz in der kieferorthopädischen Routine scheiterte damals vor allem daran, dass die geforderte Miniaturisierung nicht erreichbar, die Messtechnik zu aufwendig und die Mikroelektronik noch zu wenig entwickelt war, abgesehen von den zu hohen Herstellungskosten. Seit Kurzem werden im Handel zwei mikroelektronische Temperaturmesssysteme angeboten, mit denen Tragezeiten von herausnehmbaren KFO-Apparaturen gemessen und dokumentiert werden können. Das eine, in den USA erhältliche Messsystem wird seit 2008 unter dem Handelsnamen Smart Retainer® angeboten. Das andere, in Österreich entwickelte TheraMon®-System wird seit 2011 von der Firma FORESTADENT, Pforzheim, vertrieben. Wir haben das Potenzial beider Mikrosensoren vor einer Anwendung beim Patienten in einem von uns entwickelten In-vitro-Modellsystem für Tragezeitmessung unter identischen Bedingungen evaluiert.8 Hierbei ergab sich, dass bereits der Prototyp des TheraMon®-Sensors im In-vitro-Test wesentliche Vorteile im Vergleich zum Handelsprodukt Smart Retainer® aufwies, sodass alle weiteren Untersuchungen von uns nur noch mit dem TheraMon®-System durchgeführt wurden.
Das TheraMon®-System
Detaillierte technische Angaben zum TheraMon®-System wurden teilweise publiziert oder sind dem Benutzerhandbuch zu entnehmen.1,10
Der Einbau des Sensors in KFO-Apparaturen
Der Sensor ist so klein dimensioniert (13 x 9 x 4,5mm), dass er in fast jeden Typ der verschiedenen herausnehmbaren KFO-Apparaturen an unterschiedlichen Positionen integrierbar ist, wie man an den Beispielen der Abbildung 1 sieht. Der TheraMon®-Sensor wird in einer Kunststoffverkapselung einbaufertig geliefert. Die Kunststoffummantelung schützt den Sensor vor Korrosion, beugt Beschädigung beim Einbau vor und verhindert den Kontakt mit der Mundschleimhaut. Dieser Feuchtigkeitsschutz wird zusätzlich verstärkt, wenn der Sensor vollständig in die Gerätebasis einpolymerisiert wird. Die Mundschleimhaut des Trägers kommt somit nur mit dem Basispolymer der KFO-Apparatur in direkten Kontakt. Diese doppelte Abschirmung kann für sensible Patienten bedeutsam sein, da durch den Einbau des Sensors keine zusätzliche Kunststoffbelastung entsteht. Bei der Neuanfertigung einer KFO-Apparatur kann der Sensor problemlos mit der Streutechnik in die Gerätebasis integriert werden. Für einen nachträglichen Einbau in eine bereits gefertigte Apparatur empfiehlt sich die Anteigtechnik.7 Von inzwischen einigen hundert Patienten, die KFO-Apparaturen mit integriertem TheraMon®-Sensor seit Monaten tragen, wurden uns bisher keine Negativmeldungen bezüglich Tragekomfort, Haltbarkeit oder Beeinträchtigung der therapeutischen Faktoren mitgeteilt.
Die Tragezeitdokumentation
Der temperatursensitive Mikrosensor wird durch einen integrierten aufladbaren Mini-Akku mit Energie versorgt, verharrt in einem energiesparenden „Schlafmodus“ und kann daher ohne erneute Aufladung bis zu 24 Monate verwendet werden. Alle 15Min. (96 Messzyklen pro 24 Std.) wird der Sensor kurz aktiv, registriert und speichert seine Umgebungstemperatur. Eine mitgelieferte Software transformiert die gemessenen Temperaturen der Mundhöhle in Tragezeiten. Eventuelle versuchte Temperaturmanipulationen durch experimentierfreudige Patienten wie bspw. mithilfe von Heizkörpern, Lampen, Föhn, Whirlpool oder Tragen in der Kleidung werden von der Software des TheraMon®-Systems als „ungewöhnliche“ Mundhöhlentemperatur erkannt und in einer Detailanalyse der Tragezeitgrafik farbig markiert. Mit diesen einfachen Manipulationsversuchen können die natürlichen geringen Schwankungen der Mundhöhlentemperatur nicht simuliert werden, die die Software des temperatursensitiven Sensors bei der Berechnung der Tragezeiten berücksichtigt. Eine Überlistung des Messsystems gelang beim Einlegen des Sensors in ein programmiertes offenes Wasserbad. Sicherlich ist das Tragen der Zahnspange für den Patienten einfacher und effektiver als die Programmierung des Wasserbades. Außerdem müsste ein Patient in der Regel einige Wochen bis zum nächsten Kontrolltermin warten, um zu sehen, ob seine Manipulation überhaupt gelungen ist.
Der einpolymerisierte Sensor kann selbst keine Daten übertragen, sodass die Patienten beim Tragen eines Geräts mit integriertem TheraMon®-Sensor praktisch keiner elektromagnetischen Strahlung ausgesetzt sind. Die Messdaten können nur an der herausgenommenen Zahnspange mithilfe einer vom Hersteller des Sensors erhältlichen Auslesestation via USB-Anschluss an einen Computer übertragen werden. Dieser Aspekt ist manchmal bei der Entscheidung für den Einbau eines TheraMon®-Sensors ausschlaggebend. Der Sorge bezüglich eines unbegründeten Elektrosmogs lässt sich entgegenhalten, dass bei der millionenfach, jahrelangen Verwendung batteriebetriebener medizintechnischer Geräte, bspw. Hörgeräte, Herzschrittmacher u.Ä. keine elektromagnetisch verursachten Nebenwirkungen oder gar Schädigungen bekannt geworden sind. Nicht zu vergessen sind Mobiltelefone, die bedenkenlos manchmal stundenlang am Ohr benutzt werden.
Die mit dem TheraMon®-System gespeicherten Tragezeiten können entweder auf einem Monitor sichtbar oder als Tragezeitgrafik ausgedruckt werden. Ein Ausschnitt aus einer solchen Tragezeitdokumentation zeigen die Abbildungen 2 bis 6. Die in Abbildung 2 dokumentierten Tragezeiten belegen, dass die vorgegebene Tragezeitverordnung in lobenswerter Weise konstant befolgt wurde. Die gestrichelte waagerechte rote Linie zeigt die durchschnittliche tägliche Tragezeit (14,95 Std.), der breite blaue Balken die verordnete Tragezeit (15 Std.). Die lila Kurve mit ihrer wechselnden Peakhöhe resultiert aus der Verbindung der pro Tag ermittelten Tragezeiten, wobei die senkrechten, alternierenden hellen und dunklen Säulen des Hintergrunds jeweils 24 Std. anzeigen. Mithilfe einer zusätzlich aufrufbaren Detailanalyse der Tragezeitgrafik (Abb. 2b), in der nicht die vom Computer errechnete Tragezeit, sondern die vom Sensor direkt gemessenen Temperaturen der Mundhöhle als Rohdaten gegen die Stunden aufgeführt sind, lässt sich über alternierende helle und dunkle Säulen (jede Säule entspricht einer Stunde) genau ermitteln, zu welchen Uhrzeiten die Zahnspange im Verlauf von 24 Std. getragen wurde. In der Detailanalyse der Abbildung 2b kann man bspw. für den 1.5. bis 2.5.2011 eine kontinuierliche, nur auf die Nachtstunden beschränkte Tragezeit (19 Uhr bis 10 Uhr bzw. 19 Uhr bis 7 Uhr) ablesen. Am 3.5.2011 und 4.5.2011 hat der Patient seine Apparatur zusätzlich zu den Nachtstunden auch tagsüber von 14.45 bis 18 Uhr bzw. 14.45 bis 18.45 Uhr getragen. Die Tragezeiten von einigen Hundert KFO-Apparaturen, die monatelang getragen wurden und zur Zeit ausgewertet werden, belegen, dass die verordneten Tragezeiten nur selten so gut und regelmäßig wie in Abbildung 2 befolgt werden, wie charakteristischen Beispielen der Abbildung 3 bis 6 zu entnehmen ist. Die durchschnittliche Tragezeit in Abbildung 3 resultiert aus erheblich schwankenden Werten, die in der Spitze 18 bis 22,5 Std. und im unteren Bereich bei 0 bis 4 Std. betragen. Hier stellt sich die noch zu klärende Frage, inwieweit eine gleichmäßige, im Vergleich zu einer stark schwankenden täglichen Tragezeit bei vergleichbaren durchschnittlich erbrachten Stunden den Therapieverlauf beeinflusst. Abbildung 4 zeigt, dass die im Therapieabschnitt anfänglich unbefriedigende Tragezeit (4 bis 7 Std.) später auf 10 bis 13 Std. gesteigert wurde. Abbildung 5 zeigt den umgekehrten Fall, eine mit der Zeit abnehmende Compliance. Hier könnte der Behandler durch Remotivation den Therapieverlauf sicherlich günstig beeinflussen. Abbildung 6 dokumentiert, dass die Tragezeitverordnung praktisch nicht befolgt und die Apparatur über weite Zeiträume nicht getragen wurde. In diesem Fall wäre eine Therapieänderung, Pause oder sogar ein Abbruch der Therapie indiziert, der gegenüber dem Patienten, seinen Eltern und auch der Krankenversicherung nachvollziehbar begründet werden könnte.
Fazit und Ausblick
Die hohen technischen Anforderungen an eine für die kieferorthopädische Praxis praktikable Tragezeitdokumentation kann das TheraMon®-System erstmals erfüllen. Mit diesem elektronischen Messsystem ist die Compliance des Patienten „messbar“ und nicht mehr, wie bisher, eine zwischen Behandler und Patienten manchmal strittige Vermutung. Mit der Tragezeitdokumentation lassen sich an den Kontrollterminen die Compliance des Patienten und die eventuelle Veränderung objektiv bewerten. Dieser Aspekt wird sicherlich nicht ohne Einfluss auf das Arzt-Patienten-Verhältnis bleiben. Die nächste Hürde auf dem Weg zur routinemäßigen Objektivierung der kieferorthopädischen Therapie mit herausnehmbaren Apparaturen ist die breite Akzeptanz sowohl vonseiten des Behandlers als auch der Patienten. Abgesehen davon sind, wie bei wesentlichen therapeutischen Neuerungen in der Vergangenheit üblich, immer auch ethische Bedenken und juristische Fragen zu erwarten und zu klären, sowie finanzielle Aspekte, wie bspw. die kassenärztliche Leistung, zu berücksichtigen. Unabhängig davon kann man aber auf der Basis der objektiven Tragezeitdokumentation die Jahrzehnte alten empirischen Therapiekonzepte für herausnehmbare Apparaturen hinterfragen und sicherlich zum Vorteil der Patienten optimieren. Für die Patienten wird es an den Kontrollterminen entscheidend sein, ob sie nach Meinung des Behandlers mit der von ihnen praktizierten und dokumentierten Tragezeit das Therapieziel erreichen können, wenn die Zeiten möglicherweise von der verordneten Tragezeit deutlich abweichen. Die Möglichkeit, die Tragezeit aufgrund der Tragezeitdokumentation individuell nach Maßgabe der persönlichen Gegebenheiten und der jeweiligen Reaktion des dento-alveolären Komplexes für einen Patienten zu verordnen, wird sicherlich die Compliance und damit die Effizienz der Therapie mit herausnehmbaren KFO-Geräten steigern. Unter dem Aspekt, dass eine Tragezeitdokumentation in erster Linie nicht der „Überwachung“, sondern der individuellen „elektronischen Betreuung“ eines Patienten dient, werden auch die noch zögerlichen, skeptischen und abwartenden Patienten und Behandler früher oder später diese neuen Therapieoption nutzen.