Kieferorthopädie 10.08.2023
Der offene Biss: Ätiologie und Fallbeispiele genetischer Faktoren
share
In der Ätiologie des offenen Bisses spielen neben Umweltfaktoren auch epigenetische und genetische Faktoren eine Rolle. Dyskinesien und eine gestörte Nasenatmung sind dabei die häufigsten Faktoren. Die Mehrheit der Kinder mit einem offenen Biss weist eine positive Lutschanamnese auf. Nicht nur die Funktion, sondern auch die Lage und Größe der Zunge sind von Bedeutung für die Ätiologie der Dysgnathien und müssen bei der funktionellen Therapie berücksichtigt werden. Selbst bei erblich bedingten Dysgnathien spielen das Wachstum, die Lage, Größe und Funktion der Zunge eine Rolle. Eine flache, nach vorne verlagerte Zunge fördert beispielsweise das Fortschreiten der Klasse III-Dysgnathie. Andererseits sind bestimmte Zungendyskinesien genetisch bedingt, und es ist schwierig, zwischen Erbanlage und Imitation zu differenzieren.
Die Bedeutung der Zungendyskinesie für die Ätiologie des offenen Bisses ist allgemein bekannt. Eine Zungendyskinesie wird bereits durch Flaschenernährung begünstigt. Konventionelle Flaschensauger zwingen die Zunge zu untypischen Bewegungen. Statt die Milch aus der Brust durch Herauspressen mit der Zunge zu saugen, ist das Baby oft gezwungen, den Milchfluss aus der Flasche zu bremsen. Eine Bewegung, die dem Zungenpressen entspricht (Abb. 1a und b).1
Reichenbach und Mainhold haben darauf hingewiesen, dass es während der ersten beiden Lebensjahre physiologisch ist, dass die Zunge beim Schlucken zwischen den Kiefern eingelagert wird (infantiler Schluckreflex). In dieser Phase füllt die Zunge den gesamten Mundraum des Säuglings aus. Erst mit dem Durchbruch der Zähne verlagert sich die Zunge nach hinten. Wenn jedoch der infantile Schluckreflex beibehalten wird, kann dies zu Zahnfehlstellungen führen.2
Nach Moyers kann eine falsche Schluckgewohnheit auch durch eine Verdrängung der Zunge bei einer Tonsillenhypertrophie zustande kommen (Abb. 2a und b). Die Beurteilung der Bedeutung des Zungenpressens für die Ätiologie von Anomalien variiert unter verschiedenen Autoren. Einige betrachten das Zungenpressen als Ergebnis unzureichender morphologischer Beziehungen (Subtelny und Sakuda, Ballard und Tully), während es für andere ein primärer ätiologischer Faktor ist (Andrew, Hopkin und McEven, Jann).1
Das Hauptmerkmal des offenen Bisses besteht in einer vertikalen Lücke zwischen den Zähnen oder Zahngruppen im vorderen oder seitlichen Zahnbereich. Daher wird auch von einem frontal oder seitlich offenen Biss gesprochen (Abb. 3a–d).
Der offene Biss kann in zirkulärer Form auftreten, bei der in der Schlussbissstellung nur die Molaren aufeinandertreffen und alle anderen Antagonisten eine vertikale Lücke aufweisen. Beim offenen Biss ist der Überbiss der Frontzähne negativ. In extremen Fällen kann der vertikale Abstand zwischen den Frontzähnen bis zu 20 mm betragen, wobei sowohl negative als auch positive Überbisse der Frontzähne auftreten können.3
Je nachdem, ob die Störung den Bereich der Zahnbögen betrifft oder eine Deformierung der Kieferkörper vorliegt, wird zwischen dem alveolären oder dentalen offenen Biss und dem gnathischen oder skelettalen offenen Biss unterschieden. Eine wichtige Hilfe bei der Diagnose liefert die Auswertung des Fernröntgenseitenbildes. Dentoalveoläre Symptome einer vertikalen Wachstumsrichtung sind eine Vorverlagerung der oberen Schneidezähne und eine nach innen geneigte Position der unteren Schneidezähne.
Alveolär offener Biss
Der alveolär offene Biss ist eine Zahnfehlstellung, die typischerweise im Milchgebiss und im frühen Wechselgebiss auftritt. Es handelt sich um eine harmlose vorübergehende Entwicklungsstörung, die auch als „lutschoffener Biss“ bezeichnet wird. Durch das Abgewöhnen des Saugens an Schnullern oder dem Daumen verschwindet der offene Biss oft von selbst. Wenn keine zusätzlichen Veränderungen im Zahnbogen und im Biss vorliegen, kann mit einer normalen Entwicklung des Gebisses gerechnet werden.
Wenn das Saugen jedoch beibehalten wird oder das Zungenpressen auftritt, kann sich der offene Biss auch auf das Wechselgebiss übertragen. In der Therapie müssen in erster Linie präventive Maßnahmen ergriffen werden. Der Fokus sollte auf dem Abgewöhnen des Saugens und der Korrektur falscher Zungenfunktionen liegen.4
Abbildung 5 zeigt einen typischen lutschoffenen Biss bei einem neun Jahre und sieben Monate alten Mädchen, begleitet von einem Sigmatismus interdentalis. Nach sechs Monaten präventiver Maßnahmen, bei denen das intensive Daumenlutschen teilweise abgewöhnt wurde, konnte eine Verbesserung der Zahnstellung erzielt werden.
Im Wechselgebiss schließt sich der offene Biss oft durch die Dehnung des Kiefers mittels einer aktiven Platte mit seitlichem Aufbiss oder durch eine Behandlung mit einem Aktivator. Wenn der offene Biss dennoch bestehen bleibt, sind erfahrungsgemäß Zungen- und Lippendysfunktionen dafür verantwortlich. Um sie zu korrigieren, verwende ich in meiner Praxis den Aktivator nach Andresen und Häupl oder eine Modifikation davon. Durch den Einsatz von Kunststoffblöcken, Federn oder sogenannten Zungengittern wird die Zunge von den Zähnen ferngehalten.5
Abbildungen 6a–h zeigen einen Fall mit einem alveolär offenen Biss, der durch eine Zungendyskinesie verursacht wurde und den wir mit einfachen Mitteln behandeln konnten. Bei der Patientin handelt es sich um ein fast zwölf Jahre altes Mädchen mit einem frontal offenen Biss, der durch falsches Zungenschlucken verursacht wurde und von einem Sprachfehler (Sigmatismus interdentalis) begleitet wird. Der Behandlungsplan bestand aus einer Kombination aus logopädischer Behandlung und der Anbringung eines festen Zungengitters im Gaumen, welches an den ersten Molaren befestigt wurde.
Bei Neutralbissfällen in Verbindung mit einem gnathisch offenen Biss ist der Funktionsregler Typ FR-IV besonders indiziert für die Frühbehandlung in der ersten Wechselgebissphase.6
Gnathisch offener Biss (sogenannter skelettal offener Biss)
Beim gnathisch offenen Biss fällt am Kiefermodell das deutliche Klaffen der Frontzähne auf, das durch skelettale Veränderungen verursacht wird, die am besten im Fernröntgenbild erkannt werden können. Die auffälligsten Merkmale sind der vergrößerte Basis-Ebenen-Winkel (B-Winkel) und ein vertikales Wachstumsmuster. Bei den meisten Patienten ist der Gonionwinkel wesentlich vergrößert, wobei der Durchschnittswert von A. M. Schwarz mit 123° +/– 10° angegeben wird.7, 8 Diese Veränderungen beeinflussen das Gesichtsprofil nachteilig, da es zu einer starken Retroposition, einem überhöhten Kieferdrittel und einem zurückliegenden Kinn kommt (Abb. 7a und b).
Seitlich offener Biss
Von einem seitlich offenen Biss spricht man, wenn die Seitenzähne die Kauebene nicht erreichen, während die Schneidezähne einen korrekten Überbiss aufweisen (Abb. 8a–c). Diese Zahnstellungsanomalie tritt im Wechselgebiss auf, wenn es zu einem frühzeitigen Milchzahnverlust kommt und über einen längeren Zeitraum eine Lücke besteht, die von der Zunge ausgefüllt wird (Abb. 9a–c).
Klinische Fallbeispiele
Fallbeispiel I
Die 17-jährige Patientin befand sich in anderen Praxen bereits seit einem Jahr in Behandlung mit Multiband-Apparaturen (traditionelle Brackets). Es war geplant, die Extraktion der Zähne 14, 24, 34 und 44 durchzuführen, jedoch lehnten die Eltern dies ab.
Diagnose:
Bei der Diagnosestellung in unserer Praxis wurden folgende Befunde festgestellt: Ein skelettal offener Biss, ein Kreuzbiss im Seitenzahngebiet links, eine deutliche Verschiebung der Mittellinie nach links sowie ein schmaler Oberkiefer und Unterkiefer mit Engstand im Frontbereich (Abb. 10a–c für intraorale Aufnahmen und Abb. 11a–c für extraorale Aufnahmen mit den traditionellen Brackets). Zusätzlich wurden Kephalometrie-Aufnahmen und ein Orthopantomogramm mit Multiband-Apparaturen im Oberkiefer und Unterkiefer erstellt (Abb. 12a und b).
Behandlungsverlauf:
Nach Rücksprache mit den Eltern haben wir folgende Maßnahmen für die Behandlung festgelegt:
- Entfernung der Multiband-Apparaturen.
- Einsatz von selbstlegierenden Brackets, um die Behandlung fortzusetzen.
- Die Patientin wurde dazu angehalten, während der Behandlung einen Gummiring zu tragen und an einer logopädischen Behandlung teilzunehmen, da bei ihr eine starke Zungenfehlfunktion vorliegt.
- Einführung von sogenannten Spikes auf den Zähnen 12 bis 22.
- Verwendung eines TPA-Transversalbogens.
In den Abbildungen 13a–f sind die intraoralen Aufnahmen nach Entfernung der traditionellen Brackets zu sehen. Die Beklebung mit der festsitzenden Apparatur wurde sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer vollständig durchgeführt. Für die Behandlung haben wir das Damon® Q-System der Firma Ormco verwendet, das eine möglichst leichte Kraftanwendung bei geringer Reibung ermöglicht.9
Die Auswahl des Torques erfolgte wie folgt: Hoher Torque für die Zähne 13, 12, 11, 21, 22, 23 und niedriger Torque für die Zähne 31, 32, 41, 42.
Zu Beginn der Nivellierung wurden in beiden Kiefern 014″-CuNiTi-Bögen eingelegt. Abbildungen 14a–e zeigen die intraoralen Aufnahmen nach der Bänderung. Im Verlauf der Behandlung wurde wie folgt ein Bogenwechsel sowohl im Oberkiefer als auch im Unterkiefer durchgeführt: .016″-CuNiTi, .018″-CuNiTi, .014″ x .025″-CuNiTi, .016″ x .025″-CuNiTi, .018″ x .025″-CuNiTi.
Abbildungen 15a–d zeigen den weiteren Behandlungsverlauf mit den Bogenwechseln. Im Oberkiefer wurde ein TPA eingesetzt, um die transversale Entwicklung zu fördern und den Kreuzbiss zu korrigieren. Um die sagittale Stufe zu reduzieren und die Verschiebung der Mittellinie zu korrigieren, trug die Patientin Gummizüge Klasse II sowie Diagonalen von 13 bis 33. Zusätzlich trug sie zur weiteren Okklusionskorrektur einen Box-Gummizug auf beiden Seiten (Abb. 16a–e).
Nach 26 Monaten wurde die Behandlung abgeschlossen. Leider konnte bei diesem Fall kein perfektes Ergebnis erzielt werden, da es trotz aller Maßnahmen sehr schwierig war, die Zungenfunktion zu verbessern (Abb. 16a–c für intraorale Aufnahmen und Abb. 17a–c für extraorale Aufnahmen). Nach Abschluss der Behandlung wurden eine Kephalometrie und ein Orthopantomogramm erstellt und ausgewertet (Abb. 18a–c).
Der Artikel wird in der Ausgabe 9/23 der KN Kieferorthopädie Nachrichten fortgesetzt.
Eine Literaturliste steht Ihnen hier zum Download zur Verfügung.
Dieser Artikel ist unter dem Originaltitel: „Der offene Biss: Ätiologie und Fallbeispiele“ in den KN Kieferorthopädie Nachrichten 07/2023 erschienen.